Stärkung präventiver Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe
Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
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Durch die aktuelle Debatte um die Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung rückt die Stärkung präventiver Ansätze in allen Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe sowie das frühzeitige, präventive Zusammenwirken mit sog. Regelinstitutionen (z.B. mit Schule) in den Blickpunkt von Jugendhilfepolitik und Fachöffentlichkeit. Dabei handelt es sich neben einem fachlichen Diskurs auch um eine Finanzierungs- und Steuerungsdebatte, die unter dem Eindruck von steigender Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung steht. Die Kommunen sind aus vielerlei Gründen einem starken Legitimationsdruck für die sozialen Aufgabenfelder ausgesetzt, die sie überwiegend allein bewältigen müssen. Sie suchen intensiv nach strukturellen und fachlichen Ansätzen zur Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung selbst sowie an den Schnittstellen innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe und ressortübergreifend.
Die wachsende Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung ist im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklungen zu sehen, die bei der konzeptionellen Entwicklung entsprechend Berücksichtigung finden müssen. Der Zusammenhang zwischen probleminduzierenden oder -verstärkenden soziostrukturellen Lagen, wie beispielsweise die hohen Belastungslagen bei vielen Alleinerziehenden, ALG-II-Beziehenden und der Inanspruchnahme von (stationären) Hilfen zur Erziehung ist vielfach belegt. Unstrittig ist, dass den wachsenden und komplexen Hilfebedarfen angemessener begegnet werden kann, indem diese frühzeitig erkannt und niedrigschwellige Zugänge zu Angeboten ermöglicht sowie frühzeitig individuelle Hilfen geleistet werden.
Vor diesem Hintergrund kommen die vielfältigen Möglichkeiten von „Prävention“ in den Blick, mancherorts von ganzheitlichen bzw. „totalen“ Phantasien begleitet, die den Eltern und ihren Kindern ganze „Ketten der Prävention“ als scheinbar lückenlose Systeme anbieten. Verloren gehen kann bei dieser tendenziell eher euphorischen Idee von Prävention eine genauere Analyse: Was ist Prävention, auf was bezieht sie sich konkret, wo hat sie ihre Grenzen, welchen Beitrag kann und sollte sie realistischerweise im Zusammenhang – im Vorfeld oder im Umfeld – mit den Hilfen zur Erziehung leisten?
Grundsätzlich ist zu bedenken, dass die Frühzeitigkeit professionellen Hinsehens eine steigende Inanspruchnahme der Hilfen zur Erziehung zur Folge hat oder haben kann, was neben dem beabsichtigten Effekt eines früheren Zuganges zu allgemeinen unterstützenden Angeboten auch eindeutig dem Zweck der Kinder- und Jugendhilfe (Förderung gelingenden Aufwachsens) entspricht und gesetzlich geboten ist. Eine Reduzierung der Zielstellung von Prävention auf die Verhinderung von Hilfen zu Erziehung ist aus rechtlichen und fachlichen Gründen nicht zulässig.
Ziel des vorliegenden Diskussionspapieres der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ ist es, einen Beitrag zur Stärkung des Präventionsgedankens insgesamt und insbesondere im Kontext der aktuellen Debatte zur Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung zu leisten. Dabei wird von einem Präventionsverständnis ausgegangen, das nicht nur auf die Verhinderung bzw. Vermeidung von problematischen Entwicklungsverläufen ausgerichtet ist, sondern in allen Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe insbesondere die Förderung von positiven Bedingungen des Aufwachsens fokussiert und die Jugendhilfeinstrumente als Ganzes in den Blick nimmt.
I. Begriff und Verständnis von Prävention
Prävention (prä – vor, venire – kommen = zuvor gekommen) ist auf einen zukünftigen Zustand gerichtet, der durch Angebote und Maßnahmen beeinflusst oder verhindert werden soll. Die Präventionsebenen werden allgemein nach Primär,- Sekundär- und Tertiärprävention unterschieden. Viele Definitionen sagen jedoch wenig über die jeweilige Zielperspektive von Prävention aus. Es ist daher zunächst zu bestimmen, was genau verhindert oder welchem Ereignis „vorgebeugt“ werden soll. Nur auf dieser Grundlage kann dann eine Aussage dazu getroffen werden, ob und wie das Ziel des jeweiligen Präventionshandelns erreicht werden kann.
