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Die 3. Stufe zur Inklusion nehmen: Überzeugende Gestaltung durch Kinder- und Jugendhilfeinklusionsgesetz – IKJHG

Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ[1] zum Referatsentwurf eines Gesetzes zur Ausgestaltung der Inklusiven Kinder- und Jugendhilfe

 

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Abstract

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ legt eine Stellungnahme zum Referatsentwurf eines Gesetzes zur Ausgestaltung der Inklusiven Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeinklusionsgesetz – IKJHG / RefE) vor. Sie stellt fest, dass dieser eine tragfähige Grundlage für die als 3. Stufe notwendige und im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz angezeigte Verwaltungsstrukturreform bietet. Auch wenn sich die AGJ für die inklusive Lösung an verschiedenen Stellen stärker zusammenführende Regelungsvorschläge gewünscht hätte und sie auch noch konkrete Änderungsforderungen zusammentrug, appelliert sie gegenüber den politisch Verantwortlichen, die Chance einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe jetzt wahrzunehmen!


Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Qualitätsvoller Kompromiss
3 Offene Baustellen
4 Leistungen zur Entwicklung, zur Erziehung und zur Teilhabe
4.1 Anspruchsgrundlage für Hilfe zur Erziehung (§ 27 Abs. 2 SGB VIII-RefE)
4.2 Anspruchsgrundlage für Leistungen der Eingliederungshilfe (27 Abs. 3 bis 3b SGB VIII-RefE)
4.3 Leistungsformen und zwei unterschiedliche offene Leistungskataloge
4.3.1 Leistungskatalog der Hilfe zur Erziehung (§§ 27a bis 35 SGB VIII-RefE)
4.3.2 Leistungsformen und dem Leistungskatalog der Leistungen der Eingliederungshilfe (§§ 35a bis 35i SGB VIII-RefE)
4.3.3 Inklusive Erbringung
4.4 Hilfe für junge Volljährige, Beratungsansprüche von Eltern und Pflegepersonen 
4.5 Rechtsverordnung 
5 Hilfe- und Leistungsplanung 
5.1 Allgemeine Vorgaben 
5.2 Hilfe- und Leistungsplanung für Hilfen oder Leistungen außerhalb der eigenen Familie (§ 37 SGB VIII) 
5.3 Hilfe- und Leistungsplanung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung (§§ 38 bis 38d SGB VIII) 
6 Verfahrenslotsen 
7 Leistungsvereinbarungsrecht 
8 Kostenheranziehung 
9 § SGB § Abs. SGB Übergangsphase 
9.1 § SGB Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen, Fortgeltung von Leistungsbescheiden 
9.2 Bestandsschutz für Familien von Kindern mit Behinderung hinsichtlich der Kostenheranziehung 

1 Einleitung

Für die Gestaltung einer „inklusiven Kinder- und Jugendhilfe“ sieht das am 10. Juni 2021 in Kraft getretene Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) einen dreistufigen Prozess vor (§ 108 SGB VIII), der am 01. Januar 2028 durch die Zusammenführung der Zuständigkeiten für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung unter dem Dach des SGB VIII enden soll.

Entsprechend dem dringenden Appell aus der Praxis, das hierfür notwenige weitere Reformgesetz deutlich vor dem gesetzten Fristende 01. Januar 2027 zu erlassen, und aufgrund des politisch breit getragenen Ziels einer inklusiven Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe[2] vereinbarten die Regierungsparteien, bereits in der laufenden 20. Legislaturperiode den Prozess voranzutreiben.[3] Zur Vorbereitung der hierfür notwendigen Reform führte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) von Juni 2022 bis Dezember 2023 den Beteiligungsprozess „Gemeinsam zum Ziel – Wir gestalten die Inklusive Kinder- und Jugendhilfe!“ durch und zog Forschung, Fachöffentlichkeit sowie Expert*innen in eigener Sache zu Rate.[4]

Das BMFSFJ legte am 16. September 2024 den Referatsentwurf eines Gesetzes zur Ausgestaltung der Inklusiven Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeinklusionsgesetz – IKJHG / RefE) vor. Die den Verbänden und Ländern gewährte sechzehntägige Frist zur Stellungnahme macht eine substanziierte Einschätzung nicht einfach. Da der so zügig ermöglichte Übergang ins offizielle Gesetzgebungsverfahren jedoch einer sachgerechten und von Wahlkampfgeschehen noch distanzierten parlamentarischen Debatte zugutekommen wird, unterstützt die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ dieses Vorgehen und macht deutlich: Das „Ob“ der inklusiven Lösung wird durch die Strukturen inzwischen nicht mehr in Frage gestellt, diese warten aber auf die Klärung des „Wie“. Es gilt die mit dem IKJHG gegebene Chance einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe jetzt wahrzunehmen!

2 Qualitätsvoller Kompromiss

Im Rahmen ihrer langjährigen Unterstützung der inklusiven Weiterentwicklung und über die im KJSG vorgegebenen Ziele hinaus hat die AGJ nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie sich eine Reform wünscht, die deutlich stärker als „nur so wenig wie nötig“ und vielmehr „so weit inklusiv und einheitlich wie möglich“ gestaltet. Verschiedene auch von der AGJ eingebrachte Erwartungen der Fachwelt erfüllt der RefE-IKJHG nicht. Am prominentesten tritt wohl hervor, dass der RefE-IKJHG keine systematisch aufeinander bezogenen Anspruchsgrundlagen und auch keinen stärker aufeinander bezogenen und zusammenführenden Leistungskatalog enthält. Dennoch stellt die AGJ fest, dass der RefE-IKJHG eine tragfähige Grundlage für die als 3. Stufe notwendige Verwaltungsstrukturreform bietet.

