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Zwischenruf der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Für eine politikfeldübergreifende und multidimensionale EU-Kinder- und Jugendpolitik – auch angesichts politisch und finanziell veränderter Bedingungen![1]

 

Die EU-Kommission ist mit veränderten politischen Schwerpunktsetzungen in ihre neue Amtszeit gestartet. In den laufenden Verhandlungen um die Ausgestaltung des mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) zeichnen sich größere Veränderungen mit Konsequenzen auch für die kinder- und jugendpolitisch relevanten EU-Programme ab. Diese Entwicklungen nimmt die AGJ zum Anlass, um mit diesem Zwischenruf auf die Notwendigkeit einer EU-Politik für junge Menschen hinzuweisen, die deren vielfältigen Bedarfe und Lebensrealitäten in verschiedenen Lebensphasen in allen Politikbereichen berücksichtigt und ihnen wirkliche, qualitativ-hochwertige Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen ermöglicht.[2]

Der andauernde Krieg Russlands gegen die Ukraine und die militärische Eskalation im Nahen Osten werfen grundlegende Fragen nach Stabilität und Sicherheit in Europa auf. Wachsende Armut, wirtschaftliche Unsicherheit sowie soziale Ungleichheit sorgen in Anbetracht der gleichzeitig zu meisternden vielfältigen Transformationsprozesse für eine zunehmende Spaltung der europäischen Gesellschaft. Die Herausforderungen und Folgen des Klimawandels beschäftigen und belasten die Menschen in Europa in wachsendem Maße. Entgegen der Hoffnung, dass sich vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen solidarische Strategien hervortun könnten, nehmen populistische und demokratie- und menschenfeindliche Tendenzen in Europa zu, die zudem die multilaterale Zusammenarbeit gänzlich in Frage stellen. Demokratische Strukturen geraten in vielen Mitgliedsstaaten unter Druck, gleichzeitig wird der Raum für zivilgesellschaftliches Engagement enger – besonders für junge Menschen.[3]

Aktuelle Berichte zeigen, dass diese Entwicklungen das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in der EU prägen. Zu den in den Berichten besonders hervorgehobenen Themen zählen Armut, Ausgrenzung, Belastungen der psychischen Gesundheit, schlechte Umweltbedingungen, die Auswirkungen digitaler Technologien auf das Leben und die Gesundheit von jungen Menschen und die zukünftige Arbeitswelt der jungen Generationen. Zudem haben viele junge Europäer*innen mit Problemen wie Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und finanzieller Abhängigkeit zu kämpfen und blicken sorgenvoll auf den Krieg in der Ukraine, den Klimawandel und den sozialen Zusammenhalt in Europa.[4]

Die Europäische Union hat aus Sicht der AGJ eine besondere Verantwortung, die aktuellen Transformationsprozesse in Europa und weltweit unter Berücksichtigung der vielfältigen Lebenssituationen und Belange der jüngeren Generationen mitzugestalten. Sie sollte durch ihre Politik Perspektiven für junge Menschen schaffen und ihre soziale und politische Teilhabe für ein weltoffenes, solidarisches und gerechtes Europa der Zukunft stärken. Mit der Entwicklung des neuen mehrjährigen Finanzrahmens der EU ist jetzt der Zeitpunkt wesentlicher Weichenstellungen für langfristige politische Entwicklungen. Diese betreffen junge Menschen überall in Europa in europäischen und nationalen Politikfeldern.