Präventionsanstrengungen werden auf drei Ebenen unterschieden: Universale Maßnahmen oder auch primäre Präventionsmaßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe richten sich an alle Eltern und Kinder, unabhängig von ihrer konkreten Lebenslage, vom Risikomilieu und -niveau. Selektive oder auch sekundäre Prävention richtet sich an Personen und Gruppen, denen aufgrund von psychosozialen Charakteristika ein spezielles Risiko zugewiesen werden kann; hier ist konkrete Unterstützung/Förderung/Hilfe erforderlich, die ein höheres Maß an spezifischer Angemessenheit an die unterschiedlichen Lebenslagen beinhaltet. Indizierte oder auch tertiäre Prävention richtet sich an bereits von einem „Störungsprozess“ betroffenen Eltern und Kinder, d.h. hier sind spezifische Hilfen in belasteten Lebenssituationen gemeint.[1]
Das Konzept der primären Prävention enthält unabhängig von der Art des Systems (Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheit, Schule oder Berufsbildung u.a.) für die Akteure die Verpflichtung, frühzeitig und auf breiter Ebene Verantwortung für junge Menschen zu übernehmen. Dabei ist konzeptionell und methodisch zu beachten, dass jedes Präventionshandeln per Definition den Bezug zu einem potentiellen Problem und damit zu einem Negativum enthält. So besteht die Gefahr, dass die präventiven Hilfs- und Unterstützungsangebote auch einen Aspekt sozialer Stigmatisierung transportieren, denn sie definieren die Nutzerinnen und Nutzer der Präventionsleistung immer auch als „bedürftig“: Aus Eltern und Kindern in schwierigen Lebenslagen können so „schwierige“ Eltern und Kinder werden.[2]
Viele Eltern und Kinder werden aufgrund gesellschaftlich bedingter Benachteiligung oder benachteiligender Umfeldstrukturen zu Präventions-adressaten. Prävention muss daher auf die Verbesserung der Lebenssituation im Allgemeinen sowie auf die Förderung der sozialen Gerechtigkeit und somit auf die strukturellen Bedingungen gerichtet sein – dies auch vor dem Hintergrund der UN-Kinderrechtskonvention und der darin enthaltenen Forderungen nach positiven Entwicklungsmöglichkeiten, Nicht-Diskriminierung, Wahrung der Interessen von Kindern sowie deren Partizipation.
Präventiv ausgerichtete Konzepte der Kinder- und Jugendhilfe müssen also auch die komplexen und häufig überfordernden Lebensbedingungen und Belastungslagen von Familien, bedingt durch wachsende Armut in der Bevölkerung, höhere Ansprüche an ein gelingendes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen, vielfältige Anforderungen aufgrund verdichteter bzw. prekärer Arbeitsbedingungen insbesondere im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, im Blick haben. Unter Resilienzgesichtspunkten sind dabei insbesondere entwicklungs- und persönlichkeitsstärkende Kompetenzen in den Blick zu nehmen und diese mit den Angeboten und Hilfen der Kinder- und Jugendhilfe zu stärken und zu fördern.
Die Kinder- und Jugendhilfe hat nach § 1 SGB VIII neben dem Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Gefährdung auch die Aufgabe, junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen, indem sie dazu beiträgt, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten bzw. zu schaffen. Des Weiteren sollen Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützt werden. Dies hat umso mehr Bedeutung, wenn Eltern verunsichert und überfordert sind und Unterstützung im Hinblick auf Erziehungsfragen benötigen. Die von den Eltern formulierte Verunsicherung kann durchaus auch positiv im Sinne erhöhter Reflexivität von Eltern und Vermeidung autoritärer Erziehungsmethoden interpretiert und für eine frühzeitige Arbeit mit ihnen aufgegriffen werden.
Für eine breit verstandene Verantwortung für das Wohlbefinden von Kindern bedarf es daher einer qualitativ guten Infrastruktur, in der Angebote der Förderung von Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern mit den Ansätzen der sekundären und tertiären Prävention verknüpft werden. Dabei geht es auf Grundlage der Zielstellungen um aufeinander bezogene fachliche und methodische Ansätze, die jeweils ihre eigenen Möglichkeiten und Handlungsrahmen aufweisen. Hier ist vor allem die Jugendhilfeplanung gefragt, Verfahren zu entwickeln, um ihren vom Gesetzgeber zugewiesenen Auftrag im Hinblick auf eine integrierte Planung und den bedarfsgerechten Ausbau der Angebote und Leistungen selbstbewusst und aktiv wahrzunehmen.
II. Allgemeine Unterstützungsleistungen des SGB VIII mit Bezügen zu den Hilfen zur Erziehung und präventive Ansätze im Rahmen der Hilfe zur Erziehung
Das SGB VIII sieht differenzierte präventiv ausgerichtete Angebote vor, die auf die Förderung von Kindern und Jugendlichen und die Unterstützung von Müttern und Vätern bei der familialen Erziehung zielen. Allgemeine Beratungs- und Unterstützungsleistungen sind wesentliche Bausteine der Kinder- und Jugendhilfe, deren Auftrag es ist, mit ihren Strukturen das Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung und somit Kinder, Jugendliche und deren Familien bestmöglich zu fördern und zu unterstützen sowie soziale Benachteiligung abzubauen.
Für alle Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendhilfe besteht die Notwendigkeit, ihre Angebote und Hilfen stärker aufeinander zu beziehen sowie methodische und organisatorische Verknüpfungen mit dem Ziel einer möglichst frühzeitigen und passgenauen Unterstützung für junge Menschen und ihre Familien abzuleiten. An Beispielen primärpräventiver Leistungsangebote wird nachfolgend exemplarisch an der Schnittstelle zwischen Förderung und individueller Unterstützung skizziert, wo unter Beachtung der jeweils originären Aufgabenstellung Ansatzpunkte für eine stärkere Verknüpfung mit den Leistungen der Hilfen zur Erziehung zu sehen sind.
