Frühe Hilfen im Kontext institutioneller Kindertagesbetreuung
Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
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Die Frühen Hilfen haben in Zusammenhang mit Prävention und Maßnahmen zum Kinderschutz seit 2005 in der öffentlichen Diskussion, in den Medien und in der Forschung eine neue Prägung erhalten. Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ hat sich intensiv mit dieser Thematik auseinandergesetzt.[1] Sie versteht Frühe Hilfen als eine Anforderung an interdisziplinäre Vernetzung und Kooperation, die in erster Linie auf die Ausgestaltung einer präventiven, entlastenden und helfenden Infrastruktur zielt.[2] Frühe Hilfen werden dabei als ein Mittel gesehen, die Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsverantwortung zu unterstützen und damit letztlich präventiv und wirksam auch Vernachlässigung und Misshandlung vorzubeugen. Um möglichst früh zu helfen – so die Bezeichnung und die Grundannahme Früher Hilfe – muss daher systematisch ein möglichst früher Zugang zu Familien stattfinden, in dem Gesprächs-, Beziehungs- und Unterstützungsangebote gemacht werden können.
Hierbei ist auch die Kindertagesbetreuung mit ihrem Förderangebot als wichtiger Teil der fördernden und unterstützenden Infrastruktur zu betrachten, insbesondere vor dem Hintergrund des Ausbaus der Kindertagesbetreuung im Bereich der unter Dreijährigen, die derzeit zu einem starken Zuwachs an sehr jungen Kindern in den Kindertagesstätten führt. Kernaufgabe der Kindertagesbetreuung ist gemäß SGB VIII die Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern und die Kooperation mit den Eltern. Das Anliegen der Frühen Hilfen ist die Unterstützung von (werdenden) Eltern und die Förderung ihrer Erziehungs- und Beziehungskompetenz auf der Ebene der Familienbildung.[3] Frühe Hilfen und Kindertageseinrichtungen können somit einen gemeinsamen wichtigen Beitrag zur Sicherung der Rechte der Kinder auf Schutz, Förderung und Teilhabe leisten. Frühe Hilfen als Förder- und Unterstützungsangebote im Kontext der Kindertageseinrichtungen richten sich demnach grundsätzlich an alle Familien. Sie werden im Rahmen von Bildungs- und Erziehungspartnerschaften entwickelt und umgesetzt und im Hinblick auf die speziellen Bedürfnisse einzelner Familien konkretisiert, beispielsweise für Eltern in belasteten Lebenslagen. Es geht um präventive Angebote, die für Familien erreichbar und annehmbar sind, sie sind damit klar von Interventionsmaßnahmen bei Kindeswohlgefährdung nach § 8 a SGB VIII abzugrenzen.
Mit dem vorliegenden Diskussionspapier möchte sich die AGJ, angesichts des dynamischen Ausbaus dieses Praxisfeldes, mit qualitativen Herausforde-rungen der Frühen Hilfen im Bereich der institutionellen Kindertagesbetreuung näher befassen und den fachlichen Diskurs hierzu befördern.