1. Die politische Ausrichtung der neuen EU-Kommission: Chancen und Herausforderungen für die Jugendpolitik

Ursula von der Leyen ist als Präsidentin der Europäischen Kommission mit einem strategischen Plan für eine konzeptionelle Stärkung und Neuformierung der EU-Politik wiedergewählt worden. Vor dem Hintergrund der Einschätzung, dass sich Europa in einer Zeit der schnellen Transformationen, der Bedrohung und großen Instabilität und Unsicherheit befindet, hat von der Leyen für die Legislaturperiode 2024-2029 einen politischeren und leitliniengesteuerten („policy driven“) Kurs der Kommission zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, Sicherheit, Preparedness und Resilienz der EU in allen Politikbereichen gesetzt. Durch Investitionen in digitale Innovationen, Forschung und Entwicklung soll die EU in ihrer globalen wirtschaftlichen Position gestärkt werden.[5] Die EU soll widerstandsfähiger gegenüber Krisen (Pandemien, Klimawandel, geopolitischer Instabilität) werden. Dabei geht es um die Stärkung ziviler und militärischer Mechanismen, um in Zukunft schneller und gezielter auf Bedrohungen reagieren zu können, sowie um die Förderung sozialer Gerechtigkeit, Chancengleichheit und guter Arbeitsmöglichkeiten. Damit ist auch gemeint, dass sich die EU mit Blick auf ihre Werte und die demokratischen und rechtsstaatlichen Wesensmerkmale ihrer Mitgliedsstaaten gegenüber autokratischen und autoritären globalen Playern bewähren muss.

Die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe – AGJ sieht in der mehr „policy-driven“, also einer politischen und stärker leitlinienorientierten Steuerung der EU-Politik grundsätzlich eine Chance. Zu begrüßen ist auch die Einführung eines neuen Gremiums der EU-Kommission, des Youth Advisory Boards, über welches die Perspektiven junger Menschen stärker in die Arbeit der Kommission einfließen sollen. Ob allerdings die vielfältigen Belange und Perspektiven von Kindern und Jugendlichen in der zukünftigen Politik der Europäischen Union durch diesen Politikansatz besser berücksichtigt werden und es gelingt, jungen Menschen ein Aufwachsen in einem sozial gerechten, demokratischen und weltoffenen Europa zu ermöglichen, hängt von der Berücksichtigung der Perspektiven junger Menschen bei der konkreten Ausgestaltung der EU-Sozialpolitik ab. Hier ist es entscheidend, wie die politischen Ziele untereinander in Bezug gesetzt werden, welches Gewicht ihnen verliehen wird und wie ernsthaft junge Menschen bei der Formulierung übergeordneter politischer Strategien und Ziele mitgedacht und auch an deren Entwicklung beteiligt werden.

Die AGJ befürchtet mit Blick auf die neu gesetzten politischen Ziele der Kommission, dass junge Menschen vor allem in Bezug auf ihre individuelle Resilienz und Beschäftigungsfähigkeit vor dem Hintergrund des Ziels einer gesteigerten Wettbewerbsfähigkeit und Stabilität Europas mitgedacht werden, während andere wichtige Aspekte und die Eigenständigkeit der Kinder- und Jugendpolitik drohen, vernachlässigt zu werden.

2. Die neuen Kommissar*innen und die Aufteilung jugendrelevanter Themen

Die Aufteilung der Zuständigkeiten für die verschiedenen politischen Bereiche in der Europäischen Kommission wurden unter der erneuten Führung von Ursula von der Leyen verändert. In ihren politischen Leitlinien hat die Kommissionspräsidentin die Notwendigkeit betont, verschiedene Ressorts aufeinander abzustimmen. Auch die unterschiedlichen Ressorts, die für Kinder- und Jugendpolitik zuständig sind, sollen dafür enger miteinander kooperieren. Sollte dies tatsächlich geschehen, könnte hier eine Chance für eine stärker ressortübergreifende Politik unter der Berücksichtigung der Belange junger Menschen liegen. Die AGJ begrüßt, dass sich die neue EU-Kommission auch in einigen anderen Politikfeldern, z. B. Wohnungsbaupolitik oder Armutsbekämpfung, explizit und schwerpunktmäßig der Zielgruppe junger Menschen widmen möchte. 

