Armut von jungen Menschen in Familien
Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
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Einführung
Kinder bilden mehr denn je den Mittelpunkt der Familie. Sie erfahren weitaus mehr Zuwendung und Förderung als früher, werden stärker als eigenständige Persönlichkeiten respektiert und haben deutlich größere Freiheitsspielräume als die Generation ihrer Eltern und Großeltern. Das sind wichtige Ergebnisse des „Generationenbarometers 2009“[1], das mit seinen Befunden auch dem aufkeimenden Generalverdacht des Erziehungsversagens von Eltern entgegentritt: Dort, wo Familien viel Zeit miteinander verbringen, wo die Mitglieder Zuneigung erfahren, dort ist der Zusammenhalt besonders groß und sind die Erziehungsprobleme am geringsten.
Das, was Eltern über die Erziehung ihrer Kinder für die Gesellschaft leisten können, steht jedoch in Verbindung mit dem, was ihnen die Gesellschaft an Ressourcen zur Seite stellt. Viele Familien stehen unter Druck: Sie wollen und sollen förderliche Entwicklungsbedingungen für ihre Kinder gestalten, ohne aber vielfach die erforderliche materielle Ausstattung zur gesellschaftlichen Teilhabe, eine funktionierende Infrastruktur sowie über Optionszeiten im Lebensverlauf zu verfügen.
Kinder und Jugendliche sind die Generation, die in Deutschland die höchsten Armutsrisikoquoten aufweist. Im Jahr 2007 verfügten ca. 2,4 Millionen Kinder und Jugendliche in 1,4 Millionen Haushalten in Deutschland über ein Einkommen, das unterhalb von 60 Prozent des gewichteten Medianeinkommens lag[2]. Allein 1,9 Mio. Kinder unter 15 Jahren sind auf den Bezug von Sozialgeld im SGB II angewiesen. Darüber hinaus erhalten rund 250.000 Kinder den Kinderzuschlag. Armutsgefährdet sind insbesondere Kinder und Jugendliche, die in Haushalten von Alleinerziehenden leben, einen Migrationshintergrund haben oder in Mehrkindfamilien aufwachsen. Dem höchsten Armutsrisiko sind Kinder zwischen 15 und 18 Jahren ausgesetzt. In dieser Gruppe lebt fast jede/r vierte Jugendliche mit einem Armutsrisiko.
Zur Bestimmung von Armutsquoten in Deutschland stehen verschiedene Datengrundlagen zur Verfügung (EVS, SOEP, EU-SILC). Zudem werden in der fachpolitischen Diskussion oft unterschiedliche Berechungsgrundlagen für die Ermittlung der Armutsrisikoquote verwandt, was eine Vergleichbarkeit dieser Zahlen erschwert bzw. unmöglich macht. Ungeachtet dessen, weisen alle Datensätze ein anhaltend hohes bzw. steigendes Armutsrisiko von Kindern und Jugendlichen aus.
Bei der Betrachtung von Armut von Kindern und Jugendlichen reicht jedoch eine einkommenszentrierte Sicht nicht aus. Armut entscheidet sich nicht nur an der materiellen Ausstattung, sondern bemisst sich auch an den Möglichkeiten der sozialen und kulturellen Teilhabe sowie der physischen und psychischen Gesundheit. Diese Faktoren bedingen sich häufig wechselseitig. Auch die Möglichkeiten zur Bewältigung von Armutslagen variieren je nach persönlichen und systemischen Ressourcen.
Kinder entwickeln ihre sozialen und kulturellen Fähigkeiten in Abhängigkeit von der ökonomischen Lage ihres Elternhauses. Dabei verfügen Kinder aus armen Familien über weitaus weniger Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten, z.B. in Vereinen, außerschulischen Bildungsangeboten und kindergerechten Informationsmöglichkeiten. Beeinträchtigungen, die Kinder und Jugendliche in ihren Familie erfahren, können sich im Laufe ihrer Sozialisation verstärken und damit zu Risikofaktoren für die individuelle Lebensgestaltung und für das gesellschaftliche Zusammenleben werden. Problemlagen in Familien beruhen häufig auf Armut oder damit einhergehenden Bildungsdefiziten. Gerade in Deutschland gilt: Je ärmer die Familien sind, desto geringer der Schulerfolg der Kinder. Oft schließt sich hier ein Teufelskreis, wenn die Eltern selbst schon in prekären Lebensbedingungen aufgewachsen sind. Diese Eltern brauchen externe Unterstützungsangebote, damit Kinder und Jugendliche im familiären Umfeld förderliche Rahmenbedingungen vorfinden und so ein langfristiges Armuts- und Benachteiligungsrisiko vermieden werden kann.
