Fachkräfte am Limit?! Arbeitsbelastungen in der Kinder- und Jugendhilfe und gesundheitsförderliche Strategien.
Positionspapier der AGJ
Abstract
Die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland weist in fast allen Arbeitsbereichen eine hohe Wachstumsdynamik auf, die durch einen enormen Personalaufwuchs bei gleichzeitig anhaltenden Personalbedarfen und eine große Anzahl an vakanten Stellen gekennzeichnet ist. Der Ausbau von Angeboten und Arbeitsfeldern aufgrund einer stetig steigenden Nachfrage an Leistungen, neuer gesetzlich festgeschriebener Aufgaben und Ansprüche der Adressat*innen sowie gestiegene Qualitätsanforderungen sind Ausdruck einer permanent wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung der Kinder und Jugendhilfe. Gleichzeitig stellen diese Entwicklung und der sich sukzessiv verschärfende Fachkräftemangel das System vor enorme Herausforderungen. Es wird zunehmend schwieriger, steigende Bedarfe zu decken, aber auch etablierte Standards in der Leistungserbringung aufrechtzuerhalten.
Gleichzeitig ist zu beobachten, dass die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe in doppelter Hinsicht mit steigenden Belastungen konfrontiert sind: einerseits durch eine Selbst-betroffenheit durch aktuelle Krisen, andererseits durch komplexere Bedarfslagen der Adressat*innen bis hin zu zunehmenden gesellschaftlichen Konfliktlinien, die auch in die praktische Arbeit der Fachkräfte hineinreichen. Die als krisenhafte Entwicklung wahrgenommenen nationalen, internationalen und globalen Ereignisse, wie Kriege, Nachwirkungen der Corona-Pandemie und sich verfestigende Armutslagen, erhöhen die Belastungen der Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe und auch der Fachkräfte selbst.
Das Positionspapier macht zum einen sichtbar, wie sich die genannten Entwicklungen und multiplen Krisen auf die Arbeitsbedingungen in der Kinder- und Jugendhilfe auswirken und zu einer neuen doppelten Belastung der Fachkräfte geführt haben. Zum anderen sollen Lösungsansätze aufgezeigt werden, die dazu beitragen, die Belastungssituationen im beruflichen Alltag zu verringern. Die AGJ sieht in der Initiierung und Stärkung gesundheitsfördernder Strategien einen wichtigen Baustein zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der daraus resultierenden Belastungen der Fachkräfte. Gesundheitsförderung wird hierbei als komplexer, breit angelegter und mehrdimensionaler Ansatz verstanden, der auf unterschiedlichen Ebenen ansetzt. Ein besonderer Fokus wird dabei auf Strategien zur Stärkung der Resilienz auf individueller und organisationaler Ebene gelegt. Einerseits werden die Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit der Akteure auf diesen Ebenen adressiert. Andererseits werden auch Grenzen dieser Strategien kritisch benannt und auf die Notwendigkeit struktureller und systemischer Veränderungen hingewiesen.
Inhalt
- Ausgangslage und Ziel der Befassung
- Die Auswirkungen multipler Krisen auf die Arbeitsbedingungen und die Belastung der Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe
- Handlungsspielräume nutzen und Resilienzprozesse ermöglichen
- Gesundheitsförderliche Strategien und Maßnahmen auf politischer Ebene
1. Ausgangslage und Ziel der Befassung
In den vergangenen drei Jahren haben die Nachwirkungen der Pandemie, die Klimakrise, kriegerische Konflikte und daraus resultierende Fluchtbewegungen, aber auch sich verfestigende Armutslagen, zunehmende soziale Ungleichheit, Abstiegsängste und ein in Ballungsräumen aus den Fugen geratener Wohnungsmarkt den Eindruck einer generellen Krisenhaftigkeit erzeugt. Dies bleibt nicht ohne Folgen für die Kinder- und Jugendhilfe. Komplexere Problemlagen aufseiten der Adressat*innen und eine Zunahme an gesellschaftlichen Konfliktlinien bis hin zu einem Anwachsen extremistischer und demokratie- und menschenfeindlicher Haltungen stellen die Kinder- und Jugendhilfe, ihre Angebote und Leistungen sowie die dort tätigen Fachkräfte,[1] vor große quantitative und qualitative Herausforderungen.
Angesichts der multiplen Krisen weitet sich die Belastung für die Fachkräfte stärker als zuvor auch auf den privaten Bereich aus, was zu einer doppelten Belastung – im Privaten und im professionell-beruflichen Kontext – führt.[2] Bei dem Versuch, dem hohem individuellen fachlichen Anspruch an die eigene Arbeit und den steigenden externen Anforderungen und komplexeren Lebenslagen der Adressat*innen gerecht zu werden, gehen Fachkräfte, die privat selbst mit den gesellschaftlichen Krisen umzugehen haben, angesichts prekärer personeller Ressourcen immer öfter an ihre Grenzen oder auch über diese hinaus. Das Eingehen der Fachkräfte auf die Problemlagen und Haltungen der Adressat*innen steht immer häufiger neben oder im Konflikt zu der eigenen persönlichen Haltung und Betroffenheit und muss in einem besonderen Kraftakt der professionellen Abgrenzung geleistet werden. Bestehende Spannungen wurden und werden durch die angesprochenen Entwicklungen weiter verstärkt und resultieren schließlich an der Basis, also bei den Fachkräften selbst, in erheblichen, auch gesundheitsgefährdenden Belastungen.
Die konstruktive Begleitung von Menschen in Krisen ist seit jeher ein genuiner Bestandteil sozialpädagogischer Arbeit. Diese Arbeit – insbesondere im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe – ist damit eine zentrale Ressource für eine positive Gestaltung gesellschaftlicher Umbruchsituationen. Gerade daher ist es wichtig, die Stärken und Kompetenzen der Fachkräfte im Arbeitsfeld herauszuarbeiten und eine positive Berufsidentität zu profilieren.
