Herausforderungen des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) für die Kinder- und Jugendhilfe
Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Stellungnahme als PDF
Die Einführung des Deutschen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen (DQR) ist ein Prozess, der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und der Kultusministerkonferenz (KMK) unter Einbeziehung aller in der deutschen Bildungslandschaft relevanten Akteure in Kooperation vorangetrieben wird. Für die Kinder- und Jugendhilfe stehen dabei sowohl Fragen der Qualifizierung und der tariflichen Eingruppierung auf Seiten der Fachkräfte als auch Fragen der Anerkennung von Kompetenzen sowie beruflicher Chancen ihrer Adressatinnen und Adressaten im Mittelpunkt. Entsprechend begleitet die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ die Entwicklungen zum Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) bzw. seine Umsetzung in den DQR aus der Perspektive der Arbeitsfelder „Qualifizierung, Forschung, Fachkräfte“, „Jugend“ sowie „Kinder- und Jugend(hilfe)politik in Europa“.
Im Rahmen der vorliegenden Stellungnahme skizziert die AGJ die Genese und Ausgestaltung des DQR und analysiert offene Fragen sowie Herausforderungen aus der Perspektive der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen dabei einerseits die Chancen, die sich aus dem DQR im Hinblick auf Kompetenzorientierung sowie (grenzüberschreitende) Anerkennung und Durchlässigkeit ergeben. Andererseits wird auf Risiken hingewiesen, die sich aus einer Verknüpfung von Tarifstrukturen und DQR-Niveaus ergeben sowie vor dem Hintergrund des Fachkräftebedarfs eine mögliche Dequalifizierung innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe zur Folge haben können.
1. Ausgangslage und politische Entwicklung des DQR
Mit dem Ziel der Schaffung eines europaweiten, bildungsbereichs-übergreifenden Übersetzungssystems für das Niveau von Qualifikationen einigten sich am 14. Dezember 2004 die Bildungsministerinnen und Bildungsminister aus 32 Staaten in Maastricht auf die Einrichtung des EQR. Dieser wurde 2008 vom Rat der Europäischen Union und vom Europäischen Parlament angenommen und soll die Chancengleichheit und Mobilität von Beschäftigten und Lernenden zwischen den verschiedenen Ländern mit ihren Bildungssystemen fördern sowie ihr lebenslanges Lernen erleichtern. In acht Referenzniveaus bildet der EQR Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen ab, die in allen Bereichen der Bildung erworben werden – von der schulischen über die berufliche bis zur akademischen Aus-, Fort- und Weiterbildung. Zudem sieht er die Anerkennung nicht-formalen und informellen Lernens vor. Der Rahmen bedeutet eine Abkehr vom Lerninput (Art der Einrichtung, Dauer eines Lernprozesses) hin zum Lernoutput (Fokussierung auf Lernergebnisse). Die Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zielte darauf ab, die nationalen Qualifikationssysteme bis 2010 an den EQR zu koppeln und zu gewährleisten, dass sich alle neu erteilten Qualifikationen ab 2012 auf das entsprechende EQR-Niveau beziehen.[1]
Mit der Einsetzung der Bund-Länder-Koordinierungsgruppe (B-L-KG) und dem Arbeitskreis „Deutscher Qualifikationsrahmen“ (AK DQR) in 2007 ist eine breite Basis geschaffen worden, auf der die relevanten Akteure aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Bildungspraxis zusammenarbeiten. Der im Februar 2009 gemeinsam entwickelte Diskussionsvorschlag eines DQR[2] wurde bis Februar 2010 in den vier ausgewählten Berufs- und Tätigkeitsfeldern Handel, Informationstechnologie, Metall/Elektro und Gesundheit exemplarisch erprobt. Zudem wurde die AGJ durch das BMBF gebeten, jeweils eine Vertretung in die vier branchenspezifischen Arbeitsgruppen zu entsenden, um die Sichtweise junger Menschen in die Beratungen einfließen zu lassen. Ziel der Arbeitsgruppen war es, nachvollziehbare, konsensfähige exemplarische Zuordnungen ausgewählter Qualifikationen des deutschen Bildungssystems in den vorliegenden DQR-Entwurf vorzunehmen sowie die Handhabbarkeit der DQR-Matrix zu überprüfen und weiterzuentwickeln.
