Veranstaltung “Krise als Motor!? – Soziale Dienste zwischen Anspruch und Wirklichkeit” – Dokumentation

Dokumentation zur Online-Fachveranstaltung der AGJ am 13. November 2023 von 9.00 bis 13.00 Uhr “Krise als Motor!? – Soziale Dienste zwischen Anspruch und Wirklichkeit”

Um was ging es?

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Gesetzesreformen, wie das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG), liefern positive fachliche Impulse für die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Zugleich ist die Umsetzung der gesetzlichen Neuregelungen mit einem steigenden fachlichen Anspruch an die Fachkräfte der Sozialen Dienste verbunden. Krisen, wie die Corona-Pandemie, stellen darüber hinaus besondere Herausforderungen an die Fachkräfte und wirken mitunter verstärkend auf bestehende Problemlagen (z. B. den Fachkräftemangel), bieten aber mitunter auch Chancen für neue Wege.

In der digitalen AGJ-Fachveranstaltung des Fachausschusses VI „Hilfen zur Erziehung, Sozialpädagogischen und Familienunterstützende Hilfen“ am 13. November 2023 wurden das Spannungsfeld zwischen einerseits sozialpolitischem Auftrag und steigendem fachlichen Anspruch sowie andererseits spürbarem Fachkräftemangel, Krisenmanagement und zunehmendem Finanzierungsdruck in den Blick genommen. Notwendige Voraussetzungen für die Verbesserung der Praxisbedingungen wurden auf dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in den Sozialen Diensten diskutiert.  

Dr. Harald Britze (Zentrum Bayern Familie und Soziales – Bayerisches Landesjugendamt) führte moderierend durch die AGJ-Fachveranstaltung. Die Co-Moderation übernahm Katja Albrecht [Internationaler Bund (IB)].

An der Veranstaltung nahmen insgesamt 222 Personen verschiedener Arbeitsfelder aus ganz Deutschland teil. Die Fachveranstaltung war geprägt von informativen Beiträgen, spannenden Diskussionen und vielfältigen interaktiven Beteiligungsformaten.

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Mentimeterfolie 2 als PDF

Kinder- und Jugendhilfe für die Gesellschaft als Teil der sozialen Daseinsvorsorge

Vortrag von Dr. Thomas Meysen (SOCLES International Centre)

„Die Gesellschaft braucht eine Kinder- und Jugendhilfe, die Lust auf Gesellschaft hat und die das auch offen in die Gesellschaft trägt […] 
damit die Gesellschaft den Wert der Kinder- und Jugendhilfe und der Sozialen Dienste besser erkennt!“ (Dr. Thomas Meysen)

Video-Clip: Vortrag Dr. Thomas Meysen
Präsentation als PDF

Dr. Thomas Meysen veranschaulichte in seinem Vortrag vor welchen großen Fragen und Herausforderungen die Demokratie als auch die Kinder- und Jugendhilfe als Teil des Care-Bereichs angesichts aktueller Krisen stehen. Er verdeutlichte die zentrale Bedeutung der Kinder- und Jugendhilfe für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Bestand der freiheitlichen Demokratie. Dabei zeigte Herr Dr. Meysen auf, welche Auswirkungen die Krise für Demokratie und Gesellschaft haben kann, wenn keine belastbare Infrastruktur geschaffen wird. Besonders hob er den Beitrag des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) hervor und betonte dessen wichtige Rolle für junge Menschen und Familien, z. B. im Kinderschutz als auch gegen Segregation und Marginalisierung. Daran anknüpfend, ging er der Frage nach, wie der Soziale Dienst aufgestellt sein sollte, um der Vielfalt an zu bearbeitenden Themen (z. B. Extremismus, Suchterkrankungen) gerecht werden und dem Fachkräftemangel entgegentreten zu können. 
Herr Dr. Meysen ermutigte die Kinder- und Jugendhilfe ausdrücklich, ihre tägliche Arbeit zu würdigen und entsprechend selbstbewusst die eigenen Beiträge stärker und offensiv ins Gespräch zu bringen bzw. in das öffentliche Bewusstsein zu rücken. Er unterstrich die Notwenigkeit, dass die Kinder- und Jugendhilfe sich den schwierigen sozialpolitischen Aushandlungsprozessen und Verteilungskämpfen stellen. Dabei sollte sie mit Blick auf die Gegenwart und Zukunft junger Menschen um politische Prioritätensetzung und zukunftsfähige Formen sozialer Sicherung ringen.