Aber die Fragmentierung wirft auch Fragen auf. Denn je nach Einbettung in unterschiedliche Politikbereiche werden auch die verschiedenen für junge Menschen besonders relevanten Themen eine spezifische inhaltliche Färbung erhalten. So zeigt besonders die getrennte Zuständigkeit für Jugend und Bildung eine klare Tendenz hin zu einer starken Fokussierung auf formale Bildung und Kompetenzerwerb. Der für Bildung zuständigen Kommissarin, Roxana Mînzatu („People, Skills and Preparedness“), hat von der Leyen die Aufgabe der Stärkung des europäischen Humankapitals übertragen. Das Ziel einer besseren Integration junger Menschen in den Arbeitsmarkt soll über die Förderung von Mobilität und beruflicher Qualifikation voraussichtlich über eine Stärkung des Erasmus+-Programms erreicht werden. Glenn Micallef, der für Jugend und Generationengerechtigkeit zuständige Kommissar, soll sich vor allem um die Umsetzung der Instrumente der EU zur Beteiligung und Berücksichtigung von jungen Menschen und ihren Belangen (Jugenddialog, Jugendcheck, Youth Advisory Board der Kommission) kümmern. Hier entsteht der Eindruck eines sehr formal gedachten Begriffs von politischer Beteiligung. Die Förderung von Erfahrungsräumen und nicht-formalen Strukturen, in denen junge Menschen Selbstwirksamkeit erleben und demokratische Kompetenzen erlernen können, werden in seiner Mission nicht benannt. 

Europa spielt eine wesentliche Rolle dabei, die Perspektiven junger Menschen zu erweitern, ihnen Räume für selbstbestimmtes Aufwachsen und eigenständige Persönlichkeits-entwicklung zu ermöglichen, ihr demokratisches Bewusstsein zu fördern und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Der Erwerb von Kompetenzen, die auf die Ermöglichung der Teilhabe am gesellschaftlichen und demokratischen Leben zielen, findet besonders im Rahmen non-formaler Bildung in den vielfältigen Formen von Youth Work statt. Dies ist angesichts der Zunahme von Populismus, Demokratie- und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit von zentraler gesellschaftlicher Bedeutung – besonders vor dem Hintergrund der globalen Krisen und der Konflikte innerhalb der EU. Die AGJ sieht durch das Auslagern der non-formalen Bildung aus der Bildungspolitik eine problematische Verengung des Bildungsbegriffs auf formale Bildung.Die AGJ ist der Ansicht, dass Kinder und Jugendliche nicht nur der Förderung im Hinblick auf Kompetenzen und Arbeitsmarktpassfähigkeit bedürfen, sondern auch Strukturen und Räume brauchen, in denen sie gleichberechtigte und wirkungsvolle Beteiligung erleben, sich selbstbestimmt entwickeln können, um sich die Welt anzueignen und ihre eigene Zukunft gestalten zu können.Die AGJ sieht die Gefahr, dass junge Menschen in der künftigen EU-Politik in erster Linie mit Blick auf ihre individuelle Mobilität und Kompetenzentwicklung zur beruflichen Qualifizierung – also im Sinne der Ziele einer individuellen Beschäftigungsfähigkeit sowie einer gesteigerten Wettbewerbsfähigkeit Europas – mitgedacht werden könnten und andere entscheidende Dimensionen der Kinder- und Jugendpolitik aus dem Blick geraten.

Von der Leyen hat sowohl in ihren Leitlinien als auch in den Mission Letters an die neuen Kommissar*innen betont, dass die Kommission die Perspektiven junger Menschen stärker in ihre politischen Entscheidungen einfließen lassen möchte. Mit dem neu geplanten Youth Advisory Board der Kommission wird dieses Ziel unterstrichen. Die AGJ sieht es als dringend notwendig an, dass die Mitwirkung des Youth Advisory Boards inhaltlich und funktional klar ausdefiniert und mit ausreichend Entscheidungskompetenz und Ressourcen ausgestattet wird. Jugendverbände und -ringe, insbesondere aber auch die Arbeitsfelder von Youth Work, sollten strukturell an diesem Gremium beteiligt sein. 