Familien stehen angesichts des rasanten gesellschaftlichen Wandels vor enormen zeitlichen Herausforderungen. Einerseits wollen und sollen Eltern sich stärker an Erwerbsarbeit mit den damit verbundenen Anforderungen von Flexibilität und Mobilität beteiligen, was andererseits häufig in ein Spannungsverhältnis zu dem tritt, was Eltern an Zeit für das Zusammensein mit ihren Kindern wünschen bzw. für notwendig halten.
Familienpolitik hat die Aufgabe, ein wirksames und effizientes System von Leistungen bereitzustellen, das Armutsrisiken minimiert bzw. die Folgen von Kinderarmut abmildert und Möglichkeiten eröffnet, wie sich Familien aus prekären Lebenslagen befreien können“[3]. Notwendig ist hierfür ein abgestimmtes Maßnahmenpaket aus Transfer-, Infrastruktur- und Zeitpolitik, welches im folgenden Themenaufriss dargestellt wird.
1. Transferpolitik
Da die materielle Ausstattung das Kernproblem von Kinder- und Jugendarmut ist, aus der sich eine Vielzahl von Unterversorgungslagen ergeben können, ist zunächst die wirtschaftliche Stabilität und die Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Handlungsfähigkeit von Familien im Lebensverlauf zu gewährleisten.
Familien unterliegen einem höheren Armutsrisiko, da sie die direkten Kosten für ihre Kinder überwiegend selbst finanzieren müssen und zusätzlich indirekte Kosten zu bewältigen haben, die aus dem Verzicht auf bzw. eingeschränkter Erwerbsarbeit resultieren.
Aufgrund der Unterhaltsaufwendungen für ihre Kinder sind sie auch besonders davon betroffen, wenn Erwerbseinkommen im wachsenden Niedriglohnbereich oder wegen des Abbaus familienbezogener Lohnkomponenten zum Unterhalt der Familien nicht mehr ausreichen.
1.1 Direkte Kosten
Sachverhalt:
- Die Aufwendungen für die direkten Kosten für Kinder im Bereich der sächlichen Existenzsicherung sind erheblich. Der Staat honoriert diese Leistungen der Familien durch die Freistellung dieser Aufwendungen von der Einkommensbesteuerung, was im Wesentlichen über das Kindergeld abgegolten wird. Da, wo das Kindergeld die Freistellung des Kinderexistenzminimums übersteigt, dient das Kindergeld der Förderung der Familien. Familien, die nur wegen der Bedarfe ihrer Kinder auf Leistungen des SGB II angewiesen sind, erhalten zum Kindergeld und Wohngeld den Kinderzuschlag. Damit soll das sächliche Existenzminimum der Kinder eigenständig abgesichert werden.
Anforderungen:
- Die sächlichen Aufwendungen für Kinder sind im Transfer- und Niedrigeinkommensbereich über ein dem SGB II vorgelagertes System staatlicher Transfers sicherzustellen. Dies kann in Form einer Kindergrundsicherung erfolgen, die mit wachsendem Einkommen degressiv gestaltet wird. Alternativ sind Modelle einer steuerfinanzierten einheitlichen Kindergrundsicherung zu prüfen, die gesamtgesellschaftlich unter Berücksichtigung der individuellen Leistungsfähigkeit der einzelnen Steuerzahler refinanziert werden. Grundlage dafür ist eine sachgerechte Bestimmung des Existenzminimums von Kindern, die bisher nicht gegeben ist.