Im Juli 2010 nahm die AGJ im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technologiefolgenabschätzung des Deutschen Bundestages zu den aktuellen Entwicklungen bezüglich des EQR bzw. seiner Übersetzung in den DQR Stellung.[3] Im März 2011 legte der AK DQR den Deutschen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen[4] vor. Der deutsche Referenzierungsbericht, der Erfahrungen bei der Entwicklung des DQR sowie Fragen der Referenzierung thematisiert, wird voraussichtlich im Dezember 2012 an die europäische Kommission übermittelt.[5]
2. Struktur und Konzept des DQR
Der DQR unterteilt sich in einen Einführungstext, eine Matrix und ein Glossar und besteht analog dem EQR aus acht Referenzstufen, in denen auf schulischen, betrieblichen, hochschulischen und beruflichen Bildungs- und Karrierewegen erworbene Kompetenzen zugeordnet werden. Die acht Niveaus des DQR beschreiben jeweils spezifische Sets von Kompetenzen, die für die Erlangung einer zertifizierten Qualifikation erforderlich sind. Dabei soll kein Niveau ausschließlich für bestimmte Qualifikationen reserviert sein. Die acht Niveaustufen beziehen Kompetenzen ein, die sowohl im Rahmen von Hochschul- und Berufsbildung als auch von Basisqualifikationen und Fort- und Weiterbildung erworben werden können.
Während einige Länder (z. B. Schweiz, Frankreich, Finnland und Dänemark) bei der Erarbeitung ihrer nationalen Qualifikationsrahmen von einem umfassenden Bildungsverständnis ausgingen, in dem formale, non-formale und informelle Bildungsprozesse gleichermaßen eine Rolle spielen, wurden in Deutschland zunächst nur formale Qualifikationen und Abschlüsse berücksichtigt. Die Einbeziehung non-formal und informell erworbener Kompetenzen in die Niveaustufen des DQR ist zwar vereinbart, aber noch nicht umgesetzt.6 Zudem verständigten sich Bund, Länder und Sozialpartner bei einem Spitzengespräch am 31.01.2012 darauf, dass die allgemein-bildenden Schulabschlüsse für den Zeitraum einer fünfjährigen Probephase vorerst nicht berücksichtigt werden.[7] Dies ist unter anderem auf die fehlende Vergleichbarkeit des deutschen Schulsystems mit denen anderer europäischer Länder zurückzuführen.
Die auf jeder der acht Stufen des DQR beschriebenen Kompetenzen werden in die Bereiche „Fachkompetenz“, die aus Wissen und Fertigkeiten besteht, und „Personaler Kompetenz“, die sich aus Sozialkompetenz und Selbstständigkeit zusammensetzt, im Hinblick auf berufliche Handlungs-fähigkeit beschrieben. Der DQR geht von einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit fachlicher und personaler Kompetenz aus. An die Stelle formal erworbener Bildungsabschlüsse sollen tatsächlich erworbene Kompetenzen treten, an denen sich die Einordnung der Qualifikationen orientiert (Outcome-Orientierung). Die Erfahrungen aus der Mitwirkung in den branchenübergreifenden Arbeitsgruppen der Erprobungsphase zeigten allerdings, dass dennoch intensive Diskussionen über Zugänge in Abhängigkeit von bestimmten Bildungsabschlüssen geführt wurden und das angestrebte Prinzip der Lernort- und Lernwegunabhängigkeit nicht durchgängig verfolgt wurde.[8] Nicht in die DQR-Matrix aufgenommen wurden Handlungskompetenzen, die vorhanden, aber im konkreten Arbeitsablauf nicht nachgefragt werden (z. B. Ausdauer, Verlässlichkeit, Aufmerksamkeit, Genauigkeit, intellektuelle Kompetenz) sowie ethische Dispositionen (normative, ethische und religiöse Reflexivität, interkulturelle und interreligiöse Kompetenz, gelebte Toleranz, demokratische Verhaltensweise), die lediglich Eingang in den Einführungstext gefunden haben, jedoch durchlaufende Dimensionen aller acht Niveaus sind.