1. Begriffsbestimmung
Der Begriff der „Frühen Hilfen“ wird im Zusammenhang mit Prävention und Kinderschutz system- und handlungsfeldübergreifend in verschiedenen Bereichen des Gesundheitswesens, der Familienbildung und der Kinder- und Jugendhilfe verwendet. Angesichts des Mangels an begrifflicher Klarheit hat der Wissenschaftliche Beirat des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) bereits im Jahr 2009 eine Definition vorgelegt, die den aktuellen Diskussionsstand zu diesem Thema widerspiegelt.[4]
Frühe Hilfen werden hier zunächst über das Alter der Kinder (statt über ihre Lebenslage) sowie über eine positive, umfassende Zielbeschreibung im Sinne der Herstellung positiver Entwicklungsbedingungen gekennzeichnet:
„Frühe Hilfen bilden lokale und regionale Unterstützungssysteme mit koordinierten Hilfsangeboten für Eltern und Kinder ab Beginn der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren mit einem Schwerpunkt auf die Altersgruppe der 0- bis 3-Jährigen. Sie zielen darauf ab, Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Eltern in Familie und Gesellschaft frühzeitig und nachhaltig zu verbessern. Neben alltagspraktischer Unterstützung wollen Frühe Hilfen insbesondere einen Beitrag zur Förderung der Beziehungs- und Erziehungskompetenz von (werdenden) Müttern und Vätern leisten. Damit tragen sie maßgeblich zum gesunden Aufwachsen von Kindern bei und sichern deren Rechte auf Schutz, Förderung und Teilhabe.“
Im zweiten Teil der Definition wird im breiten Spektrum zwischen Hilfe und Kontrolle ein differenziertes Stufenmodell von Präventionsangeboten beschrieben, das von allgemeiner Prävention für alle (werdenden) Eltern über selektive Prävention für Familien in Problemlagen bis hin zu weiteren Maßnahmen zur Gefahrenabwehr und zum Kinderschutz reicht:
„Frühe Hilfen umfassen vielfältige sowohl allgemeine als auch spezifische, aufeinander bezogene und einander ergänzende Angebote und Maßnahmen. Grundlegend sind Angebote, die sich an alle (werdenden) Eltern mit ihren Kindern im Sinne der Gesundheitsförderung richten (universelle/primäre Prävention). Darüber hinaus wenden sich Frühe Hilfen insbesondere an Familien in Problemlagen (selektive/sekundäre Prävention). Frühe Hilfen tragen in der Arbeit mit den Familien dazu bei, dass Risiken für das Wohl und die Entwicklung des Kindes frühzeitig wahrgenommen und reduziert werden. Wenn die Hilfen nicht ausreichen, eine Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden, sorgen Frühe Hilfen dafür, dass weitere Maßnahmen zum Schutz des Kindes ergriffen werden.“
Ein weiteres wesentliches Moment Früher Hilfen bilden Kooperation und Vernetzung der beteiligten Handlungsfelder, Institutionen und Einrichtungen:
„Frühe Hilfen basieren vor allem auf multiprofessioneller Kooperation, beziehen aber auch bürgerschaftliches Engagement und die Stärkung sozialer Netzwerke von Familien mit ein. Zentral für die praktische Umsetzung Früher Hilfen ist deshalb eine enge Vernetzung und Kooperation von Institutionen und Angeboten sozialer Dienste. Frühe Hilfen haben dabei sowohl das Ziel, die flächendeckende Versorgung von Familien mit bedarfsgerechten Unterstützungsangeboten voranzutreiben, als auch die Qualität der Versorgung zu verbessern."
2. Prävention als Bestandteil des Förderauftrages nach SGB VIII sowie der Frühen Hilfen nach dem KKG
§ 1 Absatz 1 SGB VIII statuiert das Recht eines jeden jungen Menschen auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverant-wortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Dieser Leitnorm werden über den Absatz 3 zentrale Ziele der Kinder- und Jugendhilfe zugeordnet, die über die ausgestalteten Leistungen und Aufgaben im Rahmen des SGB VIII entsprechend konkretisiert werden. Als grundlegende Ziele werden die Förderung junger Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung sowie der Abbau und die Vermeidung von Benachteiligung beschrieben. Der sich hieraus ergebende Förderauftrag für die Kindertagesbetreuung wird in den §§ 22 ff SGB VIII konkretisiert. Kernaufgabe ist demnach die „Erziehung, Bildung und Betreuung des Kindes sowie die Förderung seiner sozialen, emotionalen, körperlichen und geistigen Entwicklung.“ Die Erziehung und Bildung der Kinder in der Familie soll hierbei unterstützt und ergänzt werden.