- Da das Familieneinkommen aber stark von Transfereinkommen bestimmt wird, muss über eine Dynamisierung familienbezogener Leistungen vermieden werden, dass auch Familien - obwohl sie an der allgemeinen Lohnentwicklung teilhaben - in relative Armut geraten.
- Für die Entwicklungs- und Teilhabechancen unabdingbare Kosten, wie z.B. für Lernmittel, erforderliche Mobilität, kostengünstige Verpflegung in Ganztageseinrichtungen, sollten in Form von befähigenden Sachleistungen für alle Kinder gleichermaßen verfügbar sein.
1.2 indirekte Kosten
Sachverhalt:
- Eltern, die aufgrund von Sorge- oder Pflegeleistungen nicht oder nur eingeschränkt erwerbstätig sein können oder wollen, entstehen sogenannte Opportunitätskosten. Das Elterngeld kompensiert weitgehend diese indirekten Kosten in Form einer Lohnersatzleistung für die ersten 12 bzw. 14 Lebensmonate eines Kindes. Außer der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bei Erkrankung der Kinder findet kein weiterer Ausgleich für Opportunitätskosten bei Sorgeleistungen der Eltern statt. Sofern sie Pflegeleistungen gegenüber ihren Eltern erbringen, soll dies über das Pflegegeld abgegolten sein.
Anforderungen:
- In Zeiten, in denen aufgrund von notwendigen Sorge- oder Pflegeleistungen eine Erwerbstätigkeit nicht oder nur eingeschränkt durchgeführt werden kann, besteht bezüglich der Opportunitätskosten ein hohes Armutsrisiko für Familien, und hier vor allem für alleinerziehende Eltern. Insbesondere innerhalb der gesetzlichen Elternzeit, bei besonders pflegebedürftigen Kindern wie auch im Rahmen der Pflege von Seniorinnen und Senioren sind Kompensationsleistungen zur Absicherung familiär erbrachter Sorge- und Pflegeleistungen dringend erforderlich.
- Eine familienfreundliche Arbeitswelt sowie bedarfsgerechte Kinder-tagesbetreuungsangebote verbessern entscheidend die Erwerbschancen von Eltern.
2. Infrastruktur
Familien benötigen im Lebensverlauf und besonders in bestimmten Lebenslagen eine Vielzahl von Unterstützungsleistungen. Diese sind erforderlich, um ad hoc gezielte Hilfestellungen abrufen zu können oder aber, um Familien zu entlasten und Freiräume zu eröffnen.
Mütter und Väter sollen und wollen familiäre mit beruflichen Aufgaben gut miteinander verbinden. Zur Sicherung ihres Lebensunterhalts sind sie im wachsenden Maße auf Erwerbsbeteiligung angewiesen. Um Konflikte zu entschärfen, die sich aus der Gleichzeitigkeit von familiären und beruflichen Aufgaben ergeben, sind Familien auf Rücksichtnahmen im Erwerbsalltag angewiesen. Sie benötigen bedarfsgerechte infrastrukturelle Unterstützung, um ihre Fürsorge- und Pflegeleistungen weiterhin erbringen zu können. Nicht nur bei Kindern im KiTa-Alter, sondern auch später im Schulalter muss Erwerbsarbeit mit den Aufgaben und Anforderungen, die sich aus der Elternschaft ergeben, vereinbar sein.
Sachverhalt:
- Eltern sind die primären Sozialisationsinstanzen für ihre Kinder und prägen deren Entwicklungschancen entscheidend mit. Auf die Vielzahl der damit verbundenen Aufgaben werden sie aber in ihrem eigenen Werdegang nicht systematisch vorbereitet. Gerade zu Beginn der Elternschaft fehlen verlässliche Informations- und Unterstützungsangebote, an die sich Eltern mit ihren Fragen und neu entstandenen Belastungen wenden können. Die wenigen Angebote im Rahmen der Familienbildung erreichen häufig nicht die Familien mit dem größten Unterstützungsbedarf.