Mit der Umsetzung der der Europäischen Säule sozialer Rechte (EPSR) und dem Europäischen Bildungsraum (EEA) hat die zuständige Kommissarin Roxana Mînzatu zwei Schlüsselbereiche in ihrer Zuständigkeit, die die Belange junger Menschen in der EU, aber auch in nationalen Politiken auf vielfältige Weise betreffen. Mit dem Europäischen Sozialfonds+ (ESF+) als wichtigstem Finanzierungs- und damit Förderinstrument der EU für Investitionen in Maßnahmen und Projekte der Mitgliedsstaaten, die gerade junge Menschen und ihre Familien bei der Bewältigung wirtschaftlicher und sozialer Herausforderungen unterstützen[6], steht in der Verhandlung um den MFR ein zentrales Finanzierungsinstrument auch für deutsche Jugendhilfestrukturen zur Disposition. Förderziele sind hier explizit Chancengleichheit, soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe, wie sie in der EPSR verankert sind. Diese sozialen Rechte können besonders für junge Menschen nicht ausschließlich über den Zugang zum formalen Bildungssystem und zum Arbeitsmarkt hergestellt werden. Die AGJ sieht die Gefahr, dass die für sich bedeutenden Ziele der Förderung von sozialer Teilhabe, Chancengleichheit und der Bekämpfung von Diskriminierung durch die inhaltliche Verknüpfung mit den Zielen formaler Bildung und Arbeitsmarktintegration innerhalb der Kommission und in den derzeitigen Zielsetzungen der EU vernachlässigt werden könnten. 

Aspekte, die die Digitalisierung berühren, werden in den unterschiedlichen Mission Letters mit Blick auf junge Menschen entweder positiv – als ein für die berufliche Qualifikation wichtiger Bereich des Kompetenzerwerbs – oder negativ – als Problem des Schutzes von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt oder gesundheitlichen Schäden durch übermäßige Bildschirmnutzung etc. – thematisiert. Welche Rolle die Digitalisierung und Soziale Medien für junge Menschen, ihre Selbstpositionierung, die Demokratie oder die politische Bildung spielen, wird so gut wie nicht thematisiert. Digitalisierung als ein Transformationsfeld, das alle Bereiche unserer Gesellschaften umfasst in einem klaren Bezug zur bestehenden Grundrechte-, Antidiskriminierungs- und Sozialpolitik der EU stehen. Gleichzeitig sieht die AGJ es als besonders wichtig an, dass die transformativen Prozesse unter besonderer Berücksichtigung der Belange junger Menschen gestaltet werden.

Zwar hat Ursula von der Leyen sich für die kommende Legislaturperiode eine stärkere interne Zusammenarbeit innerhalb der Kommission bei jugendpolitischen Themen zum Ziel gesetzt, doch vor dem Hintergrund einer stärkeren Aufsplittung der Themen zwischen den einzelnen Generaldirektionen wird es eine große Herausforderung sein, eine ganzheitliche Kinder- und Jugendpolitik zu entwickeln, die die Vielfalt der Lebensrealitäten junger Menschen berücksichtigt. Dafür müssen aus Sicht der AGJ die Förderung von Demokratie, Grundrechten, Solidarität und sozialer Gerechtigkeit mindestens gleichwertig in den Mittelpunkt des gemeinsamen jugendpolitischen Fokus der EU-Kommissar*innen gestellt werden. Die AGJ fordert, dass hierfür die bestehenden Barrieren innerhalb der Kommission abgebaut werden, eine ganzheitliche Sichtweise auf die Bedürfnisse junger Menschen eingenommen und in die Arbeit aller politischen Ressorts auf EU-Ebene einbezogen wird.

3. Der mehrjährige Finanzrahmen (MFR) und der Umbau der EU-Programme

In der aktuell stattfindenden Aushandlung des MFR werden die haushaltspolitischen Grundlagen, also die finanziellen Mittel für die verschiedenen Programme und Initiativen der Europäischen Union für den Zeitraum 2028-2034 festgelegt. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass der neue MFR umfassend umgestaltet werden soll. Dem liegen zunächst einmal pragmatische Überlegungen angesichts knapperer finanzieller Ressourcen der EU in einem sich rasch ändernden globalen Umfeld zugrunde. Begründet wird die Umstrukturierung außerdem mit einer stärkeren Ausrichtung der EU-Politik und ihrer Finanzierungsinstrumente an den eingangs genannten strategischen Zielen. Demnach bestehen Überlegungen, die vielen einzelnen spezifischen Programme unter dem Dach weniger Funds zusammen-zufassen. Diese Umgestaltung kann auch zu tiefgreifenden Änderungen in den für Kinder und Jugendliche besonders zentralen EU-Politik- und Finanzierungsinstrumenten führen. Die AGJ sieht eine Gefahr, dass im Rahmen dieser Umgestaltung bestimmte Förderkriterien und inhaltliche Programmprioritäten, die für junge Menschen und ihre Familien, für Jugendorganisationen und -ringe und Youth Work von hoher Relevanz sind, verloren gehen oder bisher zentrale Förderziele auf einzelne Aspekte reduziert werden könnten.