Mit der Implementierung des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) 2012 wurden neben der Förderung und dem Schutz von Kindern auch die Frühen Hilfen rechtlich verankert. Die Initiative richtet sich an alle Eltern ab der Schwangerschaft, um über Unterstützungsmöglichkeiten zu informieren und insbesondere Eltern in belasteten Lebenslagen spezifische Hilfen anzubieten (Art. 1, Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz/KKG).[5]
Die Kindertageseinrichtungen, mit ihrem weiterreichenden Förderauftrag sowie dem niedrigschwelligen Zugang für Eltern und der zunehmenden Betreuung von Kindern unter drei Jahren, sind im Sinne der Frühen Hilfen daher als Orte eines „universell ausgerichteten ganzheitlichen Kinder- und Jugendhilfeangebotes“[6] zu verstehen. Vor diesem Hintergrund sind Frühe Hilfen in Kindertageseinrichtungen in erster Linie auf die allgemeine primäre Prävention ausgerichtet. Handlungsgrundlage ist hierbei das Vertrauen und Grundprinzip immer die Freiwilligkeit.[7] Kindertageseinrichtungen können aber auch selbst Teil eines konkreten Hilfe- und Unterstützungsangebots für eine bestimmte Familie sein. Die Frühe Hilfe ist in diesen Fällen Bestandteil einer konkreten Vereinbarung mit der jeweiligen Familie und in einen Prozess der Beratung und der Netzwerkarbeit einbezogen. Diese Form der Einbindung der Kindertageseinrichtung in den Kanon der Frühen Hilfen ist der sekundären Prävention zuzuordnen.
Es ist aus Sicht der AGJ zu begrüßen, dass die Diskussion um die Ausgestaltung Früher Hilfen, anders als beim intervenierenden Kinderschutz, zunehmend von dem Gedanken primärer und sekundärer Prävention getragen wird.[8]
3. Die Rolle von Kindertageseinrichtungen im Kontext Früher Hilfen
Es wird deutlich, dass Angebote der Kindertageseinrichtungen einen zentralen Ort der Prävention im Sinne Früher Hilfen innerhalb eines komplexen System-, Institutionen- und Beziehungsgeflechts bilden. Die öffentlich geförderte Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern in den ersten Lebensjahren hat sich zum zentralen gesellschaftspolitischen Thema entwickelt; der 14. Kinder- und Jugendbericht konstatiert dazu:
„In der Kindertagesbetreuung zeigen sich (…) die fundamentalen Verschiebungen und Neujustierungen im Verhältnis des Aufwachsens in privater und öffentlicher Verantwortung, also die zunehmende Bedeutung öffentlich verantworteter Orte des Aufwachsens in der frühen und mittleren Kindheit, vom Säuglingsalter bis zum Schuleintritt.“[9]
Durch den, in den letzten Jahren politisch stark forcierten Ausbau der Kindertagesbetreuung, werden heute flächendeckend große Teile der Bevölkerung immer früher mit diesem Infrastrukturangebot erreicht. Der durch die Bildungspläne/-programme der Länder formulierte Bildungsauftrag definiert den Elementarbereich eindeutig als Teil des Bildungssystems und wertet ihn qualitativ auf. Im Kontext der Kinderschutzdebatte, die spätestens seit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes (KICK) 2005 in die öffentliche Wahrnehmung gerückt ist, wurde mit der Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes das System der Kindertagesbetreuung als ein Kernbereich der Netzwerke Früher Hilfen etabliert. Der frühe und intensive Kontakt mit Kindern und ihren Familien ermöglicht es den pädagogischen Fachkräften, frühzeitig Unterstützungs-bedarfe in den Familien oder auch Signale einer Kindeswohlgefährdung wahrzunehmen. Eine kooperative und ganzheitliche Unterstützung durch interdisziplinäre Netzwerkarbeit kann die pädagogischen Fachkräfte vor kraftraubendem Einzelkämpfertum schützen und schafft gleichzeitig Synergieeffekte im komplexen Unterstützungssystem für Familien. Mit Blick auf die beschriebene Definition Früher Hilfen kann daher für das Arbeitsfeld Kindertagesbetreuung aus Sicht der AGJ konstatiert werden, das als Auftrag für Kindertageseinrichtungen gilt:
- Kindertageseinrichtungen verbessern durch ihre Förderangebote frühzeitig und nachhaltig die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und ihren Familien auf lokaler Ebene. Sie tragen zur Sicherung der Rechte von Kindern bei, ermöglichen Teilhabe und fördern die Erziehungskompetenz von Eltern.