Die Kinder- und Jugendhilfe ist ein seit mehreren Jahrzehnten expandierendes Berufsfeld, dessen Beschäftigtenzahlen in fast allen Handlungsfeldern eine hohe Wachstumsdynamik aufweisen. Inzwischen sind über 1,1 Mio. Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland tätig.[3] Ausgehend von dem Indexjahr 2006/07 weisen die Arbeitsfelder der Jugendsozialarbeit und der Heimerziehung das höchste relative Wachstum des pädagogischen und Verwaltungspersonals auf.[4] An dritter Stelle reiht sich in Hinblick auf das relative Wachstum das personell stärkste Arbeitsfeld der Kindertagesbetreuung ein.[5] Wenngleich die Arbeitsfelder in der bundesweiten Betrachtung enorme personelle Wachstumsquoten aufweisen, führen Platz- und Kapazitätsausbau, zusätzliche und zugleich komplexer werdende Hilfebedarfe und Lebenslagen der Adressat*innen sowie aus Altersgründen oder anderweitigen Abgängen resultierende Ersatzbedarfe insgesamt zu einem Personalersatz- und Mehrbedarf, der die weiterhin hohen personellen Zuwächse übertrifft.[6]
In vielen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe ist es dadurch zu einem Auseinanderfallen zwischen den positiv zu bewertenden Entwicklungen des rechtlichen Rahmens, inklusive gestiegener Qualitätsanforderungen und erweiterter Rechtsansprüche, auf der einen Seite und den tatsächlichen für die Umsetzung in der Praxis zur Verfügung gestellten finanziellen und vorhandenen personellen Ressourcen auf der anderen Seite gekommen; dies betrifft auch die zunehmend befristete und projektbezogene Förderung der Träger.
Diese grundsätzlich positiven Entwicklungen treffen also mit ihren personellen sowie neuen fachlichen Anforderungen und Qualifizierungsbedarfen auf ein durch Fachkräftemangel und multiple Krisen stark belastetes System.
2. Die Auswirkungen multipler Krisen auf die Arbeitsbedingungen und die Belastung der Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe
Um die Belastungsfaktoren in beruflichen Kontexten und ihre Auswirkungen besser verstehen zu können, unterscheiden einige Studien zwischen qualitativen Faktoren, die zu einer Überforderung auf der fachlich-inhaltlichen Ebene führen können, und quantitativen Belastungsfaktoren, die auf eine Überlastung aufgrund der Arbeitsmenge, der Arbeitsintensität durch Arbeitsverdichtung, Termin- und Zeitdruck hinauslaufen. In den meisten Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe haben sowohl die quantitativen wie auch die qualitativen Belastungen vor allem seit der Corona-Pandemie noch einmal deutlich zugenommen und negative Dynamiken entfaltet.[7]
Bereits vor der Pandemie waren in vielen Handlungsfeldern eine stetig steigende Arbeitsverdichtung und wachsender Handlungsdruck zu beobachten. Ökonomische Imperative (Effektivitätszwang)[8] und neue Steuerungsmodelle in der Arbeitsorganisation delegierten die Verantwortung für das Erreichen der geforderten Leistungen zunehmend an die Fachkräfte. Die Zunahme quantitativer Belastungsfaktoren wie Zeitdruck oder Zeitmangel führten laut Umfragen bei Beschäftigten der Sozialen Arbeit bereits vor 2019 dazu, dass diese den Eindruck hatten, fachliche Standards nicht mehr gewährleisten zu können, und hatten Auswirkungen auf ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden.[9] Beschäftigte der Sozialen Arbeit gaben auch an, ihre Arbeitszeit nur in verhältnismäßig geringerem Umfang selbst gestalten zu können.[10] Damit fehlte der für die Zufriedenheit und die psychische Gesundheit von Fachkräften so wichtige Spielraum und Ausgleich für die belastenden Arbeitsbedingungen.[11]
Neben diesen quantitativen Belastungsfaktoren nahmen aber in diesem Zeitraum auch die qualitativen Belastungen zu. Arbeitsprozesse wurden komplexer, neue Aufgaben kamen hinzu und die Problemlagen der Adressat*innen wurden vielfältiger. Durch die Komplexitätssteigerung im Aufgabenfeld und wachsende Anforderungen an Kooperation mit anderen Stellen stiegen die fachlichen Anforderungen weiter. Fähigkeiten, um in Überlappungsbereichen zu anderen Unterstützungs-, Hilfe- und Bildungssystemen mit hoher Kompetenz agieren zu können, mussten weiterentwickelt werden und ein souveränes Handeln und die zugrundeliegenden Expert*innenschaft in beruflich fremden Bereichen (z. B. Gesundheitsbereich, Eingliederungshilfe, Schule) wurde zunehmend als selbstverständlich vorausgesetzt. Unter Pandemie-Bedingungen verschärften sich die Arbeitsbedingungen durch die primär auf Eindämmung fokussierten Maßnahmen zusätzlich und die Dysbalance zwischen fachlich-inhaltlichen Anforderungen und den zur Verfügung stehenden Ressourcen nahm weiter zu.
Seither mehren sich die Anzeichen, dass die Belastungen durch die Corona-Pandemie und ihre Nachwirkungen und andere gesellschaftlichen Entwicklungen den Bedarf an Hilfe, Unterstützung und Begleitung durch die Kinder- und Jugendhilfe noch stärker haben ansteigen lassen. Zusätzlich soll die Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere im Rahmen der Kindertagesbetreuung und des Kinderschutzes, die vorhandenen Strukturen aus- und neue bzw. erst vor kurzem abgebaute Strukturen, z. B. im Bereich der Versorgung unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter, wieder aufbauen.