Aktuell ergibt sich für die mit den genannten Qualifikationen erworbenen Kompetenzen folgende Zuordnung zu den Niveaustufen:
Stufe 1: Basisqualifikationen, Berufsausbildungsvorbereitung (Maßnahmen der Agentur für Arbeit (BvB), Berufsvorbereitungsjahr (BVJ), Einstiegsqualifizierung (EQ))[9],
Stufe 2: Berufsausbildungsvorbereitung (Maßnahmen der Agentur für Arbeit (BVB), Berufsvorbereitungsjahr (BVJ), Einstiegsqualifizierung (EQ)), Berufsfachschule (berufliche Grundbildung),
Stufe 3: Zweijährige staatlich anerkannte Ausbildungsordnungen (Berufsbilder), Berufsfachschule (Mittlerer Schulabschluss),
Stufe 4: Drei- und dreieinhalbjährige staatlich anerkannte Ausbildungsordnungen (Berufsbilder), (z. B. Krankenpfleger/-in, Physiotherapeut/-in)
Stufe 5: staatlich anerkannte Fortbildungsgänge (z. B. Fachberater/-in, IT-Fachwirt/-in)
Stufe 6: Bachelor, staatlich anerkannte Fortbildungsgänge (z. B. Meister/-in, Fachwirt/-in, Techniker/-in, operative Professionals), Fachschulen für Sozialpädagogik (Erzieher/-innen)[10]
Stufe 7: Master, staatlich anerkannte Fortbildungsgänge (z. B. Betriebswirt/-in, strategische Professionals),
Stufe 8: Promotion[11]
3. Chancen durch lebenslanges Lernen
Die Förderung des lebenslangen Lernens wird auch in Deutschland als eine zentrale Antwort auf bildungspolitische Fragen der Gegenwart angesehen. Es soll eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung und gesellschaftliche Teilhabe ebenso ermöglichen wie die Stärkung des Wirtschaftsraums und die Realisierung von Chancengleichheit. Zudem soll generell das Bildungsniveau erhöht werden, wobei neue Zugänge zu Bildung und Lernen geöffnet, Barrieren zwischen Bildungsbereichen abgebaut und verborgene Potenziale identifiziert und nutzbar gemacht werden sollen. Durch Anknüpfung an bisheriges Lernen sollen „Doppellernen" vermieden und Lernzeiten verkürzt werden, sodass die Durchlässigkeit zwischen Bildungsgängen erhöht und Abschlüsse anschlussfähig werden.
Sowohl der „Bologna-Prozess", als auch der durch den Vertrag von Maastricht in der beruflichen Bildung angestoßene „Kopenhagen-Prozess" bieten Verfahren und Modelle der Anerkennung von Lernleistungen an, die über die Wertschätzung von bisher Erlerntem zum Weiterlernen und zum Beschreiten neuer Lern- und Berufswege anregen. Lebenslanges Lernen kann zur besseren Integration von formal Geringqualifizierten in den Arbeitsmarkt sowie zur Nutzung der Potenziale von Migrantinnen und Migranten mittels erleichterter Anerkennung von im Ausland erworbenen beruflichen Qualifikationen für (adäquate) Beschäftigung und dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt beitragen. Lebenslanges Lernen kann Quer- und Seiteneinstiege in Berufslaufbahnen unterstützen und damit zur Stärkung individueller beruflicher Entwicklungswege beitragen. Vor dem Hintergrund eines zunehmenden Fachkräftebedarfs kann es darüber hinaus positive Auswirkungen auf eine anforderungsgerechte Stellenbesetzung haben.
In diesem Zusammenhang ist auch der in den Freiwilligendiensten entwickelte Profil-PASS (wie auch EUROPASS) zu verorten, der in Form eines Portfolio Belege über individuelle Fähigkeiten und Kompetenzen zusammenstellt. Weitere konkrete Verfahren für die Zulassung zu Bildungsgängen oder Prüfungen liegen vor, an denen in der weiteren Diskussion angeknüpft werden könnte, beispielsweise in Form von bereits gesetzlich geregelten Nichtschülerpüfungen für allgemeinbildende Abschlüsse (nach § 45, 2 Berufsbildungsgesetz oder § 37, 2 Handwerksordnung), unterschiedlichen Formen von Externenprüfungen, Studiermöglichkeiten ohne Abitur, Begabtenprüfungen, Einstufungsprüfungen, Probestudien im Hochschul-bereich und anderen Anrechnungsverfahren. Alle entsprechenden Verfahren werden bislang allerdings nur punktuell eingesetzt und sind kaum durchschaubar. Aus Sicht der AGJ könnte die DQR-Matrix zu größerer Transparenz beitragen und bestehende (in formalen Verfahren erworbene) Zertifikate einbeziehen.
4. Berufsprinzip
Strittig ist die Bedeutung der Outcome-Orientierung, die die an unterschiedlichen Lernorten erworbenen Kompetenzen sichtbar macht, im Zusammenhang mit dem deutschen Berufsprinzip, das auf die Wahrung der Ganzheitlichkeit von Qualifikationen und die Vermeidung von deren Atomisierung gerichtet ist.[12] In der DQR-Debatte haben insbesondere die Sozialpartner, aber auch die Bundesregierung am „Berufsprinzip" festgehalten. Die (Teil-) Anerkennung beruflich erworbener Qualifikationen durch die Hochschulen wird zwar in der Praxis vorgenommen, die von vielen Staaten angestrebte Akkumulierung von Qualifikationen zu einem Beruf wird allerdings ablehnt. Zudem wird von den Hochschulen eingewendet, dass die entsprechenden Abschlüsse nicht kompetenzbasiert beschrieben werden. Generell bleibt in der deutschen Debatte das Stichwort „Modularisierung" ein Reizwort. Sollten sich Bestrebungen durchsetzen, teilweise an dem deutschen Berufsprinzip festzuhalten und es gleichzeitig auf der Grundlage der Outcome-Orientierung und Lernort-/ Lernwegunabhängigkeit aufzugeben, so darf diese Mischung unterschiedlicher Strukturprinzipien aus Sicht der AGJ keinesfalls zu einer Dequalifizierung und/oder tariflichen Abstufung führen.
Vorerst ungeklärt bleibt auch, wie bei Zuordnungsfragen die EU-Anerkennungsrichtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifi-kationen für die geregelten Berufe angewandt werden muss, die mittels eines fünfstufigen, abschließenden Systems andere Anerkennungsverfahren als im EQR vorsieht.
5. Die Einordnung der Qualifikationen der Kinder- und Jugendhilfe in den DQR
Aus Sicht der AGJ besteht die größte Herausforderung im Hinblick auf die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe darin, die Vielschichtigkeit der unterschiedlichen Ausbildungswege den jeweiligen Niveaustufen des DQR angemessen zuzuordnen, ohne das damit tarifliche Schlechterstellungen einhergehen, die Erreichbarkeit höherer Qualifikationsniveaus erschwert und die Anforderung an die Fachkompetenzen reduziert werden.
Grundsätzlich geht der DQR davon aus, dass alle Qualifikationen lernweg- und lernortunabhängig erworben werden können – eine bestimmte Institution zur Kompetenzgewinnung nicht zwingend vorgeschrieben ist. Gegen den zumindest anfänglichen Widerstand der HRK[13] sollen grundsätzlich alle Niveaus des DQR allen Segmenten des Bildungswesens offenstehen. Allerdings bestehen die Hochschulen auf der mit der Formel „gleichwertig, aber nicht gleichartig“ beschriebenen Feststellung der Differenz beruflicher Ausbildung und hochschulischer Bildung, einer Feststellung, die insbesondere bei der Einstufung auf dem Niveau 6 des DQR bedeutsam wird. Wenn auf unterschiedlichen Bildungswegen eine gleiche Einstufung auf einem spezifischen Niveau erreicht wird, bedeutet das aus der Sicht der Hochschulen nur die Anerkennung der Gleichwertigkeit der jeweiligen Qualifikationen vor den Anforderungen des Arbeitsmarkts, nicht aber der Gleichartigkeit der Bildungsprozesse und der damit erworbenen Kompetenzen. Demnach zeichnet sich hochschulische Bildung auf den Stufen 6 bis 8 des EQR/DQR durch den kritischen Umgang mit vorhandenem Fach- und Handlungswissen aus und ist insbesondere auf der Master- und Promotionsebene auf die Erzeugung neuen Wissens orientiert. Schulische und berufliche Bildung ist vor allem auf die Vermittlung vorhandenen, kanonisierten Wissens gerichtet. Zudem folgt hochschulische Bildung einem eigenen gesellschaftlichen Bildungsauftrag und sollte neben spezialisierten Studienangeboten den Anspruch einer generalistischen Ausbildung wahren. Sie versteht „employability“ weniger als – mehr oder weniger passgenaue – Beschäftigungsfähigkeit, sondern als Fähigkeit der Absolventinnen und Absolventen, sich kompetent und chancenreich auf dem Arbeitsmarkt zu bewegen.
Die AGJ sieht die Qualifikationen und Kompetenzen der Kinder- und Jugendhilfe im bisherigen Umsetzungsprozess des DQR grundsätzlich gut aufgestellt und anerkannt. So werden die Bachelorstudiengänge der frühen Kindheit („Kindheitspädagogik“) analog den Zuordnungen des Hochschul-wesens dem Niveau 6 des DQR zugeordnet. Diese Einordnung sollte bislang auch auf die fachschulische Qualifikation der Erzieherinnen und Erzieher sowie die Fachschulen für Sozialpädagogik ihre Anwendung finden. Als Argumentationsgrundlage für die Einordnung der fachschulischen und hochschulischen Ausbildungen auf einer Stufe dienen sowohl die Rahmenvereinbarung über Fachschulen der Kultusministerkonferenz vom 7.11.2002[14] als auch der Gemeinsame Orientierungsrahmen „Bildung und Erziehung in der Kindheit“.[15] Demnach handelt es sich bei Fachschulen um weiterbildende Schulen, die prinzipiell den Abschluss einer einschlägigen Erstausbildung, in der Regel eine mehrjährige Berufsausübung, erfordern und auf die Übernahme von Führungsaufgaben vorbereiten[16], wie dies auch in den Beispielen zur Eingruppierung zum DQR beschrieben wird[17]. Unter die KMK-Rahmenvereinbarung fallen auch die Fachschulen für Sozialpädagogik, die diese dem tertiären Sektor zuordnet.
Vor dem Hintergrund der beschriebenen Feststellung der Differenz beruflicher Ausbildung und hochschulischer Bildung ist die Diskussion über die Zuordnung von erworbenen Kompetenzen auf dem Niveau 6 des DQR allerdings neu entfacht und wird aktuell insbesondere in Gewerkschaftskreisen unter Berücksichtigung der verschiedenen Fachschultypen geführt. Die AGJ weist darauf hin, dass die Debatten um eine angemessene Zuordnung der einzelnen Qualifikationen und Kompetenzen auch vor dem Hintergrund einer möglichen Neubewertung der zunehmend anspruchsvolleren Tätigkeiten, die Erzieherinnen und Erzieher ausüben, geführt werden sollten.
Im Hinblick auf die Jugendberufshilfe ist zu begrüßen, dass sich auf eine Zuordnung der im Übergangssystem Schule – Beruf erworbenen Kompetenzen verständigt werden konnte.
Die AGJ begrüßt die Implikationen des bildungsbereichsübergreifenden DQR als ein wichtiges Instrument für eine höhere Durchlässigkeit des Bildungssystems und die Schaffung von Transparenz von Gleichwertigkeiten und Unterschieden zwischen den Qualifikationen auf dem jeweiligen Niveau. Dadurch trägt der DQR zur Vergleichbarkeit deutscher Qualifikationen in Europa bei und leistet einen Beitrag zur Förderung der Mobilität von Beschäftigten und Lernenden zwischen Deutschland und anderen europäischen Ländern. Er unterstützt den gleichberechtigten Zugang und die Teilnahme am lebenslangen Lernen und ist geeignet, Regelungen für Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger – auch vor dem Hintergrund der Deckung des Fachkräftebedarfs – zu erleichtern. Ob die genannten Ziele tatsächlich erreicht werden, ist gerade mit Blick auf die bisherige Nichtberücksichtigung von erworbenen Kompetenzen im Rahmen von Fort- und Weiterbildungsangeboten sowie non-formaler und informeller Bildungsprozesse fraglich.
Demnach besteht Klärungsbedarf im Hinblick auf anerkannte Verfahren zur Messung und Zertifizierung von Kompetenzen, die auf informellen und non-formalen Wegen erworben werden, beispielsweise Teilabschlüsse und Qualifikationen, die nicht in schulischen und beruflichen Maßnahmen erworben werden sowie Kompetenzen durch freiwilliges oder ehrenamtliches Engagement in der Kinder- und Jugendarbeit. Gleiches gilt für die Fort- und Weiterbildung, die bisher dem informellen und non-formalen Lernen zugeordnet ist, obgleich viele dort ausgestellte Zertifikate formalisiert sind. Neben der Erarbeitung entsprechender Verfahren zur Kompetenzfeststellung ist es aus Sicht der AGJ vor allem notwendig, Zuständigkeiten festzulegen, wer für diese Verfahren verantwortlich ist. Darüber hinaus bewegt sich die derzeitige Debatte in dem Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Anerkennung der Kompetenzen non-formaler und informeller Bildungsprozesse, der damit möglicherweise verbundenen Formalisierung und – demgegenüber – den Prinzipien der Freiwilligkeit und Vielfältigkeit non-formaler und informeller Bildungsprozesse.
Offen bleibt auch, ob die Einstufung erworbener Qualifikationen und Kompetenzen im DQR lediglich ein Transparenz- bzw. Übersetzungssystem darstellt oder sich zu einem diagnostischen Instrument der Leistungsbewertung entwickeln wird. Derzeit begründet die Einstufung auf einem bestimmten Niveau keine Ansprüche bezüglich Zulassungsfragen oder tariflicher Eingruppierung, wenngleich einige Staaten teilweise anders verfahren. Gleichwohl können vorgenommene Einstufungen möglicherweise Auswirkungen auf Tarif- und Eingruppierungsfragen haben und ein wichtiges Instrument im Diskurs der Bildungssysteme werden. Ob die Validierungs-konzepte von EQR/DQR nur einer größeren Transparenz dienen oder den Beginn eines Validierungssystems darstellen, das sich parallel zum oder alternativ zum formalen Bildungssystem entwickelt, lässt sich erst im Verlauf des Prozesses beantworten.
6. Ausblick
Die Forderungen nach „Professionalisierung“ und „Öffnung und Anerkennung“ bewegen sich in einem Spannungsfeld von Wissenschaftsbasierung und Praxisorientierung, hinter der oft Trägerinteressen vermutet werden können. Es ist daher verständlich, dass unterschiedliche Akteure aus Disziplin und Profession einerseits, Berufsausbildung und Praxis andererseits im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe unterschiedliche Prioritäten in der Diskussion setzen – eine Debatte, die sich auch innerhalb der Mitgliederstruktur der AGJ widerspiegelt.
Die Kernpunkte, um die es in dieser Diskussion aus Sicht der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe weiterhin gehen wird, lassen sich wie folgt benennen:
- Vorrang des in Kompetenzen gefassten Lernergebnisses vor dem „Lernort“ und der „Qualifikationsdauer“ und damit verbundene Auswirkungen auf das System der Kinder- und Jugendhilfe,
- Erreichbarkeit der angestrebten Ziele des DQR (Transparenz, Durchlässigkeit usw.),
- Orientierung des DQR an „employability“ im Sinne der Anforderungen des Arbeitsmarkts,
- Notwendigkeit der Beschreibung aller Qualifikationen über spezifische Sets von Kompetenzen und Entwicklung entsprechender Verfahren der Überprüfung, Zertifizierung und Anerkennung erworbener Kompetenzen (insbesondere im Rahmen von Fort- und Weiterbildungsangeboten sowie non-formaler und informeller Bildungsprozesse),
- Angemessene Zuordnung der fachschulischen Qualifikationen der Erzieherinnen und Erzieher sowie der allgemeinbildenden Schulabschlüsse zu den Niveaustufen des DQR,
- Gegenseitige Anrechnung/Anerkennung von an anderen Lernorten erworbenen Qualifikationen auf das Hochschulstudium und vice versa als Frage der Bewertung der Gleichartigkeit der erworbenen Kompetenzen,
- Verknüpfung der DQR-Einstufung mit tariflichen Eingruppierungen im Hinblick auf mögliche negative Konsequenzen für Beschäftigte resp. Professionen (Abgruppierung resp. Dequalifikation),
- Bedeutung und Nutzbarkeit des DQR im Hinblick auf Aktivitäten der Fachkräftegewinnung.
Festzuhalten bleibt, dass die Umsetzung des DQR eine große Herausforderung in der Kinder- und Jugendhilfe darstellt, die von vielen Unwägbarkeiten begleitet wird. Dies ist auf eine relativ kurze Erarbeitungsphase sowie fehlende wissenschaftliche Begleitforschung, insbesondere zur Gestaltung der Übergänge zwischen den einzelnen Bildungssystemen sowie zur Kompetenzzuordnung zu den jeweiligen Stufen des DQR, zurückzuführen. Dennoch wurden durch die Erarbeitung und bisherige Befassung mit dem DQR wichtige Diskussions- und Entwicklungsprozesse angestoßen, um einen tatsächlich bildungsbereichs-übergreifenden DQR mit den Zielen der Durchlässigkeit, Transparenz und Gleichwertigkeit voranzubringen.
Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin 19. September 2012
[1] Vgl. Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen, Straßburg 23. April 2008.
[2] Vgl. „Diskussionsvorschlag eines Deutschen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen“, erarbeitet vom Arbeitskreis Deutscher Qualifikationsrahmen, Februar 2009.
[3] Vgl. „Europäischer Qualifikationsrahmen / Deutscher Qualifikationsrahmen“, AGJ-Stellungnahme, Juni 2010.
[4] Vgl. „Deutscher Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen“, verabschiedet vom Arbeitskreis Deutscher Qualifikationsrahmen, 22. März 2011.
[5] Vgl. Sachstandsbericht „Erarbeitung eines Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR)“, BMBF, Juni 2012.
[6] Am 05.09.2012 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Rates zur Validierung nichtformalen und informellen Lernens vorgelegt, der vorsieht, dass die Mitgliedstaaten bis zum Jahr 2015 nationale Systeme zur Validierung dieser Lernergebnisse einführen. Dadurch soll allen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit eingeräumt werden, eine teilweise oder vollständige Qualifikation auf Grundlage von Fähigkeiten und Kompetenzen anerkannt zu bekommen, die sie außerhalb des Systems formaler Bildung erworben haben.
[7] Vgl. Sachstandsbericht „Erarbeitung eines Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR)“, BMBF, Juni 2012.
[8] Vgl. „Europäischer Qualifikationsrahmen / Deutscher Qualifikationsrahmen“, AGJ-Stellungnahme, Juni 2010.
[9] Für den berufsvorbereitenden Bereich erfolgt die Zuordnung je nach Ausgestaltung der berufsvorbereitenden Maßnahme auf DQR-Niveau 1 bis 2; vgl.: „Empfehlung des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) zum weiteren Vorgehen bei der Erarbeitung des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR)“.
[10] Die Diskussion über die Zuordnung der Fachschulen für Sozialpädagogik ist erneut entfacht.
[11] Zuordnung nach BIBB.
[12] Vgl. „Stellungnahme der Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft zur Arbeitsunterlage der EU-Kommission ‚Auf dem Weg zu einem europäischen Qualifikationsrahmen für Lebenslanges Lernen‘“, 15.11.2005.
[13] Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) kritisiert, die derzeitige Fassung des DQR sei kein bildungsgangübergreifendes Transparenzinstrument. Ihr ist die spezifische wissenschaftliche Problemlösungskompetenz auf den höheren Niveaus zu undeutlich formuliert und das Verhältnis von beruflichen und hochschulischen Bildungsgängen zu unklar. Sie befürchtet negative Konsequenzen für den Hochschulbereich, da sich der Stellenwert von Kompetenzen, die in einem Studium erworben werden, im Vergleich zu den in der Berufsbildung erworbenen Kompetenzen verringere. Zudem befürchtet sie, dass der Druck auf Öffnung des Zugangs zur Hochschule so groß wird, dass Bewerberinnen, die nicht für ein Studium geeignet sind, zugelassen werden müssten, wodurch Studierende überfordert würden, was zur Senkung des Niveaus von Lehre und Studium führen würde.
[14] Vgl. „Rahmenvereinbarung über Fachschulen“, Beschluss der Kultusminister-konferenz vom 7.11.2002 i.d.F. vom 3.3.2010.
[15] Vgl. Umlaufbeschluss der Jugend- und Familienministerkonferenz vom 14. Dezember 2010.
[16] Vgl. „Rahmenvereinbarung über Fachschulen“, Beschluss der Kultusminister-konferenz vom 7.11.2002 i.d.F. vom 3.3.2010.
[17] Vgl. AK-DQR 2010.