- Kindertageseinrichtungen richten sich mit ihrem Angebot an alle Familien und wirken über ihr Förderangebot präventiv im Sinne einer frühen Unterstützung und Hilfe für Eltern und Kinder. Grundlage dieser Arbeit ist eine wertschätzende Bildungs- und Erziehungspartnerschaft mit den Eltern.
- Kindertageseinrichtungen kooperieren im Rahmen kommunaler Netzwerke Früher Hilfen mit anderen Akteuren im Sozialraum und wirken stärkend auf die sozialen Netze von Familien. Sie wissen um die regional vorhandenen Unterstützungsangebote und beziehen diese in ihre Arbeit ein.
Bislang steht pädagogischen Fachkräften aus Kindertageseinrichtungen der regelmäßige kollegiale Austausch mit anderen Netzwerkpartnern nur bedingt zur Verfügung. Hemmend wirken sich neben fehlenden zeitlichen Ressourcen[10] für die Teilnahme an (Netzwerk)treffen oft auch fehlende Arbeitsstrukturen und nicht benannte, verantwortliche Koordinatoren aus. Daneben scheint in der Praxis die Abgrenzung von Aufgaben nach § 22ff SGB VIII (Frühe Förderung/Prävention) und weiterführenden Hilfen bei gewichtigen Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung (Intervention) erschwert, weil Zuständigkeiten nicht hinreichend präzisiert sind. Unter diesen Prämissen fordert die AGJ nachdrücklich dazu auf, die hierfür erforderlichen Ressourcen zur Verfügung zu stellen und mit dazu beizutragen, den Diskussionsprozess über Aufgaben- und Zuständigkeitsprofile weiter voranzutreiben.
4. Trägerverantwortung: Verankerung von Prävention in der Konzeption
und dem Leitbild
Um Prävention im Kontext Früher Hilfen in der Arbeit von Kindertageseinrichtungen konsequent zu verorten, bedarf es einer noch stärkeren konzeptionellen Verankerung und einer damit verbundenen Klärung der Anforderungen an die pädagogischen Fachkräfte durch die Träger. Da die Erörterung der Konzeptionen und deren Weiterentwicklung ebenfalls ein Bestandteil der Zusammenarbeit mit den Eltern ist, kann das Gespräch über die Konzeption eine gute Gelegenheit sein, um die Eltern über die verschiedenen Angebote Früher Hilfen zu informieren, ihre Fragen zu diesem Thema zu beantworten und mit ihnen wesentliche Aspekte wie Bedarfsgerechtigkeit zu erörtern. Da Kindertageseinrichtungen wichtige Akteure im Netzwerk Früher Hilfen sind, sollte sich dieses auch durchgängig in den Einrichtungskonzeptionen widerspiegeln. Unter der Prämisse des präventiven Auftrags der Kindertagesbetreuung im Kontext Früher Hilfen liegt der Schwerpunkt der konzeptionellen Verankerung dabei bei Festlegungen zum fachlichen Austausch, zum Anspruch an die Erziehungs- und Bildungspartnerschaft und zur interdisziplinären Vernetzungsarbeit.