Mit der erwähnten Zunahme komplexer sozialer Problemlagen und Konfliktpotenziale, die nicht nur die Lebenswelt der Adressat*innen, sondern auch die der Fachkräfte unmittelbar berühren, sind jedoch andere Formen qualitativer Belastungen ebenfalls hinzugekommen: Aufseiten der Adressat*innen und auch im privaten Leben der Fachkräfte selbst werden die Folgen einer sozialen Polarisierung spürbarer und fordern diese zunehmend heraus. Häufiger erleben sie die eigene Betroffenheit und Positionierung im Widerspruch zu ihrem Anspruch mit Themen und Konflikten der Adressat*innen sachlich und professionell umzugehen: Was sind die richtigen Methoden, um auf eine unangemessene Kommunikation in Sozialen Medien zu reagieren? Welche Kompetenzen müssen gemeinsam mit den Adressat*innen erworben werden? Wie geht man mit extremistisch eingestellten Adressat*innen in der Jugendarbeit, aber auch in den anderen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe angemessen um? Wie positioniert man sich als Fachkraft in den Konflikten selbst? Die als teilweise krisenhaft erlebte Zuspitzung sozialer Spannungen und Probleme, erfordert von den Fachkräften, verstärkt mit Dilemmata umzugehen: Sie wissen, dass die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel nicht ausreichen werden, Adressat*innen hinreichend zu unterstützen, zugleich sehen sie aber keine Möglichkeiten, die Ursachen zu bearbeiten.
An dieser Erfahrung von Fachkräften wird erneut sichtbar, wie sehr bestehende und zunehmende Belastungsfaktoren die Handlungsfähigkeit der Fachkräfte weiter einengen. Hierzu gehört, dass der wachsende individuelle, aber auch strukturell bedingte Bedarf an Zeit für Kommunikation und mittelbarer pädagogischer Arbeit in der Bemessung von Fachkräfteschlüsseln o. Ä. nicht angemessen berücksichtigt wird. Auch der zeitliche Mehraufwand in Teamprozessen bei immer mehr Teilzeitbeschäftigten wird nicht berücksichtigt und führt für viele Fachkräfte zu einem in ihrer regulären Arbeitszeit nicht mehr bewältigbaren zeitlichen Mehraufwand.[12]
Fast 30 Prozent der Beschäftigten der Sozialen Arbeit gaben im November 2022 nach einer Befragung an, ständig unbezahlte Mehrarbeit zu leisten. 50 Prozent äußerten, dass sie die Arbeitsmenge nicht mehr in ihrer Arbeitszeit abarbeiten könnten. Fast genauso viele berichteten, mindestens fünf Tage im Jahr krank zur Arbeit zu kommen. Viele Fachkräfte fühlen sich durch die andauernde Belastung und Selbstbetroffenheit im privaten Bereich mittlerweile ausgebrannt. Nach den Ergebnissen der Befragung fühlten sich 65,8 Prozent gehetzt und unter Druck; 60,9 Prozent gaben an, sie würden regelmäßig an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gehen.[13]
Der Fachkräftemangel prägt in fast allen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe und in der Mehrheit der Bundesländer die Arbeitsorganisation von Teams und Einrichtungen. Fluktuation und Vakanzen engen den Spielraum der noch vorhandenen Fachkräfte, auf die neuen Bedarfe und Problemlagen der Adressat*innen zu reagieren, weiter ein. Dies gilt besonders dann, wenn extremistische Haltungen und digitale Medien für eine weitere Polarisierung von Konflikten auch im sozialen Umfeld der Adressat*innen und der Fachkräfte sorgen.
Das erforderliche Kompensieren der Vakanzen von aus der Arbeit ausgeschiedenen oder langfristig erkrankten Kolleg*innen nehmen auf die professionelle Handlungsfähigkeit der pädagogischen Fachkräfte und die Qualität der Angebote und Leistungen in unterschiedlichen Dimensionen erheblichen Einfluss. Neben der ohnehin hohen Arbeitsbelastung führen der Mangel an Fachkräften und die häufiger, länger unbesetzten Stellen in den pädagogischen Teams nicht selten zu einer Negativspirale der Instabilität, wachsender Unzufriedenheit und in der Folge wieder zu mehr Fluktuation, die enorm viele Ressourcen bindet. Viele Teams stecken über Jahre in einer endlosen Schleife der Einarbeitung immer wieder neu hinzukommender Kolleg*innen, ohne je in eine Phase der wirklichen Konsolidierung zu kommen. Team- und Organisationsentwicklungsprozesse werden dadurch schwierig oder gar unmöglich. Auch für die Adressat*innen schmälert die hohe Fluktuation die Zuverlässigkeit der Angebote und führt zu Unzufriedenheit.[14] Diese Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf das Leben von Adressat*innen und Fachkräften, haben den Eindruck einer generellen Krisenhaftigkeit bei allen Akteuren verstärkt. Wenn man bedenkt, dass sowohl quantitative wie auch qualitative Belastungsfaktoren bereits vor der Corona-Pandemie zugenommen hatten, wird klar, dass die neuen Belastungen vielerorts auf wenig resiliente Strukturen treffen und hier dringender Handlungsbedarf besteht.
Studien zeigen,[15] dass mit der Zunahme von Belastungen die Anzahl der durchschnittlichen jährlichen AU-Tage[16] von Beschäftigten in Sozial- und Erziehungsberufen noch weiter gestiegen ist. Am Beispiel der frühpädagogischen Fachkräfte – um eine Gruppe herauszugreifen, zu der es valide Daten gibt – zeigt sich insbesondere an der Häufigkeit von Erkrankungen wie Burnout und Depression sowie des Bewegungsapparates,[17] wie stark die Belastung auch im Vergleich zu anderen Berufsgruppen in anderen Branchen ist. Laut dem DAK-Psychoreport 2024, der Daten von 2,4 Millionen DAK-versicherten Beschäftigten berücksichtigt, ist die Gruppe der Erzieher*innen durch ihren Beruf besonders häufig psychischen Belastungen ausgesetzt. So stieg die im Vergleich mit anderen Berufsgruppen ohnehin sehr hohe Zahl von Fehltagen aufgrund psychischer Erkrankungen bei Mitarbeiter*innen von Kitas 2023 gegenüber dem Vorjahr noch einmal stark – von durchschnittlich 4,9 auf 5,3 Tage pro Jahr – an.[18]
Damit können die Daten zu Krankheitstagen und Langzeiterkrankungen unter den Fachkräften der Kinder und Jugendhilfe als deutlicher und alarmierender Indikator der Belastungssituation heranzogen werden. Hohe Krankenstände und personelle Ausfälle ebenso wie die gänzliche Abwanderung von Fachkräften aus den Arbeitsfeldern sind Folgen und Ausdruck einer insgesamt neuen Qualität der Belastung. Dies wird paradoxerweise zu einem Zeitpunkt besonders deutlich, an welchem die multiplen Krisen der letzten Jahre die Wichtigkeit und (gesamtgesellschaftliche) Systemrelevanz der Kinder- und Jugendhilfe eindrücklich offenbart haben.