Krise als (neue) Normalität? Soziale Dienste zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Vorträge von Vanessa Völkel (Jugendamt Landratsamt Emmendingen) und Frederik Näher (KJHV Berlin-Brandenburg/ Sachsen)

Video-Clip: Vorträge Vortrag Vanessa Völkel und Frederik Näher
Präsentation Vanessa Völkel als PDF
Präsentation Frederik Näher als PDF

„Es wäre gut und wünschenswert wenn wir ein Wir-Gefühl wieder herbeiführen, also eine gemeinschaftliche Verantwortung. Das läuft natürlich nur über gute und zuverlässige Kommunikation.“ (Vanessa Völkel)

Vanessa Völkel und Frederik Näher beleuchteten das Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in dem sich die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe befinden. Aus Jugendamtsperspektive zeigte Frau Völkel auf, dass neben den zu bewältigenden Krisen (u. a. Corona, Fachkräftemangel, Fluchtbewegungen) auch eine Vielzahl an Gesetzesreformen erfolg(t)en, die dementsprechend Personal und Ressourcen binden. An verschiedenen Beispielen wurde eindrücklich aufgezeigt, welche aktuellen Herausforderungen verschiedenen Erwartungen an die Sozialen Diensten gegenüberstehen (u. a. Ressourcenmangel auf allen Ebenen vs. bedarfsgerechte/individuelle Lösungen). Hieran anknüpfend veranschaulichte Frau Völkel, wie sich die Herausforderungen intern (z. B. auf die Arbeit des ASD) als auch extern (z. B. auf die Kooperation zwischen öffentlichen und freien Trägern) auswirken. Hieran anknüpfend, ging sie der Frage nach, welche Lösungsansätze bspw. denkbar wären und mit welchen Themen sich die Träger der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe jetzt als auch zukünftig verstärkt auseinandersetzen müssten. Angeregt wurde u. a. die Einführung eines internen Fallmanagements im Sozialen Dienst und die Entwicklung einer gemeinsamen Strategie zu fehlenden Angeboten (insb. im stationären Bereich). Frau Völkel rief die öffentlichen und freien Träger gleichermaßen dazu auf, wieder ein stärkeres „Wir-Gefühl“ und Kollegialität zu entwickeln bzw. dieses gerade in Krisenzeiten zu wahren. Auch müsse sich die Kinder- und Jugendhilfe mit ihren Aufgaben nach außen hin deutlich besser bzw. positiver darstellen, um u. a. an Attraktivität für zukünftige Fachkräfte zu gewinnen.

„Wir sitzen alle in einem Boot. Wir müssen es gemeinsam hinkriegen!“ (Frederik Näher)

An den Vortrag von Frau Völkel anknüpfend, veranschaulichte Frederik Näher aus Sicht eines Trägers der freien Kinder- und Jugendhilfe, wie sich Krisen und Herausforderungen auf die Arbeit und auf die Kooperation mit den öffentlichen Trägern auswirken können. Er wies darauf hin, dass sich neben aktuellen Krisen ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel in den Erwartungen an die Arbeitsbedingungen (u. a. work-life-balance) zeige, was sich besonders spürbar auf die Kinder- und Jugendhilfe auswirke. In diesem Kontext merkte er an, dass die stationäre Erziehungshilfe spürbar vom Fachkräftemangel betroffen sei. Herr Näher konstatierte, dass vielfältige Herausforderungen (z. B. steigende Anzahl von Kindeswohlgefährdungen, Personalunterdeckelung) in der Praxis zu sinkender Haltequalität, sinkenden Platzzahlen und einem hohen Konfliktpotential zwischen öffentlichen und freien Trägern führe, sodass die qualitative Weiterentwicklung der Arbeit (z. B. Umsetzung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe) kaum leistbar sei. In diesem Zusammenhang setzte er sich mit der Frage auseinander, was es bedarf, damit die fachlichen Anforderungen zuverlässig und qualitätsgerecht bewältigt werden können und die einzelne Fachkraft ihre Arbeit als pädagogisch wirksam und sinnstiftend erlebt. Abschließend betonte er, dass es Ziel sein müsse, den Sinn der pädagogischen Arbeit als zentrales Argument für die Soziale Arbeit wieder zur Wirkung zu verhelfen.

„Jetzt erst recht!?“

Podiumsdiskussion mit Ulrike Bahr (MdB SPD-Bundestagsfraktion), Adam Khalaf (FH Münster), Dr. Björn Hagen (EREV), Dr. Susanne Heynen (Jugendamt Stuttgart)]

In der Podiumsdiskussion mit dem Titel „jetzt erst recht!?“ wurden die bereits zuvor skizzierten Spannungsfelder aufgegriffen, weitere Herausforderungen benannt und mit Fokus auf die Sozialen Dienste verschiedene Weiterentwicklungs- und Lösungsansätze diskutiert. Dabei wurde u. a. erörtert, wie die Qualität und Fachlichkeit des Sozialen Dienstes angesichts zu bewältigender Krisen und des Fachkräftemangels gehalten werden könne und was es bedarf, damit die Verantwortungsgemeinschaft auch in Krisenzeiten weiterhin gut funktionieren.

„Es ist unsere Verantwortung, im Angesicht multipler Krisen, gemeinsam als Politik, öffentliche Jugendhilfe und freie Träger die anstehenden Herausforderungen anzunehmen und unsere Jugendhilfe-Infrastruktur krisenfest umzubauen." (Ulrike Bahr, MdB SPD-Bundestagsfraktion)

Mit Bezug auf den Vortrag von Frau Völkel, stimmte Ulrike Bahr zu, dass bei jeder Gesetzgebung bedacht werden sollte, welche Konsequenzen diese für die Kinder- und Jugendhilfe habe. Sie gab zu bedenken, dass es sich bei den genannten Gesetzesänderungen, wie bspw. der SGB VIII-Reform, um fachpolitisch und rechtlich lang diskutierte Themen und notwendige Weiterentwicklungen handele (z. B. eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe). Der mit dieser Reform verbundene Paradigmenwechsel mit Blick auf Aspekte wie Demokratieförderung und Teilhabe, sei gerade in und trotz Krisenzeiten unabdingbar, damit man u. a. junge Menschen nicht für die Demokratie verliere. Sie sah die Kommunen, Länder und den Bund in der Verantwortung Schritt für Schritt die vielen Stellschrauben im föderalen System anzugehen und gemeinsam mit der Kinder- und Jugendhilfe zielorientiert konstruktive Lösungen zu finden. Zugleich warnte sie davor, in eine Art „Reparaturbetrieb“ zu gehen und dabei Prävention(smaßnahmen) zu vernachlässigen oder „unter den Tisch fallen zu lassen“. 
Mit Blick auf den Fachkräftemangel, benannte sie die Weiterentwicklung und konsequente Umsetzung von Lösungsansätzen als eine wesentliche Aufgabe diesem entgegenzuwirken (z. B. durch den Ausbau der Ausbildungs- und Studienplätze im Bereich der Sozialen Arbeit, den Ausbau von dualen Ausbildungsgängen, die (Weiter-)Entwicklung und konsequente Umsetzung von Weiterbildungskonzepten für Quereinsteiger*innen und die stärkere Anerkennung von ausländischen Abschlüssen). Hierin als auch in der konzentrierten Steigerung der Attraktivität der Sozialen Arbeit, insbesondere durch eine gute Vergütung von Fachkräften, sah sie wesentliche Stellschrauben, um das Ausmaß der Belastung der Sozialen Dienste nach und nach abzumildern.

„Auch die Garantenstellung im Kinderschutz und die letztendliche Verantwortung, wenn Familien, aber auch andere Systeme – wie die Kinder- und Jugendpsychiatrie, die Behindertenhilfe oder das Bildungssystem – an ihre Grenzen kommen, wird uns anvertraut. Mit Blick auf die sich verstärkenden Diskrepanz zwischen Fachkräftebedarf und zur Verfügung stehenden Fachkräften müssen wir dringend darüber sprechen, wie wir als öffentliche Jugendhilfe diesen Erwartungen jetzt und in Zukunft gerecht werden können.“ (Dr. Susanne Heynen, Jugendamt Stuttgart)

In der Diskussion hob Dr. Susanne Heynen hervor, dass die Kinder- und Jugendhilfe ihrer Ansicht nach „ein großer Erfolg“ sei – gerade auch angesichts dessen, was ihr im Kontext der vielen Gesetzesreformen und Krisen quantitativ und qualitativ zugetraut werde. 
In Hinblick auf den Fachkräftemangel, betonte sie, dass sie den Sozialen Dienst weiterhin für einen attraktiven Arbeitsbereich halte. Der Fachkräftemangel sei eher ein grundlegend real-quantitatives, arbeitsfeldübergreifendes Problem in Deutschland, welches sich auch in der Kinder- und Jugendhilfe zeige. Trotz vielfältiger Maßnahmen der Personalgewinnung und -bindung (bspw. Einarbeitungskonzepte, Personalschulung, Fachkräftegewinnung aus dem Ausland, Werkverträge für Studierende) kämen Jugendämter an die Grenzen, was quantitativ überhaupt an Personalkapazitäten zu gewinnen sei. Den Einsatz von Quereinsteiger*innen im ASD stand Frau Dr. Heynen mit Blick auf das Aufgabenprofil der Fachkräfte und den allgemeinen Fachkräftemangel skeptisch gegenüber. 
Zum Thema Digitalisierung, merkte sie an, dass diese im Jugendamt Stuttgart bereits in der Verwaltung und Koordinierung genutzt werden, die (Weiter-)Entwicklung von spezialisierten Systemen und Programmen jedoch oftmals ein langwieriger Prozess sei. Den zukünftigen Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) im ASD hielt Frau Dr. Heynen im organisatorischen Bereich denkbar (z. B. bei der Suche nach freien stationären Plätzen). 
Sie ermutigte Jugendämter und freie Träger (eigene) Angebote vor Ort kritischer in den Blick zu nehmen und ggf. den Mut aufzubringen, Angebote, die sich nicht bewähren, herunterzufahren oder gar aufzugeben. Ziel müsse sein, sinnvolle und wirksame Angebote in der Infrastruktur finanziell nachhaltig abzusichern. 
Frau Dr. Heynen hielt fest, dass, solange die Aufgaben und damit verbundenen Anforderungen an die Kinder- und Jugendhilfe weiter anwachsen, auch der Fachkräftemangel in den Jugendämtern bzw. dem ASD weiterbestehen und ggf. weiter anwachsen werde. Auch kompensiere die Kinder- und Jugendhilfe oft Armutsfolgen, könne aber die Ursachen hierfür nicht lösen. Hier stehe zuvorderst die Politik in der Verantwortung, Strategien gegen Armut und soziale Ausgrenzung umzusetzen, z. B. Familien finanziell stärker zu entlasten als auch für adäquate Wohnsituationen und -umfelder zu sorgen. Weiter forderte Frau Dr. Heynen die Kinder- und Jugendhilfe auf, politischer zu werden und sich zugleich ehrlich zu machen – sich selbst sowie den (kooperierenden) Systemen und politischen Akteur*innen gegenüber. Hierzu gehöre, die eigenen Grenzen anzuerkennen und stärker zu äußern, wenn z. B. die Kompensierung der Engpässe anderer Systeme nicht (mehr) möglich sei.

„Die aktuellen Herausforderungen rund um die Fachkräfte können nur gemeinsam mit öffentlichen und freien Trägern angegangen werden, indem der Wert der Arbeit für die jungen Menschen und Familien dargestellt wird“ [Dr. Björn Hagen, Evangelischer Erziehungsverband e.V. (EREV)]

Dr. Björn Hagen unterstrich in der Podiumsdiskussion, dass die Kinder- und Jugendhilfe stolz darauf sein kann, was sie in den letzten Jahren geleistet hat. Er betonte, dass mit dem bestehenden Kinder- und Jugendhilfesystem viele Veränderungen erreicht werden können, ohne „das Rad neu zu erfinden“. Wichtig sei in dem Fachdiskurs zum Thema alle Ebenen – die Mikroebene (Fachkräfte/Einrichtung), die Mesoebene (Organisation/Institution) und die Makroebene (gesellschaftspolitische Einflüsse) – in den Blick zu nehmen und zu analysieren. 
Er konstatierte, dass es für die Lösung bestehender Herausforderungen in der Kinder- und Jugendhilfe keinen Königsweg gebe. Fehlentwicklungen, die aus der Not geboren werden, müssten jedoch vermieden werden. Dr. Hagen vertrat die Ansicht, dass es primär einer grundlegenden Konsolidierung des Bestehenden bedürfe, um insbesondere einem möglichen Erodieren der fachlichen Kernkompetenzen entgegenzuwirken. Hierzu gehöre z. B. die Entwicklung eines „fluideren“, flexibleren Hilfesystems (weg von Versäulung), die Auflösung des Paradigmas „ambulante vor stationäre Hilfen“, die stärkere Nutzung und gemeinsame Weiterentwicklung vorhandener Instrumente in der Praxis (bspw. Der Leistungs- und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen) sowie die Beibehaltung der Qualitätsstandards. In diesem Kontext unterstrich Herr Dr. Hagen, dass wesentliche Grundlagen einer guten Zusammenarbeit von öffentlichen und freien Träger Verlässlichkeit, Kontinuität und Beteiligung seien.
Zum Fachkräftemangel merkte er u. a. an, dass der statistisch belegte Anstieg unbefristeter Stellen in der Kinder- und Jugendhilfe hierzu in einem deutlichen Widerspruch stehe. Für Träger der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe müssten sowohl die Kontinuität und Pflege des Bestehenden als auch die Schaffung von Neuem wichtig sein. 
Zum Thema Quereinsteiger*innen, wies er darauf hin, dass der Einsatz von Fachkräften ohne pädagogische Ausbildung in den Hilfen zur Erziehung sehr herausfordernd sei – insbesondere auch, da diese im Leben der jungen Menschen und der Familien ansetzen und somit gerade das Geschehen und die Gespräche im Alltag wichtige pädagogische Momente enthalten. Unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Aufgaben Quereinsteiger*innen eingesetzt werden könnten, bedürfe der vertieften Erörterung seitens der Träger der freien und öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe. Weiter regte er die wissenschaftliche Begleitung des Einsatzes von Quereinsteiger*innen in der Praxis an. Eine weitere Stellschraube sah er in der besseren Bezahlung der Fachkräfte. In dem Zusammenhang kritisierte er, dass die Vergütung von gleich qualifizierten Fachkräften in der Praxis je nach Arbeitsbereich oftmals unterschiedlich gehandhabt werde (z. B. Vormundschaftsstelle, Pflegekinderdienst, ASD). Dies sei für viele Fachkräfte nicht nachvollziehbar und trage zur Personalfluktuation bei. Weiter plädierte er für eine stärkere Aufnahme des bisher vermeintlich unterrepräsentierten Themas Hilfen zur Erziehung in den Ausbildungsgängen der Sozialen Arbeit (mind. 50%).
Herr Dr. Hagen forderte eine deutlichere gesellschaftspolitische Anerkennung und Anhebung der Reputation der Kinder- und Jugendhilfe und dessen, was sie leiste. Er schloss sich der bereits zuvor geäußerten Forderung an, dass der Gesetzgeber stärker in den Blick nehmen müsse, welche Konsequenzen Gesetze(sreformen) ggf. auch für die Kinder- und Jugendhilfe haben. Dabei nahm er Bezug auf das neue soziale Entschädigungsrecht (SGB XIV), welches Anfang 2024 in Kraft trete und rechtsystematische Probleme an der Schnittstelle zum SGB VIII aufweise.

„Eine zu große Zahl von ASD befindet sich bereits jetzt in einem erkennbaren Teufelskreis der Entprofessionalisierung, dem aber durch klare und gute Organisationsführung zweifellos auch wirksam begegnet werden kann." (Adam Khalaf, FH Münster)

Adam Khalaf wies darauf hin, dass statistische Daten aufzeigen, dass sich viele ASD bereits in einer „Abwärtsspirale ihrer Fachlichkeit“ befinden. Insbesondere die hohe   Personalfluktuation sei hierbei ein wesentlicher Faktor. Diese wäre jedoch nachweislich nicht allein durch den demographischen Wandel und den allgemeinen Fachkräftemangel zu erklären. Auch sei der ASD nicht mehr die „erste Adresse“, bei der Wahl des Arbeitsbereiches. Ein großes Problem bestehe darin, dass die älteren, erfahrenen Fachkräfte sehr bald in den Ruhestand gehen werden. Diese würden sich in ihrem Selbstverständnis und ihrer Haltung als ASD-Fachkräfte identifizieren und ihre sehr wertvolle Lebens- und Arbeitserfahrung jetzt noch an junge Kolleg*innen weitergeben können. Nicht selten verlassen neue Fachkräfte aber bereits nach wenigen Jahren den ASD wieder. Dies führe oftmals zu einem „Durchlauferhitzer“ im System. Es folgten Mechanismen, wie z. B. die Einführung von Checklisten, die zunehmende Übernahme von Arbeit und Entscheidungen seitens der Leistungskräfte sowie die diffuse Abgabe von Verantwortung in das Team, da die einzelnen Fachkräfte von ihrem Standing her noch nicht in der Lage seien, diese zu übernehmen und sich dabei sicher zu fühlen. Es werde also „ausgelagert“, was schließlich die „Erosion des sozialpädagogischen Kerns der Arbeit“ zur Folge habe.
Forschungsergebnisse würden zeigen, dass die einzelnen Sozialen Dienste nicht in diesen Teufelskreis geraten müssten. Soziale Dienste hätten durchaus Stellschrauben, mit welchen sie aus eigener Kraft heraus – ohne auf externe Faktoren angewiesen zu sein – in der Lage seien, die Arbeitsbedingungen positiv zu verändern. Es habe sich gezeigt, dass wenn Soziale Dienste einen wesentlichen Faktor bearbeiten (z. B. eine gute Einarbeitung gewährleisten), sich dieser als wertvolle Stütze auf das ganze System stabilisierend auswirke. Der zuvor beschriebene Teufelskreis begründe sich insbesondere darauf, dass viele ASD denken, sie hätten nicht mehr die zeitlichen Ressourcen, sich mit solchen Dingen intensiver zu beschäftigen. Herr Khalaf ermutigte die Sozialen Dienste ausdrücklich, die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert seien, trotzdem aktiv anzugehen.
Zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz im ASD, merkte Herr Khalaf an, dass diese zukünftig ggf. Entlastung bringen könnten, da mindestens 60% der Arbeit der Fachkräfte im ASD Organisation und Dokumentation ausmachten. Dabei gab er zu bedenken, dass noch zum großen Teil (ca. 95 %) ergänzende Handakten geführt werden würden, die sich noch nicht digitalisieren ließen. 
Im Einsatz von Quereinstiger*innen in den Sozialen Diensten sah Herr Khalaf wenig Heilsbringung. Als eine Herausforderung benannte er, dass ggf. wertvolle Kommunikationsanlässe verloren gehen, wenn einzelne Aufgaben herausfragmentiert werden, die Personen ohne pädagogische Ausbildung übernehmen könnten. Zudem entstehe durch die Organisation und Koordination dieser Aufgabenverteilung innerhalb der Organisation ein erhöhter Organisationsaufwand, der wiederum gemanagt werden müsse. Herr Khalaf ermutigte die Sozialen Dienste, sich stärker auf ihr sozialpädagogisches Fachwissen zu beziehen als nach der vermeintlich „einfachen“ Lösung zu suchen. Er regte an, die Ressourcen, die jetzt noch zu Verfügung stünden, nicht an einer Stelle einzusetzen, die am Ende vsl. am wenigsten bringe. Forschungsergebnisse würden aufzeigen, dass der ASD aus eigener Kraft heraus eine deutliche Verbesserung der Gesamtsituation mitgestalten bzw. bewirken könne. Auch würde eine gute Zusammenarbeit zwischen ASD und freien Trägern der Personalfluktuation erheblich entgegenwirken.

„Krise als Motor!? Innovative Grundlagen für die Praxis“

Arbeitsgruppenphase

In den drei Foren standen jeweils folgende Themen im Fokus:  1. Personalgewinnung und -bindung im Sozialen Dienst, 2. Digitalisierung als Herausforderung und Chance und 3. Krisenfeste Kooperation zwischen öffentlichen und freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe.  Auf Grundlage von informativen Vorträgen kamen die Teilnehmer*innen miteinander ins Gespräch und tauschten sich zu den Herausforderungen, ihren eigenen Erfahrungen sowie zu Handlungs- und Lösungsansätzen aus. Dabei wurde u. a. der Frage nachgegangen, wie Praxisbedingungen in Krisenzeiten weiterentwickelt und verbessert werden können, damit die Anforderungen an die Sozialen Dienste adäquat umgesetzt werden (können).

Forum 1: Personalgewinnung und -bindung im Sozialen Dienst

  • Vorträge: Benjamin Landes (Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V.); Stephan Höfer (Amt für Kinder, Jugendliche und Familien der Stadt Rosenheim) & Tobias Stumpf (Kreisjugendamt Rosenheim) zum Traineeprogramm für Berufseinsteiger*innen Jugendhilfe in der Region Rosenheim
  • Moderation: Robin Loh (Bundesforum Vormundschaft und Pflegschaft)

Video-Clip: Vortrag Benjamin Landes
Präsentation Benjamin Landes als PDF

Präsentation Stephan Höfer & Tobias Stumpf als PDF (verwendete Version im Forum)
Präsentation Stephan Höfer & Tobias Stumpf als PDF (ausführlichere Version)

Zur Diskussion:
Die Teilnehmer*innen des Fachforums waren der Ansicht, dass der Fachkräftemangel nicht hinnehmbar sei, da es um Rechtsansprüche von jungen Menschen und ihren Familien gehe, die erfüllt werden müssen. Es wurde u. a. darauf hingewiesen, dass die vielen Gesetzesvorhaben – so sinnvoll diese auch sein mögen – mit den aktuellen Rahmenbedingungen nur schwerlich in der Praxis umzusetzen seien. In der Diskussion wurde betont, dass die Weiterentwicklung von Gesetzgebungen wichtig sei. Damit die Kinder- und Jugendhilfe den damit einhergehenden Erwartungen und Anforderungen gerecht werden könne, brauche es jedoch ausreichend Personal. In diesem Kontext forderten die Teilnehmenden u. a., dass die Kinder- und Jugendhilfe mehr gesellschaftspolitische Lobbyarbeit erbringen müsse, um ihre Bedeutung für die Gesellschaft zu verdeutlichen.

Forum 2: Digitalisierung als Herausforderung und Chance

  • Vortrag: Heinz Müller (Institut für sozialpädagogische Forschung Mainz gGmbH)
  • Moderation: Dr. Monika Weber [Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL)]

Video-Clip: Vortrag Heinz Müller
Präsentation als PDF

Zur Diskussion:
In der Diskussion des Fachforums merkten die Teilnehmenden an, dass der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) ggf. sehr hilfreich mit Blick auf die Beschleunigung von Verwaltungsprozessen sein könne. Zur Nutzung von Künstlicher Intelligenz und dadurch gestützter Technologien brauche es aber eine klare fachliche und öffentliche Verantwortung. Des Weiteren wurde verschiedenen Fragen diskutiert, wie bspw.: Wie könnte eine Offenheit ggü. dem Einsatz von KI-basierte-Unterstützungsangeboten gefördert werden?  Wie könnte der Widerspruch zwischen kommunaler Heterogenität und eines notwendigen zentralisierten Anspruchs von Digitalisierungsprozessen aufgelöst werden? Wie könnten strukturelle Hürden beseitigt werden? Aus dem Vortrag heraus als auch in der Diskussion wurde deutlich, dass Digitalisierung mit vielfältigen Chancen, An- und Herausforderungen aber auch Grenzen verbunden ist, die es zukünftig noch weiter zu beleuchten gilt. Es wurde u. a. festgehalten, dass die weitere Auseinandersetzung mit digitalen Programmen (z. B. KI) und digitalen Formen der Kommunikation mit Blick auf die real-digitalisierte Lebensrealität junger Menschen und Familien als auch angesichts der Corona-Krise und des Fachkräftemangels in der Kinder- und Jugendhilfe erforderlich sei.

Forum 3: Krisenfeste Kooperation zwischen öffentlichen und freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe

  • Vortrag: Dr. Mike Seckinger (Deutsches Jugendinstitut e. V.)
  • Moderation: Björn Redmann (Bundesnetzwerk Ombudschaft in der Kinder- und Jugendhilfe e.V.)

Video-Clip: Vortrag Dr. Mike Seckinger
Präsentation als PDF

Zur Diskussion:
In dem Forum wurden u. a. Grundlagen einer krisenfesten Kooperation als auch damit verbundene Erwartungen diskutiert. Die Teilnehmenden hielten fest, dass „Kontinuität“ eines der wesentlichen Merkmale einer guten Kooperation sei.  Seitens der Teilnehmer*innen wurde kritisch hinterfragt, ob die negativen Kooperationserfahrungen der Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe aus den Jahren 2015/2016 zur Thematik Refinanzierung des Strukturausbaus im Kontext der Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen, ggf. einer (stärkeren) Aufarbeitung bedürfen. In diesem Zusammenhang wurde auch das Thema „Risikoverteilung“ zwischen Trägern der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe erörtert. Angemahnt wurde, dass das Thema „krisenfeste Kooperation“ im Praxis- und Fachdiskurs erst jetzt – in schwierigen Zeiten diskutiert werde. Darüber hinaus tauschten sich die Teilnehmenden u. a. über bestehende Praxismodelle aus, die eine krisenfeste Kooperation zwischen Trägern der freien und öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe befördern (z. B. eine Arbeitsgruppe zum Thema „Manöverkritik“, in der freie und öffentliche Träger offen über Kooperationsprobleme sprechen und gemeinsam Lösungswege erarbeiten können). Zudem fand ein Fachaustausch über (Landes)Jugendhilfeausschüsse als ein bedeutendes „Kooperationsgremium“ der Kinder- und Jugendhilfe statt, u. a. im Kontext der gesetzlich vorgeschriebenen Aufnahme von Selbstorganisierten Zusammenschlüssen zur Selbstvertretung.


Abschließende Statements der Teilnehmenden zum Thema „Es ist wert im Sozialen Dienst zu arbeiten, weil…“
Mentimeterfolie 3 als PDF


Ansprechperson für Nachfragen und Hinweise ist Monique Sturm, zuständige Referentin des Arbeitsfeldes VI „Hilfen zur Erziehung, Sozialpädagogische und Familienunterstützende Hilfen“ (monique.sturm[at]agj.de).