Angebote der Kinder- und Jugendarbeit
Mit der Kinder- und Jugendarbeit (§ 11 SGB VIII) sollen die Selbstbestimmung sowie gesellschaftliche Mitverantwortung und soziales Engagement angeregt und befördert werden. Wesentlich ist einerseits die aktive Mitbestimmung und Mitgestaltung durch die jungen Menschen an Projekten, Aktionen und Programmen sowie andererseits die Bildungsförderung im Rahmen dieses Handlungsfeldes. Damit nimmt die Kinder- und Jugendarbeit eine wesentliche Funktion im Rahmen der Aufgabe, verbesserte Teilhabe zu ermöglichen, Benachteiligungen und Belastungen im Alltagsleben abzubauen sowie die Selbstbestimmung der jungen Menschen zu stärken, ein.
Die Kinder- und Jugendarbeit ist insbesondere auf die Freizeit der jungen Menschen sowie an deren Freizeitgestaltung mit Gleichaltrigen gerichtet. Eine Vielfalt von Einrichtungen, Jugendverbänden und freien Zusammenschlüssen bzw. Initiativen gewährleisten unterschiedliche Angebotsformen mit vielfältiger Schwerpunktsetzung. Dazu zählt auch eine stadtteilorientierte Kinder- und Jugendarbeit, die im Lebensumfeld der jungen Menschen als aufsuchende Hilfe für Zielgruppen mit spezifischen Bedarfen angeboten wird. Solche Angebote einer lebens- und subjektorientierten Kinder- und Jugendarbeit bieten Chancen für eine niedrigschwellige Inanspruchnahme der Kinder- und Jugendhilfeleistungen.
Wenn Kinder- und Jugendarbeit im Gesamtkontext der Kinder- und Jugendhilfe wirksam sein soll, benötigt sie stabile finanziell und personell abgesicherte Strukturen. Vor allem mit einer längerfristigen, kontinuierlichen und verlässlichen Unterstützung und Begleitung der jungen Menschen im Rahmen der Kinder- und Jugendarbeit ist eine Förderung ihrer Entwicklung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu ermöglichen. An den Schnittstellen von Kinder- und Jugendarbeit und Hilfe zur Erziehung sollten sozialraum- und bedarfsbezogen integrierte Konzepte für gemeinsame Zielgruppen und Themenstellungen (z.B. im Rahmen von Jungen- und Mädchenarbeit, Gewaltprävention, Jugendbildung und Gruppenarbeit) entwickelt werden, die sich sowohl auf das Vorfeld von Hilfen zur Erziehung beziehen als auch methodisch mit ihnen verknüpft werden können (z.B. im Rahmen einer Sozialen Gruppenarbeit im Hinblick auf eine veränderte Freizeitgestaltung).
Angebote der Jugendsozialarbeit
Junge Menschen, die zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen auf Unterstützung angewiesen sind, stehen im Mittelpunkt der Leistung der Jugendsozialarbeit (§ 13 SGB VIII). Sie zielt auf die Förderung der schulischen und beruflichen Integration, der Eingliederung in die Arbeitswelt und der sozialen Integration von jungen Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf. Zudem nimmt die Jugendsozialarbeit eine ergänzende Funktion ein, indem sie sozialpä-dagogisch ausgerichtete Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen anbietet, wenn die Ausbildung der betroffenen jungen Menschen nicht durch Maßnahmen und Programme anderer Träger und Organisationen sichergestellt werden kann. Auch die Unterbringung in sozialpädagogisch begleiteten Wohnformen während der Teilnahme an schulischen und beruflichen Bildungsmaßnahmen oder bei der beruflichen Eingliederung zählt zu den Angeboten der Jugendsozialarbeit.
Eine zielbewusste Inanspruchnahme dieser Leistungen durch die Jugendlichen bedarf des Rückhalts der Eltern. Auch hier kann eine dynamische Wechselwirkung durch aufsuchende Arbeit mit den Eltern erreicht werden. Dabei handelt es sich bei diesem Angebot um eine weitere Schnittstelle zu den Hilfen zur Erziehung, die rechtzeitig den Bedarf von Jugendlichen erkennen, Jugendliche in Maßnahmen vermitteln als auch zur nachhaltigen Motivierung von Jugendlichen und Eltern beitragen kann.
Von zentraler Bedeutung ist es, die Angebote der Jugendsozialarbeit mit den Maßnahmen der Schulverwaltung, der Bundesagentur für Arbeit, der Träger betrieblicher oder außerbetrieblicher Ausbildung sowie der Träger von Beschäftigungsangeboten miteinander abzustimmen. Dies meint eine obligatorische Kooperation und Vernetzung von allen an der Förderung der jungen Menschen mit besonderen Bedarfen sowie an dem Übergang von Schule und Beruf Beteiligten, wenn sie Wirkung entfalten soll.
