Bericht zur Online-Veranstaltung: "Wirtschaftspolitik meets Kinder- und Jugendhilfe. Wie das Europäische Semester die Interessen und Rechte junger Menschen berührt"
Das Europäische Semester als Instrument zur Abstimmung der Wirtschafts-, Fiskal- und Beschäftigungspolitik innerhalb der EU hat auf den ersten Blick nicht viel mit der Kinder- und Jugendhilfe zu tun. Doch dieser Eindruck täuscht – insbesondere seit der Proklamation der Europäischen Säule sozialer Rechte bietet das Europäische Semester einen Rahmen, um die Bemühungen der EU-Mitgliedstaaten zur Umsetzung der in der Säule verankerten Grundsätze und Rechte zu koordinieren und zu überwachen. Diese Grundsätze betreffen zum Beispiel die Bereiche Bildung, Chancengleichheit sowie die Betreuung und Förderung von Kindern und Jugendlichen. Damit hat das Europäische Semester zunehmend Einfluss auf die Belange junger Menschen und sollte entsprechend im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe thematisiert werden.
Zum Ende des diesjährigen Semester-Zyklus 2022 haben die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ und die National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention bei einer gemeinsamen Online-Veranstaltung für ihre Mitglieder beleuchtet, was das Europäische Semester ist, inwiefern es sich auf das Leben junger Menschen auswirkt und wo Anknüpfungspunkte für die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland oder auch kinder- und jugend(hilfe)politische Leerstellen sind. Durch die Veranstaltung „Wirtschaftspolitik meets Kinder- und Jugendhilfe“ am 20. Oktober 2022, an der rund 50 Interessierte teilnahmen, führten die Geschäftsführerin der AGJ, Franziska Porst, und die Geschäftsführerin des Netzwerks Kinderrechte, Franziska Breitfeld.
Begrüßung durch Prof. Dr. Karin Böllert
Die Vorsitzende der AGJ, Prof. Dr. Karin Böllert, begrüßte die Teilnehmenden und betonte, dass Fragen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen nicht ohne den Blick auf die europäische Ebene beantwortet werden könnten. In diesem Kontext seien diese Veranstaltung sowie das AGJ-Positionspapier „Kinder- und Jugendpolitik ist auch Querschnittspolitik! Junge Menschen in wirtschafts- und fiskalpolitischen Instrumenten auf EU-Ebene mitdenken“ (2022) Ausdruck des Anliegens der AGJ, die Relevanz von Europapolitik für die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland sichtbarer zu machen und die Konsequenzen der im Rahmen des Europäischen Semesters getroffenen Entscheidungen für junge Menschen ernst zu nehmen.
Ein Überblick zum Europäischen Semesterprozess
Saskia Laser, Referentin im Referat Wirtschaftspolitische Koordinierung der EU im Bundesministerium der Finanzen, stellte das Europäische Semester allgemein und den 2022-Zyklus im Besonderen vor. Angesichts des Binnenmarkts sowie der gemeinsamen Währungspolitik innerhalb der EU sei es das gemeinsame Interesse der EU-Mitgliedstaaten, ihre Wirtschaftspolitiken eng aufeinander abzustimmen. Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 bis 2012 seien Schwächen in der wirtschaftspolitischen Koordinierung zutage getreten. Um diesen entgegenzuwirken, stehe seit 2011 das Europäische Semester im Zentrum der wirtschaftspolitischen Koordinierung innerhalb der EU.
Im Anschluss erläuterte Frau Laser den jährlichen Ablauf des Europäischen Semesters. Der jährliche Zyklus starte jeweils im November des vorangegangenen Jahres mit der Veröffentlichung des Herbstpakets der Europäischen Kommission und ende offiziell mit der Annahme der länderspezifischen Empfehlungen durch den Rat der EU im Juli. Wegen der Corona-Pandemie sei dieser Ablauf im Jahr 2021 zugunsten der Aufbau- und Resilienzfazilität ausgesetzt und für das Jahr 2022 wieder aufgenommen worden. Eine Besonderheit des diesjährigen Zyklus sei, dass der Länderbericht und die länderspezifischen Empfehlungen zeitgleich veröffentlicht wurden und die ausgesprochenen Empfehlungen einen Fokus auf den Krieg in der Ukraine und die Energiekrise legten.
Das Europäische Semester – kinder- und jugend(hilfe)politisch gelesen
Als Mitglieder im Fachausschuss II „Kinder- und Jugend(hilfe)politik in Europa“ stellten im Anschluss Lea Sedlmayr, Referentin für Europäische Jugendpolitik beim Bayerischen Jugendring, und Dr. Frederike Hofmann-van de Poll, wissenschaftliche Referentin im Projekt „Arbeitsstelle Europäische Jugendpolitik“ beim Deutschen Jugendinstitut, das AGJ-Positionspapier „Kinder- und Jugendpolitik ist auch Querschnittspolitik! Junge Menschen in wirtschafts- und fiskalpolitischen Instrumenten auf EU-Ebene mitdenken“ vor. Das Papier war Ende September 2022 vom AGJ-Vorstand verabschiedet worden und legt eine kinder- und jugend(hilfe)politische Lesart des Europäischen Semesters vor.
Frau Dr. Hofmann-van de Poll erläuterte zunächst die kinder- und jugendpolitische Relevanz des Europäischen Semesters. Jugendpolitik dürfe nicht nur als Jugendsektorpolitik verstanden werden, sondern allgemein als eine Politik, die Auswirkungen auf das Leben junger Menschen habe. Darunter falle das Europäische Semester, da es zum einen Themen beinhalte, die für junge Menschen relevant seien, und zum anderen Themen, die das Leben junger Menschen unmittelbar beeinflussten, etwa Armutsbekämpfung und digitaler Wandel.
Danach kommentierte Lea Sedlmayr das Europäische Semester aus kinder- und jugendpolitischer Perspektive und stellte die im Positionspapier formulierten Forderungen zur Weiterentwicklung des Europäischen Semesters vor. Zu diesen Forderungen zählte u. a., dass die Auswirkungen der Politik in den einzelnen Themenbereichen des Europäischen Semesters auf Kinder und Jugendliche aufgezeigt, konkrete Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche in das Europäische Semester integriert, sowie Bezüge zu Jugendstrategien (EU und national) hergestellt werden sollten.
Auf der europäischen Ebene
Dr. Ally Dunhill, Head of Advocacy bei der europäischen Kinderrechtsorganisation Eurochild, deren Nationale Partnernetzwerke in Deutschland die AGJ und das Netzwerk Kinderrechte sind, konzentrierte sich im letzten Input auf die europäische Ebene. Dr. Dunhill unterstrich, dass Kinder und Jugendliche in der EU-Politik in den letzten zehn Jahren zunehmend berücksichtigt worden seien, insbesondere durch die Verabschiedung der EU-Kinderrechtsstrategie und der Europäischen Kindergarantie. Auch das Europäische Semester nehme zunehmend Bezug auf junge Menschen, bspw. durch die Integration der Europäischen Säule sozialer Rechte, unter der eins der Kernziele die Armutsbekämpfung auch und insbesondere unter jungen Menschen bis 18 Jahren sei.
Der diesjährige Schattenbericht zum Europäischen Semester von Eurochild, der seit 2015 jährlich erscheint, fokussiere ebenfalls auf das Thema (Kinder‑)Armutsbekämpfung sowie die Nationalen Aktionspläne zur Europäischen Kindergarantie. Der Bericht werde gerade erstellt und voraussichtlich im Dezember veröffentlicht. Der Einfluss der Zivilgesellschaft sei in diesem Kontext nicht zu unterschätzen, denn zivilgesellschaftliche Akteure könnten (und sollten) europaweit aktuelle Entwicklungen aufzeigen, auf die Bedeutsamkeit von Kinderrechten aufmerksam machen, EU-Mitgliedstaaten und EU-Institutionen auf Leerstellen hinweisen und Verbesserungen einfordern.
Diskussion
Die anschließende Diskussion konzentrierte sich zunächst auf die Frage, wie sich die Zivilgesellschaft angesichts der aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen – Corona-Pandemie, Krieg in der Ukraine, Energiekrise – organisieren und das Europäische Semester beeinflussen könnte. Dr. Ally Dunhill identifizierte Absprachen zwischen beteiligten Akteuren in der Zivilgesellschaft als Schlüssel einer wirkungsvollen Interessenvertretung für Kinder und Jugendliche. Wichtig sei, herauszufinden, wer in welchem Zusammenhang wie unterstützen könne, und entsprechende Kooperationen anzustrengen. Mit Blick auf das Europäische Semester erläuterte Saskia Laser, dass es angesichts der schieren Breite an Themen schwierig sei, allen Aspekten gerecht zu werden. Konkrete Ansatzpunkte zur Mitgestaltung des Europäischen Semesters gebe es einerseits in Deutschland bei der Entwicklung der Nationalen Reformprogramme, andererseits auf EU-Ebene. Die Rolle der Europäischen Kommission sei hierbei nicht zu unterschätzen; sie gebe die politischen Leitlinien und die Struktur der wegweisenden Berichte – bspw. Länderbericht und länderspezifische Empfehlungen – vor.
Zum Thema Kinder- und Jugendbeteiligung schilderte Susann Rüthrich, Kinder- und Jugendbeauftragte des Freistaates Sachsen, aus ihrer Perspektive, dass die große Herausforderung sei, als junger Mensch oder Akteur der Kinder- und Jugend(hilfe)politik auch „entfernte(re)“ Ebenen wie die europäische zu erreichen, um kinder- und jugendpolitische Belange zu stärken. Lea Sedlmayr stimmte insofern zu, als Teilhabe in der Regel über erprobte Kanäle gehe und ohne institutionalisierte und strukturierte Wege schnell an Grenzen stoße. Die Erkenntnis, dass politische Entscheidungen auch in anderen Bereichen als dem Jugendsektor Auswirkungen auf junge Menschen haben und entsprechende Beteiligungsmechanismen zu gewährleisten sind, sei daher essenziell.
Abschlussstatement durch Bianka Pergande
Die Sprecherin des Netzwerk Kinderrechte Bianka Pergande fasste abschließend zusammen, dass die Auswirkungen des Europäischen Semesters auf Kinder und Jugendliche auf der Hand lägen, aber kaum Erwähnung fänden. So würden die Themen Bildung und Betreuung beispielsweise im Europäischen Semester ausschließlich aus Arbeitsmarktperspektive betrachtet, ohne ihre Relevanz mit Blick auf die Ursachen, Auswirkungen und Bekämpfung von (Familien‑)Armut anzuerkennen. Zu denken gäben auch die Rückstände Deutschlands bei der Verwirklichung zweier Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDGs) der Vereinten Nationen. Hinsichtlich der Qualität der Bildung (SDG 4) und der Verringerung von Ungleichheiten (SDG 10) müsse dringend nachgebessert werden.
Ausblick
Insgesamt wurde im Laufe der Veranstaltung einmal mehr deutlich, dass EU-Politik häufig erklärungs- und übersetzungsbedürftig ist. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf Wirtschafts- und Fiskalpolitik, deren Verbindung zur Kinder- und Jugendhilfe nicht unmittelbar ersichtlich ist. Die AGJ und das Netzwerk Kinderrechte wollen diese Übersetzungsarbeit auch künftig durch weitere Veranstaltungen zu europäischen Themen unterstützen und relevante europapolitische Entwicklungen in die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland tragen. Dazu gehört auch, dass die AGJ und das Netzwerk Kinderrechte sowie das DKHW als weiteres deutsches Eurochild-Mitglied auch in diesem Jahr an Eurochilds Schattenberichterstattung zum Europäischen Semester mitwirken werden.
An dieser Stelle nochmal ein herzliches Dankeschön an unsere Referentinnen für die wertvollen Inputs sowie an unsere Mitglieder für das Interesse, die Teilnahme und Beteiligung!