- Der Bericht „Bildung in Deutschland“[4] belegt, dass Kinder von Eltern mit „niedrigen“ Bildungsabschlüssen seltener eine Kindertageseinrichtung besuchen als Kinder von Eltern mit formal höherer Qualifizierung. Zudem halten Bildungspolitiker entgegen den Forderungen der Fachöffentlichkeit und der Wissenschaft am frühen Separieren und Selektieren fest. Im Hinblick auf in Bildungszusammenhängen benachteiligte Kinder müssen Voraussetzungen in der Schule geschaffen werden, die eine individuelle Förderung ermöglichen. In den vorhandenen Schulsystemen fehlt dafür die Zeit, die Möglichkeiten zum Ausgleich fehlender Ressourcen im familiären Umfeld sind begrenzt und Kompetenzen, die die Schule derzeit nicht vermittelt, können nicht einbezogen werden.
- Der Bildungserfolg von Kindern und deren Teilhabechancen sind in Deutschland besonders von ihrer soziokulturellen Herkunft abhängig. Wir lassen es zu, dass nahezu 10% der Jugendlichen ohne Schulabschluss und 15% ohne Ausbildungsabschluss bleiben. Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg deutet darauf hin, dass die Unterstützungssysteme insbesondere bei Familien in prekären Lebensverhältnissen nicht hinreichend sind, um milieubedingte Nachteile auszugleichen.
- Zivilgesellschaftliches Engagement kann bei der Unterstützung von Familien in ihrer Sozialisations- und Erziehungsaufgabe sehr wertvoll sein. Sowohl bei überbrückenden oder längerfristig begleitenden Hilfen als auch beim Aufbau von sozialen Netzwerken ist menschliche Zuwendung begleitend zu fachlicher Professionalität unabdingbar.
Anforderungen:
- Eltern müssen in der Zusammenarbeit mit Institutionen sowie auch im Rahmen der Familienbildung und -beratung in ihrer Erziehungs-, Bildungs- und Versorgungsaufgabe Unterstützung finden können. Es bedarf der Weiterentwicklung von Handlungsansätzen, um auch Familien, die nicht in der Lage sind, entwicklungsförderliche Bedingungen für ihre Kinder zu gestalten, zu erreichen, ohne Stigmatisierungen vorzunehmen. Ein entsprechend gestaltetes Angebot ist die Voraussetzung dafür, dass die Inanspruchnahme von Unterstützung bei Bedarf zur Selbstverständlichkeit werden kann und Entwicklungsrisiken zu minimieren hilft. Unterstützungsbedarf besteht vor allem in den Bereichen Ernährung, physische und psychische Entwicklung, altersgerechte Umgebung, Beschäftigung und Förderung sowie soziales Lernen der Kinder.
- Insbesondere präventive Bildungs- und Unterstützungsangebote brauchen im Sinne der Befähigung von Familien einen verlässlichen rechtlichen und finanziellen Rahmen. Es gibt Lücken in der gesetzlichen Verbindlichkeit präventiver Hilfen. Die im § 16 SGB VIII normierte Leistung auf „Allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie“ muss, mit Zielrichtung präventiver Hilfen, rechtlich verbindlicher ausgestaltet werden.
- Beim derzeitigen Ausbau der Kindertagesbetreuung der unter Dreijährigen sind quantitative und qualitative Erfordernisse zu berücksichtigen. Die Vergabe von Plätzen in Kindertageseinrichtungen darf nicht von der Erwerbstätigkeit der Eltern abhängig sein. Der quantitative Ausbau erfordert die Sicherung der dazu notwendigen Finanzmittel, insbesondere für das zusätzlich benötigte Personal. Aufgrund der besonderen Bedürfnisse und Abhängigkeiten von Kindern unter drei Jahren in dieser frühen Entwicklungsphase sind an die außerfamiliären Betreuungsangebote, an den Betreuungsschlüssel sowie an die Ausbildung, Reflexionsfähigkeit, Erfahrung und menschliche Reife der pädagogischen Fachkräfte besonders hohe qualitative Anforderungen gestellt.