Fachlicher Austausch
Wichtige Grundlage zum Erhalt und zur Weiterentwicklung fachlicher Expertise als Voraussetzung für eine wertschätzende Arbeit im Team, im interdisziplinären Netzwerk und mit den Adressatinnen und Adressaten sind die Festlegung der Verantwortlichkeiten unter den Mitwirkenden und verbindliche Regelungen zum fachlichen Austausch. Konzeptionelle Rahmenbedingungen für das Gelingen regelmäßigen fachlichen Austausches und/oder kollegialer Beratung sind verbindliche Regelungen zur Organisation (Bereitstellung von Raum und Arbeitszeit, Vermeidung von Störungen, Festlegungen von Gesprächsregeln, Vereinbarungen zu Dokumentation und Geheim-haltung von Gesprächsinhalten) sowie zu Möglichkeiten der Fort- und Weiterbildung aller Mitarbeitenden.
Erziehungs- und Bildungspartnerschaft
Kindertagesbetreuung ist ein Angebot der Kinder- und Jugendhilfe, das flächendeckend allen Familien zur Verfügung steht. Eltern nutzen dieses Angebot ohne die Befürchtung, als hilfebedürftig zu gelten, weil es als Infrastrukturangebot keine spezifische Hilfe, sondern ein durch Rechtsanspruch gesichertes Regelangebot der Daseinsvorsorge darstellt. Pädagogischen Fachkräften gelingt es aufgrund dieses niedrigschwelligen Zugangs überwiegend, ein stabiles Vertrauens-verhältnis zu den Eltern bzw. zu den Personensorgeberechtigten aufzubauen. Dieses Vertrauen ist sowohl zu schützen, als auch im Sinne einer wertschätzenden Erziehungs- und Bildungspartnerschaft zu nutzen. Fachkräfte können hierbei nur um die Annahme der konkreten Hilfe- und Unterstützungsangebote bei Eltern werben. Sie müssen es demnach auch aushalten können, wenn Eltern im Rahmen der Kindertagesbetreuung präventive Angebote Früher Hilfen nicht wünschen.
Letztlich ist die Einbindung der Eltern in die pädagogische Arbeit mit dem Kind, der regelmäßige Austausch zwischen Eltern und pädagogischen Fachkräften und zwischen Eltern untereinander sowie die Einbeziehung von elterlichen Erziehungsansätzen in die pädagogische Arbeit, die Basis einer guten Erziehungs- und Bildungs-partnerschaft.
Bedingungen dafür sind angemessene Informations-, Kommuni-kations- und Beteiligungsformen für Eltern, Maßnahmen und Instrumente zur Überprüfung der Zusammenarbeit zwischen pädagogischen Fachkräften und Eltern sowie Möglichkeiten der themenspezifischen Fort- und Weiterbildung (z. B. Beratungstechnik) der pädagogischen Fachkräfte.
4.1 Interdisziplinäre Netzwerkarbeit
Gute und nachhaltige Netzwerkarbeit ist konstitutiv für alle Angebote Früher Hilfen. Netzwerke organisieren und sichern den fachlichen Austausch, die Zusammenarbeit aller Akteure sowie die Planung und Koordination regionaler Angebote. Grundlagen sind, wie eingangs bereits angeführt, geklärte Rollen der Akteure, geregelte Verfahren, verknüpft mit der Entwicklung und Aushandlung eines gemeinsamen Fach- und Fallverständnisses. Die Bereitschaft, verbindlich und verlässlich miteinander zu arbeiten, ist Voraussetzung für eine dauerhafte vertrauensvolle Zusammenarbeit. Um sich sinnvoll in den interdisziplinären Fachdiskurs im Rahmen der Netzwerkarbeit einbringen und davon im Sinne des präventiven Auftrags fachlich profitieren zu können, benötigen pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen berufsbegleitende Qualifizierungen zum Thema Prävention im Sinne des Kindeswohls.
4.2 Anforderungen an die Fachkräfte
Unabhängig von der Einrichtungskonzeption und der damit verbundenen inhaltlichen Ausrichtung einer Kindertageseinrichtung stellen sich, mit Blick auf ihren spezifischen Auftrag im Kontext Früher Hilfen, verstärkt besondere qualitative Anforderungen an die pädagogischen Fachkräfte. Diesen Anforderungen gerecht zu werden heißt, jedes Kind in seinem familiären Kontext individuell wahrzunehmen, Beobachtungen im kollegialen fachlichen Austausch diskutieren und bewerten zu können sowie Handlungsoptionen mit den Eltern gemeinsam zu entwickeln und umzusetzen.
Leitungskräfte
Leitungskräfte in Kindertageseinrichtungen haben die verantwortungs-volle Aufgabe, die notwendigen Kommunikationsprozesse zwischen den verschiedenen Beteiligten zu moderieren und den Einsatz der vorhandenen Ressourcen verantwortungsvoll zu steuern. Pädago-gische Fachkräfte haben verschiedene kulturelle und soziale Hintergründe, außerdem verfügen sie über unterschiedliche Qualifikationsgrade und ein differenziertes Maß an Berufserfahrung. Die Beteiligung der Mitarbeitenden an der Entwicklung von Leitbild und Konzeption sowie von Methoden und Instrumenten zur konkreten Umsetzung dieses Ansatzes beinhaltet auch die Moderation unterschiedlicher Positionen und Haltungen sowie der Verständigungs-prozesse zwischen pädagogischen Fachkräften und Eltern in konflikthaften Auseinandersetzungen im Rahmen der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft.
Pädagogische Fachkräfte
Frühe Hilfen entfalten ihre präventive Wirkung auf einer Basis vielfältigen Wissens, welches im gesamten Team und im Netzwerk vorhanden ist und welches sich jede pädagogische Fachkraft nutzbar machen kann und soll. Die gesetzliche Verpflichtung zur Erziehungs- und Bildungspartnerschaft impliziert eine erhöhte Beratungs- und Unterstützungskompetenz seitens der Fachkräfte. Der Auftrag zur präventiven Arbeit mit Kindern und Familien verlangt von ihnen eine hohe Sensibilität für mögliche Risikokonstellationen bei gleichzeitiger Anerkennung der Rechte und Pflichten der Erziehungsberechtigten. Regelmäßige Fort- und Weiterbildung, in Verbindung mit der Mitarbeit in interdisziplinären Netzwerken, hilft – neben der Schaffung multiprofessioneller Teams – die neuen Anforderungen zu bewältigen.
5. Datenschutz
Um die auf gegenseitigem Vertrauen basierende Zusammenarbeit zwischen der Kindertageseinrichtung und den Eltern mit ihren Kindern zum Erfolg zu führen, ist die Einhaltung fachlicher Standards des Datenschutzes unerlässlich. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist grundgesetzlich geschützt. Im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe wird der Schutz von Sozialdaten im § 35 SGB I, in den §§ 67 ff SGB X und in den §§ 61 ff SGB VIII geregelt. Diese Grundsätze sind von den Kindertages-einrichtungen auch im Rahmen der Frühen Hilfen und der Netzwerkarbeit einzuhalten.
6. Fazit
Der aktuelle 14. Kinder- und Jugendbericht sieht die Herausforderungen für die Frühen Hilfen in den kommenden Jahren vor allem darin, sich „immer neu zu vergewissern, ob das Zusammenspiel von frühem Schutzauftrag, früher Förderung und Willkommenskultur stimmig ist und es keine, letztlich kontraproduktiven, Vermischungen gibt, z. B. indem der Willkommensbesuch doch vorrangig der ‚Detektierung‘ potentiell kindeswohlgefährdender Verhältnisse dient.“[11] Zudem sollten in dem Nebeneinander von hauptamt-licher Arbeit in multiprofessionellen Teams, Willkommensbesuchen, ehrenamtlichen Projekten, einer familienfreundlichen Infrastruktur oder den arbeitsteilig agierenden Institutionen (hierzu zählen auch die Einrichtungen der Kindertagesbetreuung) „Doppelstrukturen vermieden und Angebote gut abgestimmt werden“ (ebd.).