Obgleich mit der Überwindung der Zuständigkeitsspaltung zwischen SGB IX-2. Teil  und SGB VIII im gegliederten Sozialleistungssystem selbstverständlich Schnittstellen zu anderen Rehabilitations-, weiteren Sozialleistungsträgern und auch dem Schulsystem bestehen bleiben[5], ist die Reform ein großer Schritt im Interesse junger Menschen mit (drohender) körperlicher oder geistiger Behinderung und ihrer Familien. Trotz der Fortschritte des BTHG (insb. §§ 14ff. SGB IX) und der Bezug nehmenden Regelungen hierzu im KJSG (insb. §§ 10a Abs. 3 iVm 117 Abs. 6 und 119 Abs. 1 S. 2 SGB IX) wird erst diese Reform die weiterhin belastenden Verschiebestreitigkeiten zwischen den öffentlichen Trägern der Jugendhilfe und den öffentlichen Trägern der Eingliederungshilfe wirksam eindämmen. Sogar bei den zahlreichen Jugendämtern, die sich derzeit (noch) für die Einrichtung bzw. den Ausbau eines Spezialdienstes für Eingliederungshilfen und gegen einen auch diese umfassenden Allgemeinen Sozialdienst entscheiden, wird im Vergleich zur jetzigen Situation eine deutliche Verbesserung und ganzheitliche Wahrnehmung der Familien und jungen Menschen mit ihren Aufwachsens- und Teilhabebedarfen erreicht. Prüf- und Begutachtungsverfahren werden vereinheitlicht, Minderjährige stets im Zusammenspiel mit ihren Familien wahrgenommen, verbleibende Reibungspunkte können in amtsinternen Qualitätsprozessen zügig aufgedeckt und verändert werden, kürzere Absprachewege und dienstübergreifende kollegiale Fallberatungen verhindern unrechtmäßig nicht, verspätet oder nur unzureichend gewährte Leistungen. Die Zusammenführung in ein Amt wird dem spätestens mit dem KJSG begonnenen Ausbau inklusiver Leistungsgewährung und -erbringung weiter Vorschub leisten.

Allen Seiten ist bewusst, dass die Veränderungen der gewachsenen Systeme bzw. der Auf- und Umbau zum inklusiven System auch nach der IKJHG-Reform und wohl auch über die gesetzten Übergangsfristen hinweg noch Anstrengungen und Zeit brauchen werden. Die AGJ räumt ein, dass die in Teilen nicht ganz so einheitlich-zusammenführend wie von ihr erhofften Vorschläge zu einer ruhigeren Bewältigung dieser Herausforderungen beitragen können. Sorgen vor einer Überforderung der Praxis werden so aufgegriffen.

3 Offene Baustellen

Dass auch mit der IKJHG-Reform Sorgen und Veränderungsnotwendigkeiten bestehen bleiben, dürfte sowohl mit Blick auf den Fachkräftemangel, die vielen Hürden zum Barriereabbau bis hin zur Barrierefreiheit, die angespannte Haushaltslage vieler Kommunen und die krisengeprägte Grundsituation dieser Zeit allseits klar sein. Der AGJ erscheint es jedoch wichtig, dass bewusst damit umgegangen wird, dass vom IKJHG weder eine Wunderlösung dieser weiter zu bearbeitenden Megathemen noch kurzerhand ein umfassendes Beheben von in beiden Systemen bestehenden Umsetzungsdefiziten erwartet werden kann. Hierfür braucht es zusätzliche gesellschaftspolitische Maßnahmen (z. B. Offensive für mehr Barrierefreiheit, Fachkräfteoffensive für alle Handlungsfelder der Arbeit mit jungen Menschen) ebenso wie ein fachliches Ringen um Qualität aller Akteure. Die AGJ fordert alle Verantwortlichen auf, ihre Möglichkeiten wahrzunehmen, diese Herausforderungen anzugehen und zu ihrer Bewältigung beizutragen. Auch wenn das IKJHG diesen Herausforderungen nicht durch „Wirken mit Zauberkraft“ eine bessere Welt entgegensetzt, ist die gesetzgeberische Weichenstellung durch das IKJHG zur Inklusiven Lösung aus Sicht der AGJ sowohl aufgrund der UN-Behindertenrechtskonvention als auch aus Respekt gegenüber dem grund- und menschenrechtlich verankerten Schutz der Familie geboten.

Die AGJ appelliert daher gegenüber den politischen Entscheidungsträger*innen, zeitnah den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess zur IKJHG-Reform aufzunehmen und die politische Debatte über die Regelungsvorschläge so konstruktiv zu führen, damit eine Verabschiedung noch in dieser Legislaturperiode gelingen kann.

Auf noch vorhandene Veränderungsbedarfe am RefE-IKJHG wird im Folgenden hingewiesen. Aufgrund der kurzen Stellungnahmefrist behält sich die AGJ Ergänzungen im weiteren Gesetzgebungsprozess vor.

4 Leistungen zur Entwicklung, zur Erziehung und zur Teilhabe

Die AGJ unterstützt den hinter der Einführung der Bezeichnung „Leistungen zur Entwicklung, zur Erziehung und zur Teilhabe“ (4. Abschnitts, insb. § 27 Abs. 1 SGB VIII-RefE) stehenden Willen, eine den Anspruch auf Hilfe zur Erziehung und den Anspruch auf Leistungen zur Eingliederungshilfe umspannende Klammer zu bilden. Ihr ist bekannt, dass dieser für das SGB VIII neue Vorschlag der umspannenden Klammer in Abs. 1 und der zwei nachfolgenden Anspruchsgrundlagen als Zugangswege zu Hilfe zur Erziehung (Abs. 2) und Leistungen der Eingliederungshilfe (Abs. 3) aus rechtssystematischer Sicht unterschiedlich bewertet wird. Die AGJ steht hinter der im IKJHG-RefE gewählten Lösung, da diese die Zusammenführung und Verbindung beider Unterstützungsarten deutlich macht und so das Fehlen einer einheitlich- zusammenführenden Anspruchsgrundlage verschmerzen lässt.

Es liegt nah, dass diese Neuerung dennoch zunächst Fragen hervorruft. Innerhalb der AGJ- Diskussionen konnte überzeugen, dass es nicht nur die Leitprämisse nach § 1 Abs. 1 SGB VIII ist, dass „Jeder junge Mensch […] ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit [hat], sondern dass zudem sowohl alle Hilfe zur Erziehung wie auch alle Leistungen der Eingliederungshilfe als Unterstützung für ein förderliches Aufwachsen/eine gute Entwicklung gewährt werden und insofern beide Ansprüche auf dieses übergeordnete Ziel hinwirken. Die AGJ weist mit Nachdruck darauf hin, dass dieses Verständnis deutlicher durch eine Bezeichnung als „Leistungen zur Förderung der Entwicklung, zur Erziehung und Teilhabe“ vermittelt werden würde.

Selbstverständlich besteht ein Teilhabebedarf auch unabhängig von Entwicklungsprozessen, gleichsam fehlen ohne gesellschaftliche Teilhabe jungen Menschen wichtige Entwicklungsräume und -impulse. Die AGJ kann nachvollziehen, dass die Befassung mit § 27 Abs. 1 SGB VIII-RefE und den geringfügigen Änderungen in § 2 SGB VIII-RefE bei Vertreter*innen der Eingliederungshilfe Bedenken weckt, die im SGB IX prominent hervorgehobenen Teilhabeziele (§ 4 SGB IX) sowie Aufgaben der Eingliederungshilfe (§ 90 SGB IX) könnten gegenüber „Entwicklung“ und „Erziehung“ in den Hintergrund treten. Die AGJ teilt diese Sorge nicht, da der RefE-IKJHG und das KJSG gemeinsam zu betrachten sind. Im KJSG wurden wichtige Veränderungen zur grundsätzlich inklusiveren Ausrichtung vorgenommen, seither ist eine stärkere Berücksichtigung von Teilhabebedarfen als Einfügung zur Konkretisierung der Leitprämisse (§ 1 Abs. 3 Nr. 2 SGB VIII-KJSG) wie auch als Bestandteil der Grundsichtung von Erziehung (§ 9 Nr. 4 SGB VIII-KJSG) im SGB VIII explizit normiert. Der AGJ hätte dies genügt, sie regt eine in diese Richtung gehende Ergänzung nur nach § 35a Abs. 2 SGB VIII-RefE an (vgl. 4.3.2.). Soweit aber ein sinnvoller Vorschlag zur noch besseren Verdeutlichung der Teilhabeziele im Allgemeinen Teil des SGB VIII eingebracht wird, trägt die AGJ ihn als Absicherung dieses wichtigen Auftrags mit.

4.1 Anspruchsgrundlage für Hilfe zur Erziehung (§ 27 Abs. 2 SGB VIII-RefE)

Die AGJ hat keine Einwände gegen die erfolgte Anpassung der Formulierung und hält diese für nahtlos anschlussfähig an die bestehende, durch Rechtsprechung und Literatur gesicherte Auslegung des Anspruchs.

In Anbetracht der breiten Zustimmung im Beteiligungsprozess für eine Erweiterung des Kreises der Anspruchsinhaber auf alle Kinder und Jugendliche, bedauert die AGJ, dass die Anspruchsinhaberschaft allein für Jugendliche und nur dann erweitert wird, soweit es um eine außerhalb des Elternhauses erbrachte Hilfe zur Erziehung geht (Satz 2). Sie hätte sich für Kinder und Jugendliche unabhängig von der Hilfeart einen eigenen Rechtsanspruch gewünscht. Nichtsdestotrotz handelt es sich hierbei um einen Schritt zur Stärkung der Handlungsmöglichkeiten Jugendlicher. Im Fall eines Dissenses mit den Personensorgeberechtigten greift zwar deren Vetorecht nach § 36 Abs. 2 SGB I, es greifen aber auch die bewährten, konfliktvermittelnden Hilfeplanungsprozesse und die familiengerichtlichen Verfahren. Sowohl die durch die eigene Anspruchsinhaberschaft der Jugendlichen entstehende Initiativmöglichkeit zur Einleitung und Fortführung der Hilfe als auch die hieraus erwachsende Triebkraft für sozial-pädagogische Konfliktklärungsgespräche sind nicht zu unterschätzen.

Die  AGJ  bittet  unter  Nutzung  der  RefE-Begründung  klarzustellen,  ob  unter  dem Begriff „außerhalb des Elternhauses“ auch teilstationäre Hilfen (Tagesgruppe i.S.d. § 32 SGB VIII) fallen oder wirklich nur Hilfe erfasst ist, die über Tag und Nacht erbracht wird (Vollzeitpflege / Betreute Wohnform / Intensive sozialpädagogische Einzelfallhilfe i.S.d. §§ 33-35 SGB VIII).
Sie weist zudem darauf hin, dass diese Begrifflichkeit mit der in „Ergänzende Bestimmungen zur Hilfeplanung Hilfen außerhalb der eigenen Familie“ (§ 37c SGB VIII-RefE) auseinanderfällt.

4.2 Anspruchsgrundlage für Leistungen der Eingliederungshilfe (27 Abs. 3 bis 3b SGB VIII-RefE)

Die Neufassung der Anspruchsgrundlage für Leistungen der Eingliederungshilfe ist ganz offensichtlich mit viel Bedacht erfolgt. Entstanden ist jedoch eine Folge von Absätzen, deren Bestandteile durch Komprimierung noch deutlich verständlicher hervorgearbeitet werden sollten. Liest man die Regelung des Abs. 3 zusammen mit den denklogisch zu ihm gehörenden Vorschriften des § 7 Abs. 2 sowie Abs. 3a und 3b wird ersichtlich, dass die gleichen Begriffe doppelt oder gar dreifach genannt sind. Entgegen der guten Intention der Hervorhebung der bedeutsamen Regelungselemente verursacht dies Verwirrung.
Mit Blick auf die erforderliche Neufassung ist es der AGJ wichtig zu betonen,

  • dass sie sehr begrüßt, dass das BMFSFJ das Wesentlichkeitskriterium aus dem Gesetzestext herausnahm und versuchte, aus der Rechtsprechung deren Aussagen bezogen auf die Bedarfe junger Menschen abzuleiten. Die wiederholte Nennung der Wesentlichkeit in der RefE-Begründung passt dazu jedoch nicht und kann Rechtsstreitigkeiten provozieren, auch hier sollte der Verweis auf das Wesentlichkeitskriterium des § 99 SGB IX herausgenommen werden. Die AGJ weist darauf hin, dass ihr bewusst ist, dass die Aufnahme dieses Kriteriums unter Verweis auf das Herstellen einer Anschlussfähigkeit zu den Leistungen im Erwachsenenalter gefordert wird. Dieser Gedanke hat aus ihrer Sicht jedoch keine Priorität gegenüber dem für Kinder und Jugendliche geltenden Präventionsparadigma, das frühzeitig und auch bei drohender Behinderung ein Recht auf erforderliche Unterstützung verlangt. Eine Verzögerung kann gerade bei den dynamischen Entwicklungsverläufen Minderjähriger sehr nachteilige Folgen haben, deshalb ist auch in der Formulierung des Tatbestands darauf zu achten, möglichst wenig Zugangshürden aufzubauen. Das Präventionsparadigma für junge Menschen gilt bereits jetzt und dehnt den Anwendungsbereich für Unterstützungsleistungen im Vergleich zu Erwachsenen per se aus. Deshalb ermutigt die AGJ die Verantwortlichen, bezogen auf junge Menschen, trotz des Wegfalls des Wesentlichkeitskriteriums politisch keine Ausweitung des leistungsberechtigten Personenkreises bei jungen Menschen zu fürchten – es wird allen nur bewusster und belastende Rechtsstreitigkeiten werden vermieden.
  • dass auf die zusätzliche Definition der drohenden Behinderung in § 27 Abs. 3b verzichtet werden kann, da die Begriffsbestimmung des § 7 Abs. 2 S. 3 SGB VIII ausreicht.