Es zeichnet sich bereits jetzt ab, dass Erasmus+ im Sinne einer Förderung des Erwerbs von arbeitsmarktrelevanten Kompetenzen (von jungen Menschen) weiter gestärkt werden soll. Ob der Bildungsbereich „Jugend“ in Erasmus+ für sich bestehen bleibt das Programm Erasmus+ also solches selbst erhalten bleibt, oder z. B. in einen größeren Fund integriert wird und welche finanziellen Schwerpunkte über die neue Förderperiode gelegt werden, ist noch nicht absehbar. Die Aufsplittung von Erasmus+ in einen Bereich Bildung und einen Bereich Jugend ist zweischneidig. Es könnte einerseits eine Chance sein, auf diese Weise eine eigen-ständigere europäische Politik für Kinder- und Jugendliche zu etablieren. Durch die Splittung besteht aus Sicht der AGJ jedoch auch die Gefahr einer strategischen Schwächung des Jugendbereichs. Junge Menschen benötigen ein starkes und eigenständiges Erasmus+-Programm.

Eine hohe Relevanz für junge Menschen hat zudem das Europäische Solidaritätskorps (ESK). Das ESK konzentriert sich auf die Finanzierung von sozialem Engagement und Freiwilligen-diensten und erfüllt aus Sicht der AGJ die Funktion der Förderung von Zivilgesellschaft, sozialen Kompetenzen, interkulturellem Austausch, sozialem Zusammenhalt und Werten wie Solidarität und Weltoffenheit über Formate des non-formalen Lernens innerhalb von Youth Work. Beide Programme – Erasmus+ Jugend und ESK – haben jugendpolitisch eine spezifische Berechtigung und sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Auch im neuen Finanzrahmen muss darauf geachtet werden, dass die für junge Menschen besonders relevanten Politik- und Finanzierungsinstrumente – Erasmus+ und Europäisches Solidaritätskorps – im Kontext des jugendpolitischen Rahmens, also der EU-Jugendstrategie und der European Youth Work Agenda, umgesetzt werden. Nur so können sie ein Motor für die Umsetzung von EU-Jugendpolitik auf europäischer, aber auch auf nationaler Ebene bleiben. Aus Sicht der AGJ sollten in jedem Fall die Programmprioritäten (Inklusion und Vielfalt, Partizipation, Digitalisierung und Umwelt- und Klimaschutz), die auch nach der Zwischenevaluation beider Programme 2024 noch einmal als sinnvoll bestätigt wurden, in der neuen Programmgeneration beibehalten werden. 

In den zu diesem frühen Zeitpunkt verfügbaren Informationen über die zukünftige Arbeit der EU-Kommission sind einige für junge Menschen und die Kinder- und Jugendhilfe sehr wichtige Programme bisher kaum sichtbar oder werden nur mit Bezug auf einzelne Aspekte dargestellt. Zwar bestehen angesichts der teilweise über viele Jahre geäußerten Kritik an einigen Programmen auch Hoffnungen auf eine Verbesserung, doch insgesamt wecken die verfügbaren Informationen bei vielen Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe eher die Befürchtung, dass in nicht genuin jugendspezifischen Politikbereichen, wie bspw. in der Europäischen Säule sozialer Rechte und in der Grundrechte-, Bürgerschafts- und Antidiskriminierungspolitik – beide mit hoher Relevanz für die Strukturen von Youth Work –Programme reduziert, massiv umgestaltet oder auch ganz abgeschafft werden könnten. Dies gilt etwa für das für junge Menschen wichtige EU-Programm CERV (Citizens, Equality, Rights and Values), welches sich auf grundrechtliche Themen wie Gleichstellung, Teilhabe, Antidiskriminierung und Gewaltprävention fokussiert. Das Programm Europäischer Sozialfonds Plus (ESF+) als eine tragende Säule Europäischer Kohäsionspolitik und der Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte ist das aktuell wichtigste Finanzierungsinstrument der europäischen Sozialpolitik und könnte unter neuen Vorzeichen (s. o.) zwar finanziell gestärkt werden. Aber mit der ab 2028 geplanten Zentralisierung der Strukturprogramme (ESF+ und EFRE) und Einführung eines nationalen Programmplans pro Land droht auch der Wegfall regionaler Projektförderungen nach dem Partnerschaftsprinzip und eine zukünftige Einschränkung der regionalen Ausrichtung für die Youth Work und die Jugendhilfe in Deutschland mit Folgen für die soziale Kohäsion und v. a. die Jugendsozialarbeit in vielen Regionen. 

Die angedachte Umstrukturierung des MFR darf nicht dazu führen, dass andere essenzielle Dimensionen der Kinder- und Jugendpolitik aus dem Blick geraten. Eine Verengung der im MFR eingeplanten an junge Menschen adressieren Programme auf Ziele wie formale Bildung, Lern- und Arbeitsmobilität kann dazu führen, dass die vielfältigen strukturellen Bedarfe und Lebensrealitäten junger Menschen ins Hintertreffen geraten. Noch mehr würde eine solche Engführung aber junge Menschen und ihre Lebensphase als Ganzes im Sinne einer eigenständigen Jugendpolitik schwächen. In der geplanten Umgestaltung des MFR muss aus Sicht der AGJ dringend darauf hingewirkt werden, dass die Politik- und Förderinstrumente der EU jugendgerecht weiterentwickelt werden. Hierfür bedarf es auch zukünftig bedarfsgerecht ausgestatteter Förderformate für junge Menschen, Jugendorganisationen und -ringe sowie Freiwilligendienste. Diese müssen gerade aus Perspektive junger Menschen unbürokratisch zugänglich, beantragbar und umsetzbar sowie auf die Bedürfnisse junger Menschen zugeschnitten sein. Entsprechende Fördermittel sollten innerhalb der Förderprogramme gut auffindbar sein.

4. Fazit: Die Belange von jungen Menschen in Europa in all ihren Dimensionen und Politikbereichen mitdenken, Europa kinder- und jugendgerecht gestalten!

Die stärkere Aufteilung der für junge Menschen relevanten Themen auf unterschiedliche Kommissar*innen der EU-Kommission kann eine Chance sein, Kinder- und Jugendpolitik stärker ressortübergreifend und ganzheitlich zu gestalten. Die aktuell skizzierte Ausrichtung der EU-Politik an dem Ziel eines Mehr an Wettbewerbsfähigkeit, Resilienz, Sicherheit und Preparedness sieht die AGJ jedoch mit Blick auf die Zukunft der Europäischen Kinder- und Jugendpolitik kritisch. 

Zu viele junge Menschen wachsen in der Europäischen Union in Armut auf und erleben alltäglich sozialen Ausschluss und Diskriminierung. Gleichzeitig sind junge Menschen in Europa heute politisch aktiver als jemals zuvor und machen sich angesichts der Auswirkungen von Krieg und Klimawandel Sorgen um ihre Zukunft. Dennoch nehmen ihre Belange bislang wenig Raum in politischen Entscheidungsprozessen ein. Die Aufteilung jugendpolitischer Themen in der neuen EU-Kommission und die mit der Umgestaltung des mehrjährigen Finanzrahmens geplante Überarbeitung der bestehenden Programme könnte zu einer Vernachlässigung zentraler kinder- und jugendpolitischer Themen und zu einer Missachtung der Lebensrealitäten vieler junger Menschen in Europa führen. 

  • Die EU muss mit Blick auf die Belange junger Menschen alle Dimensionen der aktuellen Problemlagen in den Blick nehmen, um allen jungen Menschen in Europa angesichts von multiplen Krisen und schnellen Transformationsprozessen soziale und zivilgesellschaftliche Teilhabe sowie eine positive Perspektive auf ihr Leben und ihre Zukunft zu ermöglichen.

  • Die europäische Jugendpolitik kann nicht auf die individuelle Förderung von jungen Menschen reduziert werden. Vielmehr muss sie junge Menschen als Teil der Gesellschaft und die Jugendphase als besondere Lebensphase in alle politischen Ressorts einbeziehen. Das bedeutet, dass neben formalen Kompetenzen auch Strukturen und Räume der Selbstorganisation, des zivilgesellschaftlichen Engagements und der non-formalen und politischen Bildung im Fokus der europäischen Förderinstrumente stehen müssen. Ebenso müssen Projekte zur Unterstützung der von Armut bedrohten oder Diskriminierung betroffenen jungen Menschen im Sinne der Europäischen Säule sozialer Rechte und der Europäischen Grundrechtepolitik in den Programmen und Förderinstrumenten der EU besonders berücksichtigt werden. 

  • Die Berücksichtigung der Perspektive junger Menschen und die Instrumente und Gremien zu ihrer politischen Beteiligung dürfen nicht nur reine Symbolpolitik sein, sondern müssen echte Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen.

Nur so kann aus Sicht der AGJ gewährleistet werden, dass die EU mit ihrer Politik und ihren Angeboten junge Menschen nicht nur als zukünftige Arbeitskräfte oder Lernende im formalen Bildungssystem, sondern als junge Menschen mit eigenen Perspektiven und als aktive Mitgestalter*innen eines demokratischen und weltoffenen Europas hier und jetzt sowie in Zukunft anspricht. 

Geschäftsführender Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Berlin, 16. Januar 2025

Fußnoten

[1] Ansprechperson für diesen Zwischenruf ist in der AGJ die zuständige Referentin des Arbeitsfelds II „Kinder- und Jugend(hilfe)politik in Europa“: Dr. Irene Poczka (Link zur Mailadresse: irene.poczka[at]agj.de)

[2] Siehe dazu   Anforderungen für die wirksame Beteiligung von Kindern und Jugendlichen: Qualitätsstandards für Kinder- und Jugendbeteiligung (BMFSFJ, 2015)

[3] Siehe dazu den Bericht des Youth Forum zur aktuellen Situation von Jugendorganisationen in Europa (Mai 2024).

[4] Zu nennen wäre hier der UNICEF-Bericht, „The State of Children in the European Union 2024. Addressing the needs and rights of the EU's youngest generation“ (Februar 2024), der Eurochild-Bericht: „Children’s Realities in Europe: Progress & Gaps“ (November 2024), der 17. Kinder- und Jugendbericht, die TUI-Jugendstudie (Mai 2024) und die Shell Jugendstudie 2024 (Oktober 2024).

[5] Das Gewicht dieser Ziele wird nicht zuletzt an den vielen Bezügen auf eine Reihe von v.a. wirtschafts- und sicherheitspolitisch ausgerichteten Berichten in den von der Kommissionspräsidentin formulierten Leitlinien und den Mission Letters der neuen EU Kommisar*innen deutlich. Namentlich sind hier der Niinistö-Bericht über die Verbesserung der zivilen und militärischen Einsatzbereitschaft Europas, der Draghi-Bericht über die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit, der Abschlussbericht des Strategischen Dialogs über die Zukunft der EU-Landwirtschaft sowie der Letta-Bericht über die Zukunft des Binnenmarktes zu nennen.

[6] Dies zeigt die im Frühjahr 2024 durch die BAGFW durchgeführte Träger-Umfrage zur Datenermittlung für eine bedarfsgerechte Weiterentwicklung des Europäischen Sozialfonds. Die Ergebnisse sind in dem Positionspapier „Mit dem Europäischen Sozialfonds die Transformation der Gesellschaft und der Arbeitswelt in Zukunft wirksam gestalten“ festgehalten.