Die Kinder- und Jugendhilfe versteht sich in großen Teilen als generelles Unterstützungsangebot für Familien, das diese bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsaufgaben und bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben junger Menschen aktiv unterstützt. Im Rahmen der hierfür notwendigen Infrastruktur kommt den Kindertageseinrichtungen, als niedrigschwelliges und ganzheitliches Förderangebot, ein wichtiger Stellenwert zu. Im Kontext dieses Angebotes sind auch die Frühen Hilfen zu verorten. Viele Kindertages-einrichtungen und deren Träger setzen dieses Prinzip bereits im Rahmen ihrer Konzeptionen und dem damit verbundenen fachlichen Handeln aktiv um.
Wie die Kindertageseinrichtungen diesen umfassenden Anspruch an ihre Arbeit, wie im vorliegenden Diskussionspapier dargestellt, auch im Kontext der Frühen Hilfen wahrnehmen können, hängt nicht zuletzt von der Fachkraft-Kind-Relation, der Gruppengröße, der Qualifikation der Fachkräfte, der Qualität der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft mit den Eltern sowie von interdisziplinärer Netzwerkarbeit ab. Dabei liegt es vor allem in der Verantwortung des Trägers der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe im Hinblick auf die Frühen Hilfen, Aufträge klar zu benennen, Transparenz der Verantwortlichkeiten und Ansprechpartner zu schaffen, den Fachkräften Angebote der Fort- und Weiterbildung sowie Zeit und Raum für die Netzwerkarbeit zur Verfügung zu stellen. In den Debatten um Qualität in der Kindertagesbetreuung muss künftig auch das Thema der Frühen Hilfen konsequent mitgedacht werden. Hierzu fordert die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ mit dem vorliegenden Papier auf.
Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 28./29. November 2013
[1] Vgl. „Überprüfung und Weiterentwicklung der Frühen Hilfen/Frühen Förderung. Beitrag der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ zur Fachdebatte um ein Kinderschutzgesetz des Bundes.“ Berlin, 2010.
[2] Vgl. Reinhold Schone (2010); Kinderschutz – Zwischen Frühen Hilfen und Gefährdungsabwehr; in IZKK Nachrichten; Heft 1 2010
[3] Vgl. nzfh: www://fruehehilfen.de/fruehe-hilfen/was-sind-fruehe-hilfen/
[4] Vgl. zur Definition die Homepage des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen unter www.fruehehilfen.de/fruehe-hilfen/was-sind-fruehehilfen/ (24.01.2013) sowie zu den folgenden Ausführungen den Beitrag von Alexandra Sann: Frühe Hilfen. Entwicklung eines neuen Praxisfeldes in Deutschland. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht. Zeitschrift für Forschung und Praxis. Sonderdruck. 4/2012, S. 256-274.
[5] Vgl. Sozialgesetzbuch VIII auf dem Stand des Bundeskinderschutzgesetzes – Gesamttext und Begründungen, 16. vollständig überarbeitete Auflage, AGJ, Berlin 2012
[6] Vgl. Schone, Reinhold (2010); Kinderschutz – zwischen Frühen Hilfen und Gefährdungsabwehr; in IzKK-Nachrichten; Deutsches Jugendinstitut; München 2010, S.?
[7] Ebd., S. 6 ff
[8] Vgl. hierzu Schone, Reinhold/Struck, Norbert (2013) in: Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik; Thiersch, Hans/Otto, Hans-Uwe (Hrsg.), Erst-Reinhard-Verlag, 4. Auflage, i. E. ; Seite 4
[9] BMFSFJ 2013: 14. Kinder- und Jugendbericht. S. 307
[10] Vgl. dazu auch Der Paritätische, Diakonie Deutschland, GEW (Hrsg.): „Schlüssel zu guter Bildung, Erziehung und Betreuung – Bildungsaufgaben, Zeitkontingente und strukturelle Rahmenbedingungen in Kindertageseinrichtungen“, Berlin 2013
[11] 14. Kinder- und Jugendbericht; Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2013, S. 413