Eine mögliche Formulierung könnte daher lauten:

  • „Abs. 3: Kinder oder Jugendliche mit Behinderungen oder mit drohenden Behinderungen im Sinne von § 7 Absatz 2 haben einen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange diese Leistungen nach der Besonderheit des Einzelfalles nach Maßgabe des Absatz 3a notwendig und geeignet sind, um ihnen entsprechend ihrem Alter und ihrer individuellen Fähigkeiten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe zu fördern und vorhandene Barrieren abzubauen. Die Leistung soll sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können.
    Abs. 3a: Maßgeblich für die Notwendigkeit der Leistungen der Eingliederungshilfe sind insbesondere die Wechselwirkungen der geistigen, seelischen, körperlichen oder Sinnesbeeinträchtigungen mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren im Einzelfall und deren konkrete Auswirkungen auf die Teilhabe der jungen Menschen an der Gesellschaft.“

Auch Menschen mit anderen geistigen, seelischen, körperlichen oder Sinnesbeeinträchtigungen, durch die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind, können Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten (§ 99 Abs. 3 SGB IX). Dieser Ermessensanspruch für diejenigen, unterhalb der Schwelle einer (drohenden) Behinderung sollte auch ins IKJHG aufgenommen werden.

4.3 Leistungsformen und zwei unterschiedliche offene Leistungskataloge

Die AGJ bewertet den parallelen Aufbau für Hilfe zu Erziehung (§§ 27a bis 35 SGB VIII-RefE) und Leistungen zur Eingliederungshilfe (§§ 35a bis 35i SGB VIII-RefE) als einen Schritt auf dem richtigen Weg. Auch hier hätte sich die AGJ den mutigen Schritt eines einheitlich- zusammenführenden Leistungskatalogs, der die bisherigen Kataloge aufgreift und ineinander verschränkt, gewünscht, kann aber die vorgeschlagene Lösung grundsätzlich mittragen. Obgleich es zunächst ungewohnt ist, dass Anspruchsnormen und die Vorgaben zu Leistungsformen und dem Leistungskatalog nicht unmittelbar aufeinander folgen, hält die AGJ systematisch den gewählten Aufbau für schlüssig und zwingende Folge der wichtigen, beide Anspruchsgrundlagen umschließenden Klammer (vgl. 4.1).

4.3.1 Leistungskatalog der Hilfe zur Erziehung (§§ 27a bis 35 SGB VIII-RefE)

Da der Leistungskatalog der Hilfe zur Erziehung bis auf die Streichung des Begriffs „Heimerziehung“ aus § 34 SGB VIII sich nicht geändert hat, ist der AGJ wichtig, nochmals eindringlich den Blick auf die bisher in der Zuständigkeitsspaltung verloren gegangenen Unterstützungsbedarfe von Eltern von Kindern mit Behinderung hinzuweisen:

Die ausdrückliche Aufnahme von „Familienunterstützenden Diensten“, die ambulant zur Entlastung oder Stärkung der Eltern oder Angebote für Geschwister erbringen, wäre ein bedeutsames Zeichen gegenüber der Praxis, diese Bedarfe aufzugreifen. Es ist beschämend und unzumutbar, dass sich Eltern von Kindern mit Behinderung diese bitter notwendige Entlastung bislang in der Regel nur über die sogenannte Verhinderungspflege und zusätzliche Betreuungsleistungen über die Pflegekassen finanzieren lassen können. Die gesetzliche Verankerung eines solchen Angebots hat sogar verfassungsrechtliche Relevanz, da die hohe Belastung, die mit der familiären Betreuung und Versorgung von Kindern gerade mit intensivem Pflegebedarf einhergehen kann, letztlich sogar das Aufwachsen in der Familie gefährden kann. Natürlich können im Rahmen des offenen Leistungskatalogs solche Hilfen erbracht werden – teils geschieht das auch, die Aufnahme in den Katalog wäre aber ein klares gesetzgeberisches Zeichen, dass solche Angebote als Teil des Standardportfolios jedes örtlichen Jugendhilfeträgers vorzuhalten sind. Sie würden gegenüber Eltern von Kindern mit Behinderung auch nochmals hervorheben, dass von Hilfe zur Erziehung keine Aberkennung ihrer Erziehungskompetenz droht, sondern sie eine Stärkung und Unterstützung mit sich bringt.

4.3.2 Leistungsformen und dem Leistungskatalog der Leistungen der Eingliederungshilfe (§§ 35a bis 35i SGB VIII-RefE)

Zu den Leistungsformen und dem Leistungskatalog der Leistungen der Eingliederungshilfe fallen der AGJ Aussagen in der Kürze der Stellungnahmefrist nicht leicht.

Sie regt zunächst an, mit Vertreter*innen der Eingliederungshilfe ins Gespräch zu gehen, ob die Bezeichnung als Leistungen zur Teilhabe von diesen getragen würde. Der Begriff gilt gem. § 4 SGB IX für alle Teilhabeleistungen der verschiedenen Rehabilitationsträger, wird als fortschrittlicher und besser auf die Wechselwirkung abstellend wahrgenommen.

Die AGJ begrüßt ferner, dass zur Erleichterung der Anwender*innen die Regelungen aus dem SGB IX weitgehend ins SGB VIII übertragen und damit dort les- und einfacher erfassbar gemacht werden, als dies ein alleiniger Verweis auf die Kap 9 bis 13 SGB IX-Teil 1 und Kap. 3 bis 6 SGB IX-Teil 2 ermöglicht hätte. Dass dieser Verweis ebenfalls aufgenommen ist (§ 35a Abs. 1 S. 1 2. HS SGB VIII-RefE), sichert zusätzlich ab. Als überflüssige Doppelung regt die AGJ jedoch an, § 35a Abs. 5 SGB VIII-RefE zu streichen, da dessen Wortlaut vollständig auch in § 35i Abs. 1 S. 1 aE und S. 2 HS SGB VIII-RefE enthalten ist und es sich um eine der in § 35a Abs. 3 SGB VIII-RefE als Leistungsart benannte Geldleistung handelt. Die AGJ regt hingegen an, nach der Aufzählung der Leistungsformen in § 35a Abs. 2 SGB VIII in einem weiteren Absatz mit vier Nummern ihre besonderen Aufgaben entsprechend § 90 Abs. 2 bis 5 SGB IX zu beschreiben.

Sehr wünschenswert fände die AGJ ein Erfassen auch von außerschulischen Bildungsangeboten im Geltungsbereichs der Leistungen zu Teilhabe an Bildung, das hält sie insbesondere mit Blick auf den Ausbau von Ganztagsangeboten in der offenen Form und die Bedeutung der außerschulischen Bildungsangebote der Jugendarbeit für wichtig  (§ 35d SGB VIII-RefE).

Den Erhalt und die Übernahme der Zuständigkeit der Komplexleistung Früherkennung und Frühförderung (§ 35c SGB VIII-RefE) ohne inhaltliche Änderungen und mit Verweis auf §§ 42 Abs. 2 Nr. 2 und 46 SGB IX unterstützt die AGJ ausdrücklich.
Die AGJ betont ihre eingangs gemachte Aussage, dass dem RefE-IKJHG nicht bestehende Umsetzungsprobleme zur Last gelegt werden können. Sie appelliert jedoch gegenüber den Landesregierungen, bei dieser Gelegenheit jedoch etwa den die Potentiale der Früherkennung und Frühforderung ausbremsenden fehlenden Abschluss von Landesrahmenvereinbarungen nach § 46 Abs. 4 SGB VIII anzugehen.

Den Bundesgesetzgeber weist die AGJ darauf hin, dass das IKJHG bzw. die dort erfolgte Übertragung von Leistungen für Bezugspersonen bei stationären Krankenhausaufenthalten (§ 35f Abs. 6 SGB VIII-RefE) auch als Impuls genommen werden kann und sollte, die langjährige Forderung der Selbstinteressenvertretung von Eltern von Kindern mit Behinderung und chronischen Erkrankungen aufzugreifen, Pflegegeld mehr als 28 Tage einer stationären Krankenhausbehandlung zu gewähren[6]. Auch wenn Eltern hier Pflegeleistungen übernehmen und ihre Kinder 24/7 betreuen, stoppt nach dieser Zeit das Pflegegeld und wirft die Familien in weitere, teils existenzielle Probleme. Eine Lösung wäre nicht im SGB VIII zu verorten, sondern müsste in § 34 Abs. 2 S. 2 SGB XI dadurch erfolgen, dass dort zumindest die Möglichkeit eingeräumt wird, individuelle Bedarfe und tatsächlich auch im stationären Kontext erbrachte Pflegeleistungen durch die Familie zu berücksichtigen.

4.3.3 Inklusive Erbringung

Die AGJ begrüßt den im RefE-IKJHG erkennbaren Willen, auf eine inklusive Erbringung von Hilfe zur Erziehung und Leistungen der Eingliederungshilfe hinzuwirken.

Sie fordert ergänzend, in § 27 Abs. 5 SGB VIII-RefE aber auch noch die Möglichkeit der Hilfekombination aufzugreifen, da nicht immer die Hilfeerbringung durch eine Stelle oder einen Träger sichergestellt werden kann. Hierdurch würden Kooperationen ermöglicht und angeregt. Aus Sicht der AGJ ist auch zu erwägen, schon an diese Stelle (in § 27 Abs. 5 SGB VIII-RefE) die erst später aufgeführten Kombinationsmöglichkeiten mit Leistungen aus dem gleichen Katalog sowie anderen Leistungen nach diesem Buch (§§ 27a Abs. 1 S. 2 und 35a Abs. 1 letzter HS SGB VIII-RefE) vorzuziehen.

Die AGJ ermutigt Träger, ihre Leistungen inklusiv zu öffnen, findet es aber auch wichtig, dass spezialisierte Einrichtungen und Dienste möglich bleiben, soweit diese für den Bedarf der jungen Menschen richtig sind – auch hier sind aber Überlegungen von Bedeutung, wie Teilhabe und Begegnung mit jungen Menschen ohne Behinderung ermöglicht werden kann (insofern gut: § 35a Abs. 4 S. 2 SGB VIII-RefE).

4.4 Hilfe für junge Volljährige, Beratungsansprüche von Eltern und Pflegepersonen

Für die AGJ ist es von großer Bedeutung, dass im Rechtsanspruch auf Hilfe für junge Volljährige sowie auf Nachbetreuung (§§ 41, 41a SGB VIII-RefE) nur die Verweisungen angeglichen wurden und diese damit – im Fall des Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen – auch jungen Volljährigen mit Behinderung offenstehen. Um dies gegenüber den umsetzenden Jugendämtern klarzustellen, drängt die AGJ darauf, dass in der Begründung ausdrücklich festgestellt wird, dass die inklusive Kinder- und Jugendhilfe nicht mit Erreichen der Volljährigkeit endet und auch junge Volljährige mit Behinderung einen Zugang zu Hilfe nach § 41 SGB VIII-RefE haben, wenn und solange ihre Persönlichkeitsentwicklung eine selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbständige Lebensführung nicht gewährleistet.

Die AGJ unterstützt die von Careleaver*innen eingebrachte Forderung, einen Rechtsstatus Leaving Care in den Begriffsbestimmungen des § 7 SGB VIII aufzunehmen, auf den in anderen Sozialleistungsbüchern zurückgegriffen werden kann. Dies wäre eine echte Entlastung für Careleaver*innen, die aus guten Gründen eine Kontaktaufnahme mit ihrem Elternhaus meiden. Die Zugehörigkeit zum Personenkreis könnte durch den zuletzt zuständigen örtlichen Träger der Jugendhilfe schriftlich bestätigt werden.

Auch begrüßt die AGJ, dass die durch das KJSG eingefügten eigenen Beratungsansprüche der Eltern sowie der Pflegepersonen (§§ 39, 39a SGB VIII-RefE) erhalten und nur nummerisch verschoben wurden.

4.5 Rechtsverordnung

Die Möglichkeit des Erlasses einer Rechtsverordnung zur Konkretisierung der Leistungsberechtigung löst in der Diskussion des RefE-IKJHG Unsicherheiten aus. Es wird befürchtet, dass diese „durch die Hintertür“ zu Leistungseinschränkungen führen könnte. Andererseits wird auch das Potenzial gesehen, durch eine Rechtsverordnung untergesetzlich für eine einheitliche Rechtsanwendung im Bundesgebiet zu sorgen, indem sie eine durch Rechtsprechung und Literatur gesicherte Auslegung in Fallgruppen zusammenfasst. Die AGJ sieht sich nicht in der Lage, die Reichweite der über § 27 Abs. 4 SGB VIII-RefE entstehenden Option bisher sicher einzuschätzen. Sie drängt darauf, die Anspruchsgrundlagen in § 27  Abs. 2 und 3 SGB VIII-RefE so abzufassen, dass es einer untergesetzlichen Konkretisierung nicht mehr bedarf (vgl. dazu insb. 4.2).

5 Hilfe- und Leistungsplanung

Die AGJ begrüßt die Vorschläge zur Hilfe- und Leistungsplanung im Großen und Ganzen als Weiterentwicklung der Verfahrensvorgaben. Sie findet es richtig, dass in diesen die bisher geltenden Regelungen zur Hilfeplanung sowie Gesamtplanung so verzahnt wurden, dass es einheitlich zu beachtende, aber auch spezifische Vorgaben bei behinderungsbedingten Teilhabebedarfen gibt.

5.1 Allgemeine Vorgaben

Obwohl die Umsortierung der Normen zunächst ungewohnt sein mag, findet die AGJ die Struktur schlüssig, erst die allgemeinen Vorgaben (§§ 36 bis 36d SGB VIII-RefE) aufzuführen und dann die ergänzenden besonderen Vorgaben für unterschiedliche Fallgruppen (außerhalb der eigenen Familie, § 37 SGB VIII-RefE / Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, §§ 38 bis 38d SGB VIII-RefE) zu nennen. Auch wenn so ein räumlicher Abstand zu Anspruchsnorm und Leistungskatalog entsteht und ein Weiterblättern im Gesetz erforderlich ist, ist diese Gliederung systematisch logisch.
Die AGJ bewertet es als gelungen, dass die Grundsätze der Hilfe- und Leistungsplanung übersichtlich benannt sind (§ 36 SGB VIII-RefE: Bestandteile / Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte / Beratung und Aufklärung in verständlicher, nachvollziehbarer und wahrnehmbarer Form / Prinzipien) und die gemeinsame Aufstellung des Hilfe- und Leistungsplans mit den Personensorgeberechtigten und jungen Menschen (§ 36a Abs. 1 SGB VIII-RefE) und auch die Berücksichtigung von Geschwisterbeziehungen (§ 36a Abs. 3 SGB VIII-RefE), die Mitwirkung von Leistungserbringenden und weiteren Akteuren (§ 36a Abs. 4 SGB VIII-RefE) betont ist. Sie betont, dass es in der Umsetzung darauf ankommen wird, das in der Kinder- und Jugendhilfe etablierte Verständnis einer Hilfe- und nun auch Leistungsplanung als ein zeitlich schon von der Bewilligung liegender Bestandteil der Hilfe/Leistung fortzuführen, da dieses ein dialogisches Aushandeln der bestmöglichen Gestaltung der Hilfe/Leistung als zentrales Kernelement jedes Unterstützungsprozesses mit sich bringt.

Sorge löst allerdings die Bestimmung des Hilfe- und Leistungsplans als Instrument der Steuerung und Wirkungskontrolle aus (§ 36a Abs. 2 SGB VIII-RefE). Dabei wird auch von Vertreter*innen der Leistungserbringung nicht in Frage gestellt, dass eine Überprüfung mit Blick auf die festgelegten Ziele wichtig ist. Insbesondere der Begriff „Wirkungskontrolle“ kann jedoch missdeutet und sollte gestrichen werden: Hilfen und Leistungen, die auf sozialer Interaktion aufbauen und prozesshaft verlaufen, sind keiner objektiven Messbarkeit zugänglich, sondern brauchen eine konsequente Nutzer*innen- und Adressat*innen- Orientierung.

Teils erregte Diskussionen löste die benannte zweijährige Obergrenze zur regelmäßigen Überprüfung aus, weil in der Kinder- und Jugendhilfe oft halbjährige Hilfeplangespräche üblich sind. Für die Leistungsberechtigten bedeutet die Hilfe- und Leistungsplanung eine wichtige Möglichkeit der Mitsprache, um Anpassungen herbeizuführen. Aus der Perspektive des Kinderschutzes sind diese eine Möglichkeit, Abhängigkeitsverhältnisse wahrzunehmen. Der AGJ ist bewusst, dass es sich um eine Übernahme aus dem SGB IX handelt, sie teilt aber die Sorge, dass die Normierung einer Obergrenze in der Praxis dazu führen könnte, sich an dieser als Standardrhythmus zu orientieren. Sie erkennt auch an, dass es in einem Teil der Fälle – möglicherweise auch noch stärker in dem hinzukommenden Teil der Leistungen der Eingliederungshilfe – bedarfsgerecht ist, die Bedarfsfeststellung für einen längeren Zeitraum zu treffen. Richtigerweise muss der individuelle Bedarf und prognostische Verlauf anstelle starrer Standardfristen entscheidend sein. Da trotz der Worte „spätestens nach“ eine Orientierung an den genannten zwei Jahren kaum zu vermeiden sein wird, rät die AGJ, wie bisher im SGB VIII keine Fristen und auch keine Obergrenze zu benennen. Da bei dynamischen Verläufen und Krisen, z. B. bei stationärer Unterbringung aufgrund erzieherischer Bedarfe, auch sehr, sehr kurz gewählte Abstände angezeigt sein können, ist eine Untergrenze zwingend abzulehnen.

Die AGJ lehnt ferner die Übernahme des § 119 Abs. 1 SGB IX ab. Sie hält es für dringend erforderlich, in einem zu ergänzenden Satz 1 festzustellen, dass die Durchführung einer Hilfe- und Leistungsplanungskonferenz die Regel sein soll. Zudem ist abzusichern, dass ein Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht gegen den Willen der Leistungsberechtigten auf eine Hilfe- und Leistungsplankonferenz verzichten und die rein schriftliche Ermittlung des Sachverhalts (§ 36b Abs. 1 SGB VIII-RefE) durchsetzen kann. Im Unterschied zu der (hier übernommenen) Regelung zur Gesamtkonferenz könnte auch eine Anlehnung an die Regelung zur Teilhabekonferenz (§ 20 Abs. 2 S. 2 SGB IX) erfolgen. § 36b Abs. 1 SGB VIII-RefE ist aus Sicht der AGJ zumindest so zu ergänzen, dass der Vorschlag auf Durchführung einer Hilfe- und Leistungsplankonferenz nicht abgelehnt werden darf, wenn Hilfe zur Erziehung oder Leistungen zur Teilhabe an Bildung, zur Beschäftigung oder zur sozialen Teilhabe beantragt werden.

Die AGJ begrüßt die Neuordnung ohne inhaltliche Veränderungen der Regelungen zur Steuerungsverantwortung, Selbstbeschaffung (§ 36c SGB VIII-RefE) und zur Zusammenarbeit beim Zuständigkeitsübergang (§ 36d SGB VIII-RefE). Damit keine Leistungslücke während des Übergangs entsteht, braucht es aber zudem eine Vorgabe der weitergeltenden Verantwortung des abgebenden Trägers, bis die Übernahme tatsächlich erfolgt ist. Diese könnte durch eine Kostenerstattungspflicht des verzögernden Leistungsträgers – vergleichbar § 89c SGB VIII – erreicht werden.

Die AGJ begrüßt zudem, dass am Prinzip der Leistungen zum Unterhalt sowie Krankenhilfe ohne inhaltliche Änderungen festgehalten wurde (§§ 39 c und 39d SGB VIII-RefE). Sie weist aber darauf hin, dass mit Blick auf die Schnittstelle zur Pflege gerade diskutiert wird, ob es eine Übertragung des Regelungsinhalts aus § 103 SGB IX braucht (zumal der Verweis in § 35a Abs. 1 S. 1 2. HS SGB VIII-RefE sich nicht auf diese Norm in Kap. 2 SGB IX-2. Teil erstreckt). Sie bittet, dazu Expert*innen zu befragen, was der AGJ selbst in Anbetracht der kurzen Stellungnahmefrist nicht möglich war. Es ist für die Praxis nachvollziehbar hervorzustellen, ob im Fall stationärer Unterbringungen Leistungen der Pflegeversicherung ergänzend zu beantragen sind oder diese von den Annex-Leistungen des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe umfasst sind.

5.2 Hilfe- und Leistungsplanung für Hilfen oder Leistungen außerhalb der eigenen Familie (§ 37 SGB VIII)

Die AGJ weist lediglich darauf hin, dass sich die gewählte Begrifflichkeit von § 27 Abs. 2 S. 2 SGB VIII-RefE unterscheidet (dazu bereits unter 4.1).

5.3 Hilfe- und Leistungsplanung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung (§§ 38 bis 38d SGB VIII)

Als sehr positiv möchte die AGJ hervorheben, dass bei der Bedarfsfeststellung bei Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung auf vorhandene Gutachten, ärztliche Stellungnahmen oder vergleichbare Bescheinigungen aufgebaut werden soll (§ 38a Abs. 1 SGB VIII-RefE). Diese Klarstellung bedeutet nicht nur für die jungen Menschen und ihre Familien ein enormes Entlastungspotential, sondern kann in Zeiten des Fachkräftemangels auch für eine Entspannung der für ihre Erstellung zuständigen Akteure sowie der Verwaltung sorgen.

Durch die Übernahme der Zuständigkeit auch für Eingliederungshilfeleistungen für Kinder und Jugendliche mit körperlicher oder geistiger Behinderung erschließt sich, dass als Personen, bei denen entsprechende Dokumente einzuholen sind, nicht wie bisher bei auf die Aufzählung des § 35a Abs. 1a SGB VIII aktuelle Fassung zurückgegriffen werden kann. Die AGJ würde aber eine Übernahme dieser Spezifizierung des zu beauftragenden Personenkreises bezogen auf Eingliederungshilfeleistungen für Kinder und Jugendliche begrüßen.

Der nachweisbare Mangel an jugendpsychiatrischer sowie kinder- und jugendpsychotherapeutischer Versorgung wird verschärft werden durch die sicher gut gemeinte, da Interessenkonflikte ausschließen sollende Regelung des § 38 a Abs. 2 S. 4 SGB VIII-RefE, wonach nicht die Person, welche die für die Bedarfsfeststellung erforderliche Stellungnahme abgab, auch mit der Leistungserbringung beauftragt werden soll. Die AGJ fordert daher jedenfalls für diesen Teilbereich eine ausdrückliche Ausnahme oder eine Öffnung der Vorgabe „Soweit es zur zügigen Deckung des Bedarfs nicht erforderlich ist, sollen die gewährten Leistungen…“.

6 Verfahrenslotsen

Die AGJ begrüßt die Entfristung des § 10b SGB VIII-RefE. Obgleich die Verfahrenslotsen großteils erst zum Jahreswechsel 2024 ihre Arbeit begannen, werden diese neuen Anlaufstellen schon jetzt als Erfolg bewertet.

Die AGJ heißt entsprechend gut, dass die Konstruktion der Verfahrenslotsen nicht verändert wurde. Der Umgang mit der Doppelfunktion birgt Herausforderungen, aus der Beratung der jungen Menschen und ihrer Bezugspersonen speisen sich aber wichtige Erkenntnisse für die Beratung des örtlichen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe. Die Ausweitung des individuellen Beratungsbereichs von Leistungen zur Eingliederungshilfe auf alle Leistungen zur Teilhabe und damit die Schnittstellen zu allen anderen Rehabilitationsträgern ist folgerichtig. Die AGJ regt aber mit Nachdruck an, den strukturellen Beratungsauftrag gegenüber dem Jugendamt wieder mit einer Berichtspflicht zu verbinden und so zu konkretisieren, dass dort auf die Belange und Perspektiven der Leistungsberechtigten zu fokussieren ist. Ohne eine solche Konkretisierung befürchtet die AGJ, dass dieser Aufgabenteil sonst trotz der Bezugnahme auf die Jugendhilfeplanung leerlaufen und strategisch zu wenig genutzt werden könnte. Anstelle eines halbjährigen kann auch ein (zwei-)jährlicher Abstand gewählt werden.

7 Leistungsvereinbarungsrecht

Die AGJ begrüßt die pragmatische Ausdehnung des Anspruchs auf Anerkennung als Träger der freien Jugendhilfe auf solche Leistungserbringer, die seit mind. 3 Jahren auf dem Gebiet der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderung tätig gewesen sind (§ 75 SGB VIII-RefE). Sie kann die Vorschläge zur Veränderung des Leistungsvereinbarungsrechts mittragen, vermisst aber wichtige Ergänzungen:

  • Im SGB IX-2. Teil sind ambulante Leistungen der Eingliederungshilfe schiedsstellenfähig. Der RefE-IKJG lässt dies entfallen. Im Beteiligungsprozess waren sich nach Wahrnehmung der AGJ alle Beteiligten einig, dass auch in der Kinder- und Jugendhilfe eine Schiedsstellenfähigkeit für ambulante Leistungen eingeführt werden sollte. Da das Fehlen einer solchen Regelung zur einer Schlechterstellung im Bereich der Eingliederungshilfe führt und über die Erweiterung der Schiedsstellenfähigkeit im SGB VIII Konsens besteht, drängt die AGJ auf die Eröffnung des Zugangs zu den Schiedsstellenverfahren für ambulante Leistungen (§ 78g SGB VIII).
  • Da RefE-IKJHG keine entsprechende Regelung zu § 124 Abs. 1 S. 4 SGB IX enthält, warnen Träger der Eingliederungshilfe verständlicherweise davor, dass dies für sie der Verlust einer für sie bedeutsamen Absicherung bedeutet, dass die Bezahlung tariflich vereinbarter Vergütungen sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen nicht zum Wettbewerbsnachteil wird. Hierfür ist noch eine Lösung im RefE-IKJHG zu finden (§ Abs. Abs. Abs. SGB).
  • Mit Nachdruck weist die AGJ erneut darauf hin, dass das Leistungsvereinbarungsrecht für eine kontinuierliche Bedarfsdeckung über dem Zeitpunkt des Systemwechsels hinaus ebenfalls große Bedeutung hat, aber wegen des starren Regelungsregimes des SGB IX aktuell zu enormen Brüchen führt. Beispielsweise im Bereich der Pflegefamilien lässt die teilweise dramatisch geringe Ausstattung nach einem Übergang in die Eingliederungshilfe (begleitende Fachdienste, Entlastung, Pflegegeld) eine qualitativ-gleichrangige Fortführung bislang bestehender Leistungsinhalte kaum zu und führt zu gravierenden Standardabsenkungen bei der Leistungserbringung nach dem Übergang. Verschärft wird die Problematik dadurch, dass im Vertragsrecht der Eingliederungshilfe (§ 123 Abs. 1 S.1 SGB IX) ausdrücklich festgehalten ist, dass zwingende Voraussetzung für jegliche Leistungsbewilligung ist, dass eine schriftliche Vereinbarung des leistungserbringenden (freien) Trägers mit dem örtlichen Träger abgeschlossen ist, in dessen Kommunalgebiet dieser angesiedelt ist. Hieran sind alle übrigen Träger der Eingliederungshilfe gebunden (Abs. 2 S. 1). Beides führt zu harten Abbrüchen, soweit keine bedarfsgerechte Anschlusshilfe in der Eingliederungshilfe gefunden wird. Gesetzgeberisch könnte dem damit begegnet werden, dass Leistungen nach SGB IX auch dann gewährt werden können, wenn eine Qualitäts-, Leistungs- und Entgeltvereinbarung nach SGB VIII abgeschlossen ist.

8 Kostenheranziehung

Die AGJ begrüßt grundsätzlich, dass der RefE-IKJH ein einheitliches Kostenheranziehungsrecht enthält. Die Ausdehnung der in der Kinder- und Jugendhilfe üblichen Kostenfreiheit ambulanter Leistungen auch auf ambulante Leistungen der Eingliederungshilfe hält die AGJ für eine entscheidende Verbesserung, die den jungen Menschen und ihren Familien zu Gute kommen wird. Die AGJ unterstützt, dass offenbar Regelungen gefunden wurden, die auch eine Reduzierung des Verwaltungsaufwands bedeuten. Details konnten in der kurzen Stellungnahmefrist durch die AGJ nicht erfasst werden. Sie nimmt zur Kenntnis, dass es Befürchtungen gibt, es könne zu einer Kostensteigerung und Kostenverschiebungen kommen.

9 § SGB § Abs. SGB Übergangsphase

Der RefE-IKJHG gibt ausdifferenzierte Übergangsregelungen vor. Die AGJ rät dringend, den Prozess über die Gesetzgebung hinaus vom Bund her mit begleitenden Maßnahmen zu unterstützen. Jenseits der bereits im Rahmen von „Gemeinsam zum Ziel“ beauftragten Forschungsprojekte werden sowohl rechtliche Auslegungs- und Ausführungshilfen zu den neuen Regelungen der 3. Reformstufe, praktische Handlungshinweise zu ihrer Umsetzung sowie Fortbildungsprogramme und fachliche Verständigungsformate zwischen den zusammenwachsenden Systemen gebraucht. Hierfür sind einerseits die überörtlichen Träger gem. § 85 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 4 und Nr. 8 SGB VIII gefordert, in Anbetracht des Umfangs der Reform wird aber andererseits auch Unterstützung von der Bundesebene gebraucht.

9.1 § SGB Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen, Fortgeltung von Leistungsbescheiden

Die Festlegung von Übergangsfristen ist für die Bewältigung des Übergangsprozesses von entscheidender Bedeutung und sichert die Bedarfsversorgung ab. Der AGJ erschließt sich bisher jedoch nicht, warum – jenseits der gerade genannten Länderöffnungsklausel – in § 109 SGB VIII-RefE unterschiedliche Termine genannt sind. Dies kann in der Praxis verwirren. Sie bittet um eine Begründung zur jeweiligen Wahl der Zeitpunkte, wenn an diesen so festgehalten werden soll.

9.2 Bestandsschutz für Familien von Kindern mit Behinderung hinsichtlich der Kostenheranziehung

Die Regelung des § 109 Abs. 5 SGB VIII-RefE ist eine Einlösung des politischen Versprechens an die Familien von Kindern mit Behinderung, dass niemand höhere Kostenheranziehungen befürchten muss.

 

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ 
Berlin, den 26./27. September 2024

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[1] Ansprechperson für dieses Positionspapier in der AGJ ist die auch für das Arbeitsfeld I „Organisations- Finanzierungs- und Rechtsfragen“ zuständige stellv. Geschäftsführerin: Angela Smessaert (angela.smessaert[at]agj.de).

[2] Vgl. auch angenommene Beschlussempfehlung des Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, BT-Drs. 19/28870, S. 5 ff.; Plenarprotokoll der 224. Bundestagssitzung v. 22. April 2021, S. 28418.

[3] Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ (2021-2025) zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, S. 99. 

[4] Vgl. Abschlussbericht des BMFSFJ Teil 1 (Beteiligungsprozess), Teil 2 (Untersuchungen nach § 108 Abs. 2 SGB VIII).

[5] Soweit richtiger Hinweis der Kritiker am mit der inklusiven Lösung verbundenen Begriff einer „Gesamtzuständigkeit unter dem Dach des SGB VIII“.

[6] Vgl. Petition von Simone Brugger, Bárbara Zimmermann (Kaiserinnenreich), Isa Nowak, Verena Niethammer (Wir Pflegen e.V.), Lara Mars (lavanja gGmbH) unter https://innn.it/mehrals28tage.