3.Handlungsspielräume nutzen und Resilienzprozesse ermöglichen
Aus Sicht der AGJ ist ein wichtiger Baustein zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Verringerung der Belastungen bei den Fachkräften die Initiierung und Stärkung gesundheitsförderlicher Strategien. Eine umfassende Gesundheitsförderung, die Gesundheit nicht nur als Abwesenheit von Krankheit denkt, setzt an der Stärkung der Gesundheits-ressourcen und -potenziale auf allen gesellschaftlichen Ebenen an. Denn die individuelle Gesundheit wird sowohl von ökologischen Faktoren wie dem Klima als auch von sozialen Bedingungen, wie zugänglicher Gesundheitsversorgung, Wohnraum, gesetzlichem Arbeitsschutz und Ernährungsmöglichkeiten, als auch von Bedingungen im Arbeitsleben und letztlich auch im privaten Umfeld beeinflusst. Die Umsetzung gesunder Arbeitsbedingungen liegt dabei in wichtigen Aspekten in der Verantwortung der Träger, etwa im Bereich des Personalmanagements, der Organisationsentwicklung, beim betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz oder der Qualitätssicherung.
Der Fokus dieses Papiers liegt auf Ansätzen zur Förderung der Resilienz von Fachkräften in den unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe (Mikroebene) und auf der Förderung der organisationalen Resilienz (Mesoebene).[19] Unter dem Begriff Resilienz wurden ursprünglich die verschiedenen Fähigkeiten und Kompetenzen zusammengefasst, die in ihrer Kombination die Widerstandskraft eines Menschen im Umgang mit Krisen beeinflussen. Während in der früheren Resilienzforschung häufiger die ‚natürlichen‘ Veranlagungen und Persönlichkeitsmerkmale einer Person im Zentrum standen, wird Resilienz nach dem aktuellen Stand der Forschung als ein (Anpassungs-)Prozess verstanden, in welchem sich die Strapazierfähigkeit angesichts von Krisen und Belastungen unter dem Einfluss einer Vielzahl von Ressourcen oder auch Resilienzfaktoren im Laufe der Zeit herausbildet. Der Verweis auf Resilienz verleitet besonders bei der Betrachtung von Beschäftigten und ihren Arbeitsbedingungen dazu, den Umgang mit Krisen und besonderen Belastungen und auch den damit verbundenen gesundheitlichen Risiken zu individualisieren. Um einer Individualisierung struktureller Probleme entgegenzuwirken, kann und sollte das Konzept der Resilienz in jedem Fall auch auf Ebene des Teams, der Organisation und schließlich des ganzen Kinder- und Jugendhilfesystems gedacht werden. Die Fokussierung auf die Mikro- und Mesoebene in diesem Papier soll also nicht den Blick darauf versperren, dass eine Verbesserung der Rahmenbedingungen, wie etwa eine realistische Berechnung von Abwesenheiten und mittelbare pädagogische Arbeit bei der Festlegung des Fachkräfteschlüssels, umfassende Strategien zur Fachkräftegewinnung und Qualifizierung – auch von Leitungen oder die Finanzierung von externen Unterstützungssystemen (z. B. Fachberatungen und Supervision), eine Voraussetzung für die Schaffung guter Arbeitsbedingungen und eines effektiven Gesundheitsschutzes für Beschäftigte in der Kinder- und Jugendhilfe darstellen.
Die folgende Konzentration auf Maßnahmen zur Stärkung der Resilienz auf Mikro- und Mesoebene, hat trotz der genannten Begrenzung ihre Berechtigung. Denn auch wenn die Ursachen vieler Belastungen weit jenseits des Handlungsrahmens der einzelnen Fachkräfte, Teams oder Organisationen liegen, schärft sie den Blick für die Möglichkeiten einer Selbstermächtigung und für Handlungsspielräume, die bestehen und genutzt werden können, um zumindest kurzfristig für Entlastung zu sorgen. Dies erklärt auch, warum das Interesse vieler Fachkräfte an resilienzfördernden Strategien nicht nur mit Blick auf die pädagogische Arbeit mit den Adressat*innen seit der Corona-Pandemie zugenommen hat. Beschäftigte und Teams nehmen zunehmend Angebote wahr, die individuelle Resilienz oder Teamresilienz in den Fokus rücken und einen direkten Nutzen für die eigene Selbstwirksamkeit und Gesundheit versprechen.[20] Mit der Beleuchtung resilienz- und damit gesundheitsförderlicher Strategien sollen – neben dem ersten Ansinnen dieses Papiers, die zunehmende und doppelte Belastung der Fachkräfte sichtbar zu machen – Fachkräfte, Einrichtungen und Dienste sowie Träger auf ihre jeweiligen Handlungsmöglichkeiten und -verantwortlichkeiten aufmerksam gemacht werden.
3.1. Resilienz von Fachkräften stärken (Mikroebene)
Die individuelle Fähigkeit zur Resilienz entwickelt sich dynamisch in einem lebenslangen Interaktionsprozess zwischen Individuum und Umwelt. In diesem Prozess spielen Schutzfaktoren eine entscheidende Rolle. Unterschieden wird zwischen personalen und sozialen Schutzfaktoren. Als Schutzfaktoren werden Faktoren bezeichnet, die die Auftretenswahrscheinlichkeit von Störungen beim Vorliegen von Belastungen vermindern. Schutzfaktoren entfalten eine eigene Wirkkraft und werden daher nicht nur als Abwesenheit etwa von Gesundheits- oder Entwicklungsrisiken gewertet.
In der jüngeren Literatur und Forschung werden abhängig vom jeweils beschriebenen Resilienzmodell unterschiedliche personale Schutzfaktoren benannt. Das Resilienzmodell von Bengel und Lyssenko ist Ergebnis einer Metastudie zur Resilienz im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, in der mehrere tausend Studien ausgewertet wurden. Nach diesem Modell gelten individuelle Lebenskompetenzen, Persönlichkeits-merkmale und spezifische Bewältigungsstrategien, aber auch körperliche Schutzfaktoren wie z. B. ein stabiles Immunsystem oder körperliche Gesundheit als personale Schutzfaktoren. Es benennt soziale Unterstützung, Kontrollüberzeugungen[21], Widerstandsfähigkeit (Hardiness), Optimismus, Selbstwirksamkeitserwartung, positive Emotionen, Hoffnung, Selbstwertgefühl, Kohärenzgefühl, Bewältigungsstrategien (Coping) und Religiosität/ Spiritualität als wesentliche Schutzfaktoren für psychische Gesundheit.[22]
Für die psychische Gesundheit pädagogischer Fachkräfte ist es von wachsender Bedeutung, auf der individuellen, der sog. Mikroebene, eigene Fähigkeiten zur Problemlösung, Bewältigung von Konflikten und Krisen und zur Reduzierung von möglichen Belastungen zu mobilisieren, zu entwickeln und erfolgreich auf die individuelle Situation anzuwenden.
Von sozialen Schutzfaktoren wird gesprochen, wenn es etwa um die Erfüllung oder Sicherung von Grundbedürfnissen wie Ernährung, Wohnraum oder Erwerbsarbeit geht. Als wichtige soziale Schutzfaktoren gelten unterstützende und sichere Bindungen und ein Netz von sozialen Beziehungen in den unterschiedlichen Lebensbereichen. Anknüpfend an das Regenbogenmodell von Dahlgren und Whitehead können hier in Abstufungen alle Faktoren mitgedacht werden, die auf der Ebene der individuellen Lebenswelt, der sozialen, kommunalen Netzwerke bis hin zu den sozioökonomischen, kulturellen und physikalischen – z. B. ökologischen Bedingungen die Gesundheit eines Menschen beeinflussen.[23] Damit wird noch einmal deutlich, dass neben dem persönlichen Arbeits- und Lebensumfeld einer Person auch viele andere soziale Bereiche und Ebenen im Sinne der Förderung der Resilienz und Gesundheit von Fachkräften mitgedacht werden müssen.
Insbesondere folgende persönliche Fähigkeiten/personale Schutzfaktoren können Resilienz fördern:
- Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse, Grenzen, Belastungen und Emotionen;
- Klarheit über eigene Werte und Haltungen;
- Selbstsicherheit und Mut, diese Bedürfnisse, Werte etc. auch zu kommunizieren und sich in den jeweiligen Situationen dafür einzusetzen;
- Akzeptanz der Bedürfnisse, Haltungen, Belastungen und Herangehensweisen Anderer
- Stärkung des Mitgefühls und Selbstmitgefühls[24].
Sie sollten daher gezielt über Ausbildung/Studium, den Austausch mit anderen Fachkräften oder im persönlichen Umfeld, im Zuge der Einarbeitungszeit sowie Fort- und Weiterbildung gestärkt werden.
3.2. Schaffung eines resilienzförderlichen Arbeitsumfelds (Mesoebene)
In vielen Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe spielt mit Blick auf die Arbeitszufriedenheit und Gesundheit von Mitarbeiter*innen die Ebene des Teams eine besonders wichtige Rolle. Eine Strategie, die Herausbildung organisationaler Resilienz zu fördern, ist die Stärkung von Teamstrukturen. Überall dort, wo Fachkräfte vereinzelt arbeiten (z. B Schulsozialarbeit, kleine Jugendeinrichtungen) wären einrichtungsübergreifende Teams zu fördern. Denn Teams, vor allem wenn sie mit solidarischen und unterstützenden Beziehungen unter Kolleg*innen einhergehen, sind eher in der Lage, flexibel mit Herausforderungen und Belastungen umzugehen.
Bei der organisationalen Resilienz liegt der Fokus auf den Arbeitsbedingungen. Diese sollten so gestaltet werden, dass sowohl einzelne Mitarbeiter*innen als auch ganze Teams bei Krisen und besonderen Belastungen auf resilienzfördernde Ressourcen oder Schutzfaktoren zurückgreifen oder diese gemeinsam mobilisieren können. Aber nicht nur das Vorhandensein, sondern insbesondere das Zusammenspiel der verschiedenen arbeitsbedingten Anforderungen und der dafür verfügbaren Ressourcen ist hier zu betrachten. Zu diesen Ressourcen zählen z. B. die Qualifikationen der Fachkräfte, soziale Beziehungen im Team, Unterstützungsformen, wie Supervision, betriebliches Gesundheitsmanagement und Netzwerke für fachlichen Austausch. Die Unterstützung der fachlichen Weiterentwicklung von Mitarbeitenden und die Schaffung von Reflexionsräumen trägt zur Mitarbeiter*innenzufriedenheit und Resilienz von Teams und Organisationen bei. Elemente wie Coaching, kollegiale Beratung oder Fort- und Weiterbildungsangebote wirken unterstützend.[25] Gelingt ein Resilienzprozess, wirkt dieser nicht nur einer drohenden akuten Überlastung entgegen, sondern fördert auch die Resilienz gegenüber zukünftigen Krisen. Betriebliche Resilienzprozesse fördern schließlich auch die individuelle Resilienz der Mitarbeiter*innen und lassen diese gestärkt aus dem Prozess hervorgehen.[26]
Resiliente Organisationen verfügen unter anderem über Prozesse, die sie befähigen, zukünftige Entwicklungen zu antizipieren, gefährdenden Veränderungen außerhalb und innerhalb der Organisation frühzeitig zu erkennen, auf vorhergesehene Ereignisse zu reagieren und aus vergangenen Ereignissen zu lernen.[27] Für die Kinder- und Jugendhilfe erscheint es grundlegend wichtig, anzuerkennen, dass sich Führungsverhalten und Führungsstrukturen stetig den sich wandelnden Bedingungen anpassen müssen. Um dieser wichtigen Rolle gerecht zu werden, braucht es Leitungskräfte, die mit langfristigen Unterstützungssystemen wie Fortbildung und Coaching gestärkt werden, um die komplexen Aufgaben erfüllen zu können und Resilienz im Team zu fördern. Im Gegensatz dazu wirken sich unklare Entscheidungsbefugnisse und andauernde Rollenkonflikte negativ aus.
Folgende Aspekte wirken sich positiv auf die Resilienz von Teams und Organisationen und auf die Zufriedenheit von Mitarbeiter*innen aus:
- Nachhaltige Strategie zur Fachkräftesicherung und -bindung entwickeln
- Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung etablieren
- Begleitung von Teamprozessen durch Supervision
- Möglichkeiten des fachlichen Austauschs und der Beratung schaffen
- Qualifizierungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Mitarbeiter*innen etablieren und ausbauen
- Förderung sozialer Beziehungen und Netzwerke
- Gutes Onboarding und Sicherstellung einer qualifizierten Berufseinmündungs-phase
- Personalführung durch Qualifizierung und professionelle Begleitung stärken
- Gestaltungsspielräume für selbstständiges Arbeiten und Beteiligungsformate erhalten und neu schaffen
- Orientierungsrahmen geben und für Rollen- und Aufgabenklarheit sorgen
- positive Fehlerkultur (weiter)entwickeln und in den Alltag integrieren
- Leitungskonzepte weiterentwickeln
- Hinreichende Ressourcenplanung für Personalführung und Organisationsentwicklung insbesondere bei Leitungskräften
4. Gesundheitsförderliche Strategien und Maßnahmen auf politischer Ebene[28]
Die Belastungen für Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe müssen im politischen Raum wahrgenommen und anerkannt werden. Politik sollte sich den Abbau von Arbeits- und Gesundheitsbelastungen sowie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Institutionen und Einrichtungen für alle Arbeitnehmer*innen und insbesondere auch für die Beschäftigten der Kinder- und Jugendhilfe als dringendes Ziel und Querschnittsthema aller politischen Ressorts vornehmen. Politik und Gesellschaft müssen ihre Fürsorgepflicht gegenüber jenen, die für junge Menschen und ihre Familien unter hohem persönlichem Einsatz einen Dienst am gesamten Gemeinwesen leisten, wahrnehmen.
Viele, jedoch längst nicht alle der zu Beginn des Papiers erwähnten Krisen und Belastungsfaktoren entziehen sich der direkten Beeinflussung durch Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik. So wird der Fach- und Arbeitskräftemangel absehbar in den nächsten Jahren die Arbeitsrealität in der Kinder- und Jugendhilfe prägen und es werden voraussehbar schmerzliche Kompromisse in Bezug auf fachliche Standards, die Erfüllung von Rechtsansprüchen sowie die Aufrechterhaltung von Infrastruktur einzugehen sein. Die Auswirkungen solcher Kompromisse auf das Wohlergehen und die psychische Gesundheit, der in der Kinder- und Jugendhilfe Beschäftigten und auch der Adressat*innen, sind dabei als zentraler Faktor stets im Blick zu halten. Ansonsten besteht das Risiko, in eine sich selbstverstärkende Abwärtsspirale zu geraten und die Attraktivität des Arbeitsfeldes für Arbeitnehmer empfindlich zu verringern.
Träger müssen dazu in die Lage versetzt und veranlasst werden, ihren Pflichten für die Gesundheitsförderung der Mitarbeitenden gerecht zu werden. Auch Leitungen müssen im Bereich Arbeits- und Gesundheitsschutz und zu Möglichkeiten betrieblicher Gesundheits-förderung im Rahmen von Leitungsqualifizierungen geschult werden. Um bei den Trägern zeitliche Ressourcen für die Umsetzung gesundheitsförderlicher Maßnahmen zu schaffen, müssen bei der Berechnung von Fachkräfteschlüsseln u. Ä. die aktuell hohen Krankenstände, wachsende Bedarfe an mittelbarer pädagogischer Arbeit und steigende Teilzeitquoten einberechnet werden.
Mittel für Organisationsentwicklung, Personalmanagement und -entwicklung, Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie Maßnahmen zur betrieblichen und persönlichen Gesundheits-förderung können beispielsweise über das bereits seit dem Jahr 2016 geltende Präventionsgesetz auf kommunaler Ebene lebensweltorientiert bereitgestellt werden. Dies bedarf jedoch einer engen Zusammenarbeit zwischen Krankenkassen und Kommunen unter Beteiligung der Adressat*innen. Unterschiedliche Interessen, Ziele und Arbeitsweisen müssen offengelegt, erörtert und aufeinander abgestimmt, Schnittstellen und passende Formen der Zusammenarbeit gefunden sowie Beratungs- und Informations- und Vernetzungsangebote etabliert werden.
Darüber hinaus müssen auf kommunaler, Länder- und Bundesebene alle Möglichkeiten, dem Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe entgegenzusteuern, genutzt werden. Solange der Fachkräftemangel wie derzeit oder gar in verstärktem Maße das Stresslevel und die Arbeitsverdichtung von in der Kinder- und Jugendhilfe tätigen Menschen prägt, werden Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Resilienzentwicklung dies nicht ausgleichen können. Diesbezüglich ist eine intensivierte reflexive Auseinandersetzung zwischen politischer Ebene und Praxis erforderlich. Es braucht hier eine nachhaltige Gesamtstrategie, die mehrdimensional aufgestellt ist und Akteure auf unterschiedlichen Ebenen entsprechend ihres Verantwortungs- und Wirkungsbereiches im Sinne übergreifender und frühzeitiger Kooperation einbezieht.[29] Die von der AG „Gesamtstrategie Fachkräfte“ geleistete Zusammenarbeit zur Entwicklung einer solchen Gesamtstrategie für das Arbeitsfeld der Kindertagesbetreuung könnte als Blaupause für einen weitergehenden und den ganzen Bereich der Kinder- und Jugendhilfe betreffenden Prozess dienen.
Zudem braucht es Forschung, die die Wirksamkeit von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung auf mehreren Ebenen und in unterschiedlichen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe untersucht und Ansatzpunkte, Gelingensfaktoren, aber auch Gesundheitsrisiken genauer ermittelt. Darauf aufbauend müssen rechtliche Grundlagen geprüft und längerfristig stabile Strukturen der Gesundheitsförderung für Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe aufgebaut werden.
Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, den 07. November 2024
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[1] Mit „Fachkräften“ sind im gesamten Papier alle Personen gemeint, die in den Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe hauptamtlich pädagogisch tätig sind.
[2] Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) (2020): AGJ-Zwischenruf: Schutz für die besonders Schutzbedürftigen. Vgl. auch: Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) (2020): AGJ-Zwischenruf: Wenn Kümmerer*innen selbst Hilfe brauchen... Die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Kinder- und Jugendhilfe. Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): 17. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lage junger Menschen und die Bestrebungen und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und Stellungnahme der Bundesregierung, Deutscher Bundestag, 20. Wahlperiode, Drucksache 20/12900, 2024, S. 18, 99, 128, 133, (URL: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/17-kinder-und-jugendbericht-244628, zuletzt besucht am 12.11.2024).
[3] Vgl. Autor:innengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik (2024): Kinder- und Jugendhilfereport 2024: Eine kennzahlenbasierte Analyse mit einem Schwerpunkt zum Fachkräftemangel, Opladen: Verlag Barbara Budrich, Abb. 2 S. 37 (URL: https://shop.budrich.de/wp-content/uploads/2023/11/9783847419785.pdf; zuletzt besucht am 23.07.24).
[4] In der Jugendsozialarbeit ist von 2006/07 bis 2020/22 ein Anstieg von 224 Prozentpunkten auf 13.893 Personen (+ 7.703) zu verzeichnen und in der Heimerziehung von 206 Prozentpunkten auf 81.593 Personen (+ 41.976), vgl. ebd., Abb. 4, S. 39.
[5] Das pädagogische Personal ist in dem Zeitraum von 2006/07 bis 2020/22 in diesem Feld um 193 Prozentpunkte auf insgesamt 763.907 Personen (+367.656) angestiegen, vgl ebd., Abb. 4, S. 39.
[6] Bereits 2018 machte die AGJ darauf aufmerksam, dass die Personal(ersatz-)bedarfe in der Kinder- und Jugendhilfe bis 2025 in Summe auf 200.000 bis zu 600.000 Personen aufwachsen können: Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) (2018): „Dem wachsenden Fachkräftebedarf richtig begegnen! Entwicklung einer Gesamtstrategie zur Personalentwicklung mit verantwortungsvollem Weitblick.“ Auch laut dem aktuellen Kinder- und Jugendhilfereport wird der Gesamtpersonalbedarf in der Kinder- und Jugendhilfe 2030 voraussichtlich zwischen 831.000 und 854.000 VZÄ liegen. Dies entspricht gegenüber dem aktuellen Personalbestand einem Personalmehrbedarf zwischen 54.000 und 77.000 VZÄ. Vgl. Autor:innengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik (2024), S. 40.
[7] Vgl. Kahl, Y./ Bauknecht, J. (2023). Psychische und emotionale Erschöpfung von Fachkräften der Sozialen Arbeit. Entwicklung, Ausmaß und die Rolle von Belastungs- und Resilienzfaktoren. Soziale Passagen 15, S. 213–232, S223; Vgl. Alsago, E./ Meyer, N. (2023). Prekäre Professionalität. Soziale Arbeit und die Coronapandemie. Opladen: S. 66-69.
[8] Vgl. Kleve, H. (2014): Eine Spurensuche: Professionelle Identität in der Sozialen Arbeit.
[9] Vgl. Hoppe, M/ Roth, I./ Müller, N. /Schmidt A. (2020) Leistungssteuerung und Arbeitsintensität. Eine Sonderauswertung des DGB-Index Gute Arbeit 2019 für den Dienstleistungssektor, ver.di (Hrsg), Berlin. (URL: https://innovation-gute-arbeit.verdi.de/++file++6012e59353e8970dd439553a/download/Studie_Leistungssteuerung_Arbeitsintensitaet.pdf; zuletzt besucht am 19.07.2024)
[10] Vgl. Alsago, E./ Meyer, N. (2023). Prekäre Professionalität. S. 15. Vgl. auch Mörsberger, T: Sündenbock-Suche oder Fehleranalyse? Zu den Reaktionen auf spektakuläre Fälle von Kindesmisshandlung durch Jugendämter, Justiz und Medien, RdJB 53, 4/2005, 45.
[11] Vgl. ver.di-Bundesvorstand (Hrsg): Leitlinien für Gute Arbeitszeitgestaltung, 2021, Berlin. (URL: https://innovation-gute-arbeit.verdi.de/++file++61b88a9e037b71055713323e/download/Leitlinien%20Gute%20Arbeitszeitgestaltung.pdf; zuletzt besucht am 19.07.2024)
[12] Vgl. Lattner, K/ Strehmel, P./ Borkowski, S/ Ulbrich, M.-C. (2024). Neue Herausforderungen der Gesundheitsförderung in Kindertageseinrichtungen nach der Pandemie - Fachkräftegesundheit im Fokus. Prävention und Gesundheitsgefährdung. (URL: www.springermedizin.de/covid-19/neue-herausforderungen-der-gesundheitsfoerderung-in-kindertagese/26588582 zuletzt besucht am 19.07.2024)
[13] Vgl. Alsago, E. & Meyer, N. (2023). Prekäre Professionalität, S. 26
[14] Vgl. Klusemann, S./ Rosenkranz, L./ Schütz, J. (2020): Professionelles Handeln im System. Perspektiven pädagogischer Akteur*innen auf die Personalsituation in Kindertageseinrichtungen (HiSKita). Bertelsmann Stiftung (Hrsg.). Gütersloh, S. 13.
[15] Vgl. Strom, A (Hrsg.): DAK-Gesundheitsreport 2023. Analyse der Arbeitsunfähigkeiten Gesundheitsrisiko Personalmangel: Arbeitswelt unter Druck: in: Beiträge zur Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung, 44, 2023, Hamburg: 52. Vgl. auch Meyer, Markus/ Meinicke, Moritz/ Schenke, Antje: Krankheitsbedingte Fehlzeiten in der deutschen Wirtschaft im Jahr 2022: in: Badura, Bernhard et al. (Hrsg.), Fehlzeiten-Report des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO),2022. Vgl. auch Wissenschaftliches Instituts der AOK (WIdO): Post-Covid und Long-Covid: Sinkende Zahl von Krankschreibungen, aber weiterhin lange berufliche Fehlzeiten der Betroffenen - Allgemeiner Krankenstand 2023 weiterhin auf sehr hohem Niveau: Pressemitteilung des vom 28.02.24 (URL: https://www.aok.de/pp/bv/pm/post-covid-und-long-covid/ zuletzt besucht am 19.07.2024).
[16] Arbeitsunfähigkeitstage (AU-Tage) bezogen auf ein Jahr. Gezählt werden alle Tage, die auf einer Krankmeldung angegeben sind – also auch arbeitsfreie Tage wie z.B. Sonntage oder Feiertage.
[17] Vgl. Lattner, K., Otto, A., Strehmel, P. & Borkowski, S.: Fachkräftegesundheit in Kitas in Zeiten von Corona. Was sagt „die Forschung“? FORUM Jugendhilfe, 4/2022 (Hrsg. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ), 56–61: 57.
[18] Vgl. DAK-Gesundheit (Hrsg) (März 2024) DAK-Psychoreport 2024. URL: caas.content.dak.de/caas/v1/media/57370/data/0114eed547a91f626b09d8265310d1e5/dak-psychreport-ergebnis-praesentation.pdf zuletzt besucht am 19.07.2024).
[19] Wie die Gutachten „Bildung und Resilienz“ (2022) und „Bildung und sozialer Zusammenhalt“ (2024) zeigen, müssen Überlegungen zur Stärkung von Familien, die sozio-emotionale Entwicklung von Kindern und die Resilienz von Fachkräften besonders in Zeiten multipler Krisen stärker als bisher zusammengedacht werden. Vgl. vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (Hrsg.): Bildung und Resilienz, 2022 und vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (Hrsg.): Bildung und sozialer Zusammenhalt, Gutachten, 2024.
[20] Vgl. Lattner K./ Strehmel P./ Borkowski S.: Der Krise trotzen dank Resilienz? Ansatzpunkte zur Stärkung der (eigenen) Widerstandskraft (im Kita-Team). KitaAktuell, 4, 2023, 17-19.
[21] Damit sind die Überzeugungen einer Person hinsichtlich ihrer Fähigkeit bestimmte Ereignisse in ihrem Lebensumfeld beeinflussen oder kontrollieren zu können gemeint.
[22] Bengel, J. & Lyssenko, L. (2012). Resilienz und psychologische Schutzfaktoren im Erwachsenenalter: Stand der Forschung zu psychologischen Schutzfaktoren von Gesundheit im Erwachsenenalter. Köln: BZgA.
[23] Dahlgren, G. & Whitehead, M. (1991). Policies and strategies to promote social equity in health. Stockholm: Institute for Future Studies.
[24] Nach Kristin Neff umfasst Selbstmitgefühl drei sich überschneidende Gefühle: (1.) Selbstmitgefühl anstelle von Selbstverurteilung, (2) Gefühle der Mitmenschlichkeit anstelle der Isolation und (3.) Achtsamkeit anstelle der Überidentifikation. Selbstmitgefühl zuzulassen, bedeutet fürsorglich und verständnisvoll mit sich selbst umzugehen, anstatt sich selbst immer zu kritisieren oder zu beurteilen. Wenn die äußeren Umstände und Rahmenbedingungen in der Arbeit schwierig sind, hilft Selbstmitgefühl dabei, sich selbst zu trösten und zu beruhigen, und verlangt von den Einzelnen nicht, diese Bedingungen einfach nur stoisch zu ertragen. Selbstmitgefühl hilft laut Neff, eine beobachtende und wohlwollende Sicht auf sich selbst zu haben und kann als Teil einer eigenen Selbstreflexion in Krisensituationen bei der Bewältigung unterstützen (Vgl. Neff, K. (2012): Selbstmitgefühl. Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden. Kailash.
[25] Vgl. Felfe, Jörg (2008): Mitarbeiterbindung, Göttingen, S. 9-20.
[26] Vgl. Soucek, R./ Ziegler, M./ Schlett, C.: Resilienz im Arbeitsleben – Eine inhaltliche Differenzierung von Resilienz auf den Ebenen von Individuen, Teams und Organisationen. Gruppe. Interaktion. Organisation. 47, 2016, S. 131–137, 132.
[27] Vgl. ebd. 134.
[28] Eine vollständige Darstellung politischer Strategien und Maßnahmen, die dazu beitragen, die doppelte Belastung, der die Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe ausgesetzt sind, zu reduzieren und nachhaltig zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu kommen, kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Daher werden im Folgenden lediglich Grundlinien skizziert.
[29] Bereits 2018 hat die AGJ eine Gesamtstrategie gefordert, siehe AGJ-Positionspapier (2018): „Dem wachsenden Fachkräftebedarf richtig begegnen!“