- Da eine qualifizierte Bildung von Kindern im allgemeinen Interesse ist, ist der Besuch einer Tageseinrichtung ab dem 3. Lebensjahr gezielt zu bewerben. In Kindertageseinrichtungen als Elementarbereich sind die Zugangsbarrieren gerade auch für Kinder mit Migrationshintergrund zu verringern und ist eine Beitragsfreiheit anzustreben. Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen sind im Hinblick auf die erweiterten Anforderungen z.B. im Bereich der Sprachförderung, der interkulturellen Kompetenzen und der Zusammenarbeit mit Eltern besser zu qualifizieren.
- Schulen müssen sich zu attraktiven Lebenswelten für Kinder und Jugendliche entwickeln. Ganztagsschulen haben mehr Möglichkeiten, herkunftsbedingte Nachteile durch individuelle Lern- und Förderangebote auszugleichen und Eltern die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit zu erleichtern. Ausgehend von einem integrativen Bildungsverständnis, muss der Schulalltag an der Lebenswirklichkeit der Kinder orientierte variable Lernsituationen eröffnen. Schule muss sich für Fachkräfte öffnen, die andere, zusätzliche Kompetenzen in den Lernalltag einbringen können.
- amilien brauchen verlässliche Unterstützung durch professionelle Helfer wie auch durch Formen der Rücksichtnahme in der Zivilgesellschaft. Gerade Menschen ohne Sorge- und Pflegeaufgaben können hierfür angesprochen werden. Ziel muss es sein, im Mix aus beruflichen und zivilgesellschaftlichen Elementen eine verlässliche Unterstützungskette zu organisieren, die von der Geburt bis zur Berufsausbildung frühzeitige Begleitung, Beratung und Unterstützung garantiert. Auch Kinder und Jugendliche brauchen niedrigschwellige Anlaufstellen, wenn sie Hilfen benötigen.
3. Familien- und kinderfreundliche Umwelten
Damit Kinder gerecht aufwachsen können, benötigen Familien neben monetären Leistungen und infrastrukturellen Angeboten grundsätzlich familien- und kinderfreundliche Umwelten sowie entsprechende Zeitressourcen.
Sachverhalt:
- Zeit füreinander zu haben, ist die Voraussetzung für Beziehung, Bindung und Fürsorge und somit auch Grundbedingung für Familienleben. Insbesondere Eltern mit kleinen Kindern klagen über Zeitnöte aufgrund der ständig steigenden Anforderungen an Flexibilität und Verfügbarkeit in der heutigen Arbeitswelt. Gerade für Kinder und Jugendliche ist es besonders wichtig, ein verlässliches Zeitmanagement in der Familie zu haben. Insbesondere bei niedrigen Einkommen sind die Abhängigkeiten von den vorgegebenen Arbeitsbedingungen oftmals sehr groß, so dass sie oft im Widerspruch zu den Wünschen und Bedürfnissen von Kindern und ihren Eltern stehen.
- 40 Prozent der Familien klagen laut dem Siebten Familienbericht[5] über beengte Wohnverhältnisse, was das Familienklima unter den Familienmitgliedern ungünstig beeinflusst. Jede fünfte armuts-gefährdete Person lebt in einer Wohnung mit Feuchtigkeit[6]. Im Wohnungsmarkt findet wieder zunehmend eine soziale Segregation mit der Bildung von „Problemvierteln“ statt.
- Familien mit Armutskontexten sind besonderen gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt – Stress durch Arbeitslosigkeit oder schlechte Arbeitsbedingungen, Konflikte in Folge geringen Einkommens etc. Die gesundheitliche Beeinträchtigung von Kindern, die in Armut aufwachsen, ist mittlerweile in Studien gut belegt[7]. Diese Kinder weisen demnach Entwicklungsverzögerungen und Gesundheitsstörungen auf und unterliegen einem erhöhten (Unfall-) Verletzungsrisiko. Gesundheitspräventives Verhalten ist bei armen Kindern wenig ausgeprägt. Der 13. Kinder- und Jugendbericht stellt fest, dass Kinder und Jugendliche mit psychosozialen Armutsrisiken (z. B. das Aufwachsen in familiärer Armut) auf die wachsenden Anforderungen von unