Zwischenruf der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ Jugend in der Pflicht?!Engagement stärken statt Zwang einführen.[1]
Freiwilliger Wehrdienst, flexibler Wehrdienst, Wehrpflicht, mehr Reservist*innen, verpflichtendes Gesellschaftsjahr, professionelle Freiwilligenarmee, Werbeverbot für die Bundeswehr – all diese Vorhaben kursieren in den aktuellen Wahlprogrammen der demokratischen Parteien und wurden auch davor schon breit diskutiert, z. B. beim Vorstoß des Verteidigungsministers Pistorius zu einer Reform der Bundeswehr[2], Bundespräsident Steinmeiers Idee einer sozialen Pflichtzeit[3] oder mit Blick auf das im Mai 2023 im CDU-Grundsatzprogramm vorgeschlagene Gesellschaftsjahr.[4] Es zeigt sich, dass Debatten zu einem Pflichtdienst, sei es im Sozialen Bereich oder in der Bundeswehr, wieder Konjunktur haben – ungeachtet von möglichen rechtlichen Hürden einer Pflicht[5]. Argumentativ wird ein breites Spektrum an Gründen für Reformen in diesem Kontext aufgemacht: verschärfte Krisen und Konflikte auf der Welt und eine sogenannte Wehrhaftigkeit bzw. Kriegstüchtigkeit Deutschlands, die Sicherung der Demokratie auch in Europa sowie fehlende Ehrenamtliche und Fachkräfte im Sozialen Bereich sowie die Notwendigkeit, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ hält dem entgegen, dass nicht allein junge Menschen dafür da sind, gesamtgesellschaftliche Missstände und Krisen zu lösen und folglich auch nicht hierfür instrumentalisiert werden sollten. Hinzu kommt, dass junge Menschen an den ausschließlich sie betreffenden Diskussionen nicht beteiligt werden. Bereits gut funktionierende und etablierte Formate ehrenamtlichen Engagements, allen voran die Freiwilligendienste (Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ), Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ), Freiwilligendienstformate im Ausland sowie der Bundesfreiwilligendienst (BFD)), werden in der politischen Debatte ebenfalls nur unzureichend berücksichtigt und sind strukturell unterfinanziert. Diese aktuellen Entwicklungen nimmt die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ zum Anlass, sich mit der „Indienstnahme junger Menschen“ auseinanderzusetzen und dazu zu positionieren.
Junge Menschen sind engagiert und müssen nicht zum Dienst an der Gesellschaft gezwungen werden
Es ist ein wiederkehrendes Phänomen, dass über junge Menschen verfügt, ihr Leben über ihre Köpfe hinweg diskutiert und letztlich „verplant“ wird. Dies wird begleitet von starren Jugendbildern und Vorurteilen gegenüber einer vermeintlich nicht-engagierten und politikverdrossenen Jugend, die man zum gemeinwohlorientierten Engagement heranziehen muss, damit sie durch den verpflichtenden Dienst an der Gemeinschaft „etwas zurückgeben“ (was auch immer sie zuvor erhalten haben). Eine empirische Basis hat diese Argumentation nicht, denn das Engagement junger Menschen ist überdurchschnittlich: „48,2 Prozent der Heranwachsenden im Alter von 18 bis 21 Jahren und 46,2 Prozent der jungen Erwachsenen zwischen 22 bis 25 Jahren engagieren sich freiwillig. Insgesamt ist knapp die Hälfte aller 14- bis 25-Jährigen in Deutschland freiwillig engagiert. Die Engagementbeteiligung junger Menschen liegt damit über dem Bevölkerungsdurchschnitt von 43,6 Prozent.“[6] Der 17. Kinder- und Jugendbericht konstatiert insbesondere mit Blick auf das Engagement in Verbänden etc., dass „zwei Drittel der jungen Menschen […] sich gesellschaftlich ein[bringen], wobei der häufigste Bezugspunkt Organisationen und Verbände sind (64,2 %); es ist zudem eine Zunahme an Engagement in informelleren Gruppen zu erkennen (30,3 %)“.[7] Allerdings existieren ungleiche Zugangschancen im freiwilligen Engagement. So beeinflussen soziodemografische Faktoren wie Einkommen, Bildung, Erwerbsstatus, Migrationshintergrund, Alter und Behinderung, wer sich engagieren kann und wer nicht. Der Weg ins Engagement ist derzeit nicht barrierefrei; Engagement muss man sich leisten können. Damit alle jungen Menschen von Freiwilligendiensten profitieren und an ihnen teilhaben können, müssen diese besser und inklusiv ausgestaltet sein sowie höher entgolten werden.
Klar ist also, dass junge Menschen sich bereits stark in dieser Gesellschaft engagieren und einbringen – und dies ganz ohne Pflicht. Einer Pflichtdienstdebatte kann schon anhand dieser Befunde eine klare Absage erteilt werden. Der Staat kann seinen Bürger*innen kein Engagement verordnen. Ermöglichung von sowie Anerkennung und Wertschätzung für ehrenamtliches Engagement und nicht Zwang und Dienstpflicht führen zu mehr Solidarität – und zwar unter allen Menschen, egal welchen Alters. Ein Pflichtdienst ist zudem ein immenser Eingriff in die Freiheitsrechte junger Menschen und in ihre individuelle Lebensplanung. Freiwilligkeit und Selbstbestimmung sind die Basis für erfolgreiches Engagement.
Freiwilligendienste als Form des Engagements fördern und stärken
Freiwilligendienste sind ein bewährtes und gutes Angebot für das Engagement und die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen. Dieses Angebot gilt es zu sichern, weiterzuentwickeln und zu fördern. Alljährlich entscheiden sich bis zu 100.000 junge Menschen dazu, einen meist einjährigen Freiwilligendienst zu machen, d. h. ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ), einen Bundesfreiwilligendienst (BFD) oder ein freiwilliges ökologisches, politisches oder kulturelles Jahr im Inland. Auch internationale Freiwilligendienste über die Internationalen Jugendfreiwilligendienste (IJFD) „weltwärts“ oder „kulturweit“ oder den Europäischen Solidaritätskorps (ESK) sind gefragt. Ein Freiwilliger Wehrdienst kann von jungen Menschen ebenso gewählt werden. All diese Dienste haben unterschiedliche Rahmenbedingungen. Nachdem pandemiebedingt einige der Dienste im Ausland rückläufig waren, bleibt die Zahl der jungen Menschen, die im Inland einen Dienst machen, konstant. Insgesamt müssen hier die Unterrepräsentation und die Zugangsbarrieren für bestimmte Gruppen benannt werden, die es zukünftig zu verbessern gilt, damit überhaupt alle jungen Menschen einen Zugang zu einem Freiwilligendienst haben. Zu nennen sind hier Hürden, die durch das fehlende Wissen über und die fehlende Bewerbung von Diensten entstehen, sowie Rahmenbedingungen (Aufwandsentschädigung, Wohnen, Verpflegung, Kosten für An- und Abreise etc.), die jungen Menschen einen Dienst erschweren. Das Potenzial von Freiwilligendiensten wird nicht hinreichend ausgeschöpft und nicht alle jungen Menschen haben einen Zugang zu Freiwilligendiensten. Die Forderung eines Rechtsanspruchs auf einen Freiwilligendienst und die Vision 2030[8] setzen hier an. Bessere Rahmenbedingungen sichern die Dienste, haben die Zielgruppenerweiterung im Blick und unterbreiten Vorschläge für eine veränderte Finanzausstattung (Freiwilligengeld auf BaföG-Niveau sowie Beratung aller jungen Menschen).
Forderungen
Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ leitet hieraus folgende Forderungen ab:
Alle Dienste für alle Altersgruppen bewerben
Die Debatte um Dienste aller Art und gesellschaftliches Engagement darf sich nicht auf junge Menschen beschränken, soweit es sich dabei nicht um speziell auf junge Menschen ausgerichtete Jugendfreiwilligendienste handelt, sondern muss sich an alle Menschen richten. Im Sinne der Generationengerechtigkeit sollten alle Altersgruppen in den Angeboten und Möglichkeiten für freiwilliges Engagement mitgedacht und adressiert werden. Zudem müssen bei der Bewerbung von Diensten alle Dienste beworben werden und die Werbung für einen Wehrdienst darf – wie auch das Fakultativprotokoll[9] zur UN-Kinderrechtskonvention besagt – sich nicht an Minderjährige richten.
Junge Menschen müssen sich frei entscheiden können
Junge Menschen müssen frei entscheiden können, ob und wie sie sich in formalisierten oder freieren Kontexten engagieren wollen, was sie in verschiedenen Lebensphasen tun und wie sie Übergänge gestalten. Dazu brauchen sie sowohl Informationen sowie Unterstützungs-angebote und individuelle Beratung zur Entscheidung als auch eine gute Begleitung in den verschiedenen Phasen. Um sich frei entscheiden zu können, müssen Zugangsbarrieren abgebaut werden und allen jungen Menschen alle Angebote offenstehen.
Alle Dienste müssen freiwillig sein
Es darf keine Pflicht zum Engagement geben – für niemanden! Junge Menschen engagieren sich bereits freiwillig auf vielfältige Weise und bringen sich mit ihren Ideen und Forderungen in die Gesellschaft und Politik ein. Sie stehen für sich, aber vor allem auch für andere ein. Sie sind Freiwilligendienstleistende, sind in Verbänden oder informell engagiert. Sie übernehmen Verantwortung und entscheiden selbstbestimmt, ob, wo und wie sie sich engagieren. Diese selbstbestimmte Entscheidung ist die Voraussetzung für das Erleben von Selbstwirksamkeit. Manche brauchen dabei Orientierung und Unterstützung, die sie durch das Elternhaus oder andere familiäre Kontexte oder durch die Kinder- und Jugendhilfe erhalten, aber engagiert sind sie längst.
Rechtsanspruch auf Freiwilligendienst verwirklichen
Wo ein Rechtsanspruch auf einen Freiwilligendienst besteht, garantiert der Anspruch dessen Durchführung. Denn jeder Mensch, der eine Dienst leisten will, sollte die Möglichkeit dazu bekommen. Die AGJ schließt sich den Forderungen der Vision 2030[10] an. Neben der Garantie, einen Freiwilligendienst machen zu können, müssen auch andere Engagementformen außerhalb von Diensten jungen Menschen zugänglich sein und dies unterstützt werden, sei es in Jugendverbänden oder in informelleren Settings in Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit. Dieses Engagement, das über ein Jahr hinaus geht, ist nachhaltig wirksam und sollte ebenso mit guten Rahmenbedingungen und einer guten Ausstattung unterstützt werden.
Junge Menschen müssen an der Diskussion beteiligt sein
Junge Menschen müssen an der Debatte über freiwillige und verpflichtende Dienste sowie deren Ausstattung und Rahmenbedingungen beteiligt werden, denn sie sind aktuell die Hauptbetroffenen dieser Diskussionen und Gestalter*innen der Zukunft; sie haben hier relevante Meinungen und Wissen. Einmal wieder über ihre Köpfe hinweg ihre Lebensweisen bestimmen zu wollen, statt ihr Engagement anzuerkennen und wertzuschätzen, schafft Frustration und baut Hürden da auf, wo Mitbestimmung und angemessene Ausstattung der Dienste die Chancen auf ein selbstbestimmtes Engagement für alle erhöhen könnten.
Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 19. März 2025
[1] Ansprechperson für diesen Zwischenruf ist in der AGJ die zuständige Referentin des Arbeitsfelds V „Jugend, Bildung, Jugendpolitik“: Eva-Lotta Bueren (eva-lotta.bueren[at]agj.de)
[2] www.bmvg.de/de/aktuelles/minister-pistorius-stellt-neuen-wehrdienst-vor-5791920.
[3] www.bundespraesident.de/DE/bundespraesident/schwerpunkte/soziale-pflichtzeit/soziale-pflichtzeit_node.html
[4] www.home.cdu.de/artikel/mach-mal-was-neues
[5] www.bundestag.de/resource/blob/407368/43df3ffead238bcb3419889beece932d/wd-3-371-07-pdf-data.pdf
[6] BMFSFJ (2017): Freiwilliges Engagement junger Menschen. Sonderauswertungen des Vierten Deutschen Freiwilligensurveys (S. 11). Abrufbar unter: www.bmfsfj.de/resource/blob/119820/b06feba2db2c77e0bff4a24662b20c70/freiwilliges-engagement-junger-menschen-data.pdf
[7]BMFSFJ (2024): 17. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lage junger Menschen und die Bestrebungen und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (S. 64). Abrufbar unter: www.bmfsfj.de/resource/blob/244626/b3ed585b0cab1ce86b3c711d1297db7c/17-kinder-und-jugendbericht-data.pdf
[8] Die Ziele der Vision 2030 verschiedener Verbände sind hier zu finden: www.rechtauffreiwilligendienst.de/
[9] Vereinte Nationen (2000): Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten vom 25. Mai 2000. Abrufbar unter: www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/optional-protocol-convention-rights-child-involvement-children