Angebote der Schulsozialarbeit
Schulsozialarbeit bietet ein sozialpädagogisches Angebot am Ort der Schule, das sowohl gruppenbezogene als auch individuelle Unterstützung und Förderung beinhalten kann. Ziel hierbei ist, durch ein niedrigschwelliges Angebot und einem frühzeitigen Zugang zur Familie individuelle und soziale Benachteiligungen von Schülerinnen und Schülern abzubauen.
Wesentliches Merkmal dieses Angebotes ist das kooperative Zusammenwirken sowie die notwendige und für beide Seiten verbindliche Abstimmung zwischen Schule und Kinder- und Jugendhilfe auf Augenhöhe. Durch die länderspezifischen, zum Teil örtlich unterschiedlichen Regelungen ist die Praxis sehr vielgestaltig. Das integrative Potential der Schulsozialarbeit kann dann Wirkung entfalten, wenn die Ziele klar vereinbart sowie kontinuierliche und professionelle Strukturen aufgebaut werden und auf eine längerfristige Zusammenarbeit angelegt ist. In der Schulsozialarbeit liegt ein großes Entwicklungspotential, da hier der gesetzliche Auftrag besteht, Systemgrenzen zu überschreiten und zum Wohle des Kindes und der/des Jugendlichen gemeinsame Perspektiven zu entwickeln.
Erzieherischer Kinder- und Jugendschutz
Maßnahmen des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes sollen insbesondere junge Menschen befähigen, gefährdende Einflüsse zu erkennen, und ihnen Fähigkeiten vermitteln, sich davor entsprechend zu schützen. Auch Erziehungsberechtigte sind darin zu unterstützen, Kinder und Jugendliche vor gefährdenden Einflüssen zu schützen. Die präventive Zielrichtung dieses Angebotes ist heute vor allem auf die Mediennutzung der Kinder und Jugendlichen bzw. auf die Beratung der Erziehungsberechtigten bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsverantwortung ausgerichtet. Dies stellt vor dem Hintergrund einer umfangreichen und steigenden Inanspruchnahme neuer Medien durch Kinder und Jugendliche eine bedeutende und handlungsfeldübergreifende Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe dar.
Allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie und Frühe Hilfen
Von zentraler Bedeutung dieser Leistung ist die Förderung und Unterstützung der Eltern, ihre Erziehungsverantwortung besser wahrnehmen zu können. Dieses Angebot nimmt Bezug auf die Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der sich daraus ergebenden Herausforderungen und Anforderungen für das Familienleben sowie das Erziehungsverhalten und entspricht damit einem breit angelegten Verständnis von Prävention.
Die vielfältige Angebotspalette umfasst unter anderem individuelle Hilfen, Gruppenangebote sowie sozialraumorientierte Konzepte. Im Vordergrund stehen Angebote der Familienbildung, der Familienberatung sowie die Angebote der Familienfreizeit und -erholung.
Zum Leistungsangebot zählen zudem – durch das Bundeskinderschutzgesetz nunmehr in § 16 SGB VIII gesetzlich verankert – die Frühen Hilfen, deren Angebote im primären, sekundären und tertiären Präventionsspektrum angesiedelt sind. Auch werdenden Müttern und Vätern sollen Beratung und Hilfe in Fragen der Partnerschaft und des Aufbaus der elterlichen Erziehungs- und Beziehungskompetenzen angeboten werden. Die Potenziale für die Stärkung präventiver Ansätze durch dieses Leistungsangebot sind vor allem zu sehen in
- der Erschließung neuer (nicht stigmatisierender) Zugänge für eine umfassend verstandene Zielgruppe (alle Schwangeren und werdenden Väter) und auch bisher nur schwieriger zu erreichende spezifische Zielgruppen,
- einem gelingenden Start von Eltern und Kind als Familie mit deren entsprechenden (positiven) Erwartungen – und nicht nur anknüpfend an ein bereits vorhandenes und entstandenes Defizit,
- einer Chance des interdisziplinären Zusammenarbeitens,
- einer frühen Einbindung in unterstützende Netzwerke und Sozialräume wie bspw. Gruppenangebote für Mütter und Väter, Kindertagespflege oder weitere Angebote der Kindertagesbetreuung.
Zudem haben gerade die Frühen Hilfen – wie bspw. die Erfahrungen aus dem Frühe-Hilfen-Projekt „Pro Kind“ zeigen3 – die Chance, „potenziell bedenkliche Entwicklungen in Bezug auf das Wohl des Kindes zu bemerken“ und die jungen Eltern darin zu unterstützen, ressourcenbezogen ihren weiteren Hilfebedarf zu erkennen und gegebenenfalls zu einer aktiven Annahme einer Hilfe zur Erziehung und für eine konstruktive Zusammenarbeit mit dem Jugendamt zu motivieren.
Angebote der Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung sowie der Personensorge, des Umgangs und des Unterhalts
Die Angebote der Beratung zum partnerschaftlichen Zusammenleben, zur Bewältigung von Konflikten und Krisen in der Familie sowie zur Wahrnehmung der Elternverantwortung nach Trennung und Scheidung (§ 17 SGB VIII) zielen wesentlich auf eine präventive Förderung und Unterstützung der Eltern/Familien, die unmittelbar vor oder in einer belastenden Situation stehen und diese zu bewältigen haben, was auch langfristig erforderlich sein kann. Leitgedanke ist dabei, dass das Zusammenleben und Beziehungsgefüge der Familie auch in der Konfliktlage weiterhin tragfähig zugunsten der Kinder und Jugendlichen sein soll. Durch frühzeitige Beratung kann im Vorfeld von krisenhaften Zuspitzungen an der Stärkung der Erziehungskompetenz gearbeitet werden – sowohl im Rahmen des bestehenden Familiensystems als auch bei der Neuorganisation der Eltern-Kind-Beziehung. Die präventiven Anteile dabei stehen in unmittelbarer Nähe zu den sekundären und tertiären Präventionsanteilen dieses Angebots, insbesondere wenn sie integrativ in Verbindung mit Erziehungsberatung als Hilfe zur Erziehung (§ 28 SGB VIII) erbracht werden.
Die Beratungsangebote nach § 18 SGB VIII für Fragen der Personensorgen, des Umgangs und des Unterhalts knüpfen häufig an die Phase nach Trennung bzw. Scheidung an, können aber auch unabhängig davon erforderlich sein. Ziel ist hierbei, Mütter und Väter, Kinder und Jugendliche auch in rechtlichen Fragestellungen zu beraten und zu unterstützen sowie insbesondere die Bewältigung der damit verbundenen schwierigen Lebenssituation zu fördern.
Angebote der Kindertagesbetreuung
Die Angebote zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege (§§ 22 ff. SGB VIII) stellt ein Regelangebot der Kinder- und Jugendhilfe dar. Der Förderungsauftrag umfasst die Erziehung, Bildung und Betreuung des Kindes. Im Mittelpunkt steht, die Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu fördern, Erziehung und Bildung in der Familie zu unterstützen und zu ergänzen sowie den Eltern bei Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Kindererziehung zu helfen. Die Ansätze dieser Kinder- und Jugendhilfe-leistung sind vor allem auch unter dem Aspekt sozialer Gerechtigkeit zu sehen und in diesem Sinn präventiv:
kindbezogen
- Erster nicht familiärer Erfahrungsraum für Kinder,
- Förderung der Chancengleichheit, Abbau sozialer und individueller Benachteiligung
elternbezogen
- Niedrigschwellige Anlaufstelle für Eltern zur Beratung und Unterstützung der Eltern durch Fachkräfte der Kita und/oder in Verbindung mit Fachkräften der Hilfen zur Erziehung (z.B. aufsuchende Erziehungsberatung am Ort Kita),
- Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf
stadtteilbezogen
- Potenziale zur Entwicklung von Kindertageseinrichtungen zu Familienzentren sowie zum Ausbau von Kooperationsstrukturen.
Es besteht insbesondere für die Schnittstelle Kindertagesbetreuung und Hilfe zur Erziehung die Anforderung, stärker als bisher die Angebote und Hilfen aufeinander zu beziehen. Das setzt voraus, dass die jeweiligen Strukturprinzipien und Möglichkeiten der Arbeitsfelder jeweils bekannt und respektiert sind, um auf dieser Grundlage z.B. systematisch Zugänge zu allgemeinen familienberatenden und -unterstützenden Leistungen für belastete Eltern (insbesondere auch für Alleinerziehende) zu schaffen und methodische Verknüpfungen (z.B. Hilfen zur Erziehung am Ort Kita oder bei entsprechenden Bedarfslagen die Realisierung von Angeboten der Familienbildung am Ort Kita für Eltern mit und ohne HzE-Leistungen) umzusetzen.
Präventive Ansätze im Rahmen der Hilfen zur Erziehung
Nicht unbeachtet bleiben dürfen auch die präventiv ausgerichteten Hilfen und Ansätze im Kontext einer Hilfe zur Erziehung. So können verstärkt niedrigschwellige Hilfen zur Erziehung (§§ 27, 28, 36a SGB VIII) systematisch entwickelt und beispielsweise mit Angeboten der Familienbildung (Elternbriefe, Elternabende in Kindertagesstätten, Wochenend-Freizeiten für Familien mit besonderem Förderbedarf) verknüpft werden und so auch eine wichtige präventive Wirkung erlangen. Durch diese methodischen Verknüpfungen können gravierende Hilfebedarfe frühzeitig erkannt und familienangemessener unterstützt werden. Das Leistungsspektrum nach §§ 27 ff. SGB VIII ist nicht abschließend aufgeführt. In § 27 Abs. 2 Satz 1 und § 36a Abs. 2 SGB VIII zeigt der Gesetzgeber ausdrücklich die Möglichkeit auf, neben der exemplarisch genannten Erziehungsberatung niedrigschwellige Zugänge auch innerhalb der Hilfen zur Erziehung weiter zu entwickeln. Auf dieser Grundlage können unter Berücksichtigung der regional unterschiedlichen finanziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen und der jeweiligen Kernaufgaben der Arbeitsfelder z.B. systematische Verknüpfungen von (definierten) niedrigschwelligen Hilfen zur Erziehung mit Regelangeboten (Kita, Schule) konzipiert werden.
III. Gelingensfaktoren für die präventive Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe – Herausforderungen und Perspektiven
1. Jugendämter als strategische Zentren
Der 14. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung bezeichnet die Jugendämter als „institutionellen Kern“ und „organisatorisches Herzstück“ der Kinder- und Jugendhilfe. Damit wird die bedeutsame Rolle der Jugendämter deutlich, die der Gesetzgeber ihnen zugewiesen hat. Daraus folgt, dass sie sich im Kontext einer präventiv ausgerichteten Kinder- und Jugendhilfe konsequent als lokale strategische Zentren für Fragen des Aufwachsens von jungen Menschen verstehen müssen. Insbesondere der Basisdienst Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD) des Jugendamtes nimmt bei der Ausgestaltung vernetzter präventiver Ansätze eine Schlüsselfunktion ein. Voraussetzung für die Umsetzung dieser Aufgabe ist, dass bei der personellen und finanziellen Ausstattung des ASD diese Aufgabenstellung angemessen berücksichtigt wird.[4]
Die Gestaltung, Planung und Weiterentwicklung von präventiven Angeboten und Leistungen im Kontext der Hilfen zur Erziehung bedarf zudem einer Jugendhilfeplanung, die neben der sozialräumlichen Aufarbeitung und Bewertung von differenzierten und validen Daten besonders auf Kommunikation, Kooperation, Beteiligung und Prozesshaftigkeit setzt. Eine Jugendhilfeplanung, die Präventionsansätze ausbauen soll, darf nicht innerhalb enger Ressort- und Bereichsgrenzen verhaftet sein. Vielmehr braucht es ein bereichs- und aufgabenübergreifendes Planungsverständnis. Dies gilt insbesondere für die Schnittstelle zur Schulentwicklungs- und Sozialplanung, aber auch zum Gesundheitswesen mit Blick auf aufeinander abgestimmte Frühe Hilfen und die sozialräumliche Angebotsstrukturen.
Die kommunale Netzwerkarbeit ist von hoher Bedeutung, weil Akteure der unterschiedlichen Systeme, Disziplinen und Professionen sich miteinander über Aufgaben und Ziele verständigen und dafür Sorge tragen können, dass die infrastrukturellen Voraussetzungen rechtzeitig und bedarfsgerecht zur Verfügung stehen und der Aufbau von Parallelstrukturen zusätzlich zu bereits bestehenden Netzwerken vermieden wird.
2. Zielgruppenspezifische niedrigschwellige Zugänge
Ist die Zielstellung und der Fokus von präventiven Ansätzen geklärt, ist für ein Gelingen von frühzeitiger Prävention zuallererst maßgeblich, dass die jeweilige Zielgruppe erreicht wird bzw. diese die Angebote annimmt. Den zuvor dargestellten allgemein fördernden Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe ist die Niedrigschwelligkeit des Angebotes gemeinsam. Dieser offene Zugang ist gleichermaßen Grundlage und Voraussetzung für eine stärker präventiv ausgerichtete und verknüpfte Kinder- und Jugendhilfe.
Wesentliche Kennzeichen und gleichzeitig Gelingensfaktoren für präventive Angebote und Ansätze der Kinder- und Jugendhilfe sind:
- nicht diskriminierende, geschützte Formen des Zugangs,
- einfache, unbürokratische Möglichkeit der Inanspruchnahme des Angebotes,
- Einbindung der Lebenswelt der Zielgruppen bzw. entsprechende räumliche Verortung des Angebotes sowie
- Partizipation von Kindern, Jugendlichen und Eltern.
Nicht nur der Zugang, auch die Arbeitsweisen der jeweiligen Angebote müssen in spezifischer Weise Merkmale von Niedrigschwelligkeit aufweisen. Bezogen auf belastete Familien und Zielgruppen besteht hier die Notwendigkeit der methodischen Weiterentwicklung bei Wahrung der Grundstruktur. Ferner sind Weiterentwicklungen in Kooperation mit den im Zugang „hochschwelligen“ Angeboten bspw. der Sozialpädagogischen Familienhilfe vorstellbar oder auch die Kombinationen von Angeboten, wie beispielsweise aufsuchende Einzelarbeit und Gruppenarbeit[5].
Wesentlich für die Fortentwicklung der Prävention ist stets die Kooperation mit Institutionen und Einrichtungen, die von den jeweiligen Zielgruppen im Alltag und in der Freizeit regelmäßig und selbstverständlich bzw. obligatorisch aufgesucht werden.
3. Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Familien
Leistungen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe zielen darauf ab, die Handlungsfähigkeit des Einzelnen / der Einzelnen zu stärken und einer Verfestigung von Problemlagen frühzeitig entgegenzuwirken. Eine der wesentlichen Voraussetzungen hierfür ist, dass die Adressatinnen und Adressaten – unabhängig davon, ob es sich dabei um Kinder, Jugendliche oder Erwachsene handelt – als handlungsfähig und wirkmächtig erfahren. Hierauf verweisen Studien zum Capabilities Ansatz, der Resilienzforschung oder auch der Gewalt- und Kriminalitätsprävention ebenso wie Partizipationsprojekte zur Demokratiebildung von Kindern und Jugendlichen.
Partizipation ist Ausdruck von Menschen- und Kinderrechten und verlangt, jungen Menschen wie Erwachsenen als Subjekte zu begegnen. Sie ist das wichtigste pädagogische Mittel zur Erreichung von nachhaltigen Lösungen und Übernahme von Eigenverantwortung. Im Rahmen der Weiterentwicklung präventiver Angebote bedeutet dies, Kinder, Jugendliche und Familien, wo immer es fachlich sinnvoll ist, aktiv an der Planung und Ausgestaltung von Angeboten und Maßnahmen zu beteiligen und entsprechend Zeit und Kompetenzen in die partizipative Gestaltung der jeweiligen Prozesse zu legen.
Partizipation muss für alle Angebote konkretisiert und operationalisiert werden. Dies stellt eine Herausforderung vor allem im Bereich sekundärer Prävention dar, da die Diagnostik innerhalb und außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe im Hinblick auf sozialrechtliche Aspekte eher defizitorientiert ist. Hier gilt es, konsequent ressourcenorientiert zu denken und methodische Ansätze zu fördern (z.B. partizipative Verfahren wie die Family Group Conference) und das Hilfeplanverfahren darauf auszurichten, dass systematisch alters- und situationsbezogen Kinder, Jugendliche und Eltern einbezogen werden.
4. Netzwerkarbeit und Kooperation
Wie der Aufbau von präventiven Netzwerken und eine darauf ausgerichtete Kooperation gelingen kann, wurde in verschiedenen Zusammenhängen und Projekten erprobt und evaluiert. Ein Blick auf die Erkenntnisse aus etablierten Projekten, wie beispielsweise „Mo.Ki – Mohnheim für Kinder“, der Entwicklung regionaler und kommunaler Bildungslandschaften oder des Aktionsprogramms „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“, lohnt. Es zeigt sich dabei jedoch auch, dass die Kooperation von Akteuren unterschiedlicher Disziplinen besondere Anforderungen beinhaltet, die der planvollen, abgestimmten Steuerung bedürfen, um unterschiedliche Systemlogiken, Organisationsstrukturen und professionelle Selbstverständ-nisse konstruktiv miteinander in eine Koproduktion bringen zu können.
Im Hinblick auf die Bedingungen gelingender Kooperation ist daher insbesondere zu berücksichtigen,
- dass auf Grundlage der je eigenen Aufgabenbereiche und Aufträge eine Verständigung zu gemeinsamen und unterschied-lichen Zielsetzungen der Akteure erfolgt,
- dass gemeinsame Standards entwickelt werden, unterschiedliche Sprachformen akzeptiert, aber auch gemeinsame und geduldige Verständigungsprozesse unternommen werden,
- dass keine Disziplin eine dominante Definitionsmacht für sich in Anspruch nimmt, so dass wertschätzende Kommunikation und partnerschaftliches Handeln eher wahrscheinlich werden, was Zeit für Aushandlungsprozesse erfordert,
- dass die jeweilige Disziplin transparent ihre Möglichkeiten und Grenzen darstellt, so dass Vertrauen entstehen kann und die jeweiligen Kompetenzen anerkannt und genutzt werden können,
- dass eine „federführende“ Stelle diese Prozesse koordiniert und Vereinbarungen der unterschiedlichen Beteiligten geschlossen werden.
Die Erfahrung zeigt, dass Vernetzung und Kooperation zur Bereitstellung und Bündelung vielfältiger präventiver Angebote und Hilfemaßnahmen verschiedener Akteure nur dann zuverlässig funktioniert, wenn ihr Verbindlichkeit zugrunde liegt. Erforderlich ist dafür eine jeweils verbindliche Verpflichtung der verschiedenen Akteure und Institutionen aus Kinder- und Jugendhilfe, Schule, Gesundheitswesen, Stadtentwicklungsplanung, Quartiersmanagement zur Kooperation sowie die Bereitstellung bzw. Berücksichtigung der hierfür notwendigen zeitlichen und finanziellen Ressourcen.
Wesentliche Grundlage und ein weiterer Gelingensfaktor für die Förderung einer abgestimmten und auf die gute Entwicklung und Förderung von Kindern und Jugendlichen ausgerichteten Infrastruktur und Hilfelandschaft ist nicht zuletzt eine integrierte Jugendhilfe-, Schul-, Gesundheits- und Stadtteil-planung. Für sie gilt all das, was für gelingende Kooperation allgemein gilt. Eben hierin liegt der anspruchsvolle und durchaus auch innovative Gehalt einer entsprechenden Weiterentwicklung der bestehenden Praxis, flankiert durch entsprechende weiterführende, differenzierte Regelungen durch Finanzierungsmodelle und -instrumente auch jenseits des SGB VIII.
IV. Ausblick
Grundsätzlich sollte Prävention auch im Kontext der verschiedenen, zum Teil benachbarten Leistungssysteme (Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheit, Schule, Bundesagentur für Arbeit u.a.m.) gesehen werden und betrifft damit alle Systeme, die Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen tragen. Eine zentrale Herausforderung stellt hierbei der Umgang mit den Kostenfolgen dar. Dabei muss berücksichtigt werden, dass es einer gesamtgesellschaftlichen Vergewisserung bedarf, welchen Stellenwert die Leistungen und Wirkungen der Kinder- und Jugendhilfe haben (sollen). Über das System der Kinder- und Jugendhilfe hinaus ist eine verstärkte Verantwortungsübernahme für das Wohlbefinden und Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen seitens anderer Regelsysteme einzufordern, um Synergieeffekte zu ermöglichen.
In diesem Sinn ist eine stärkere Vernetzung und Kooperation mit weiteren gesellschaftlichen Akteuren erforderlich. Notwendig ist aber auch, anhand der gesetzlichen Aufträge und Ziele, die jeweiligen Grenzen der Leistungssysteme zu definieren.
Innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe ist anzustreben, die immer wieder beklagte „Versäulung“ von Angebotsstrukturen wo immer möglich systematisch zugunsten von flexiblen und aufeinanderbezogenen Angebots- und Hilfeformen weiterzuentwickeln. Zentrale Bedeutung hat hierbei, das bereits Bestehende (wie etwa Mütterzentren, Mehrgenerationenhäuser, Streetwork, Netzwerkstellen Frühe Hilfen, Familienzentren, Kooperationen zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Ganztag) aufzugreifen und daran anknüpfend weiterzuentwickeln. Zudem bildet die partnerschaftliche Zusammenarbeit von Trägern der öffentlichen und freien Jugendhilfe vor dem Hintergrund des Erfahrungsaustausches und der gemeinsamen Verantwor-tungsübernahme eine zentrale Basis.
Vor dem dargestellten Hintergrund besteht insbesondere auch für das Arbeitsfeld der Hilfen zur Erziehung die Notwendigkeit, auf die komplexen gesellschaftlichen und somit auch familiären Situationen stärker als bisher mit interdisziplinären, hilfegrenzenüberschreitenden (jugendhilfeintern und -extern) individuellen Hilfen und Angeboten zu reagieren und im Verbund mit den anderen Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe die Instrumente und Strukturen methodisch und organisatorisch weiter zu entwickeln.
Die Erziehungshilfen sind gefordert, ihr spezifisches (präventives) Leistungs-potential klar zu definieren und transparent in einen interdisziplinären Hilfekanon einzubringen. Spezifizierung und Profilierung ist in diesem Zusammenhang nicht als Abgrenzung, sondern als notwendiger Baustein professioneller Netzwerkarbeit zu verstehen.
Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 28./29. November 2013
[1] Heinz Kindler/Daniela Schmidt-Ndasi: „Wirksamkeit von Maßnahmen zur Prävention und Intervention im Fall sexueller Gewalt gegen Kinder“, AMYNA e.V. – Institut zur Prävention von sexuellem Missbrauch (Hrsg.), 2011
[2] vgl. Michael Böwer: „Aufbruch: wohin – womit – wozu? Aktuelle Entwicklungen im Kinderschutz“, In: Die Kinderschutzzentren (Hrsg.): „Aufbruch – Hilfeprozesse gemeinsam gestalten“, 2013
[3] Refle, M./Helm, G./Geisler: „Prävention oder Intervention: Kinderschutz im Rahmen Früher Hilfen“, S. 152-169, In: Brand, T./Jungmann, T. (Hrsg.): „Kinder schützen, Familien stärken. Erfahrungen und Empfehlungen für die Ausgestaltung Früher Hilfen aus der „Pro Kind“-Praxis und -Forschung“, 2013
[4] Siehe auch „ASD – mehr als Kinderschutz! Ziele, Aufgaben, Methoden, Werte und Orientierung im Hinblick auf die Kinder- und Jugendhilfe“, Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ, 2010
[5] Beispiel: Projekt „STEEP“ (Steps towards effective and enjoyable parenting) – Wie Elternschaft gelingt. Siehe dazu: Suess, G.J./ U. Bohlen, U./Mali,A./ Maier,F M.: „Erste Ergebnisse zur Wirksamkeit Früher Hilfen aus dem STEEP-Praxisforschungsprojekt „WiEge“. In: Bundesgesundheitsblatt 2010, S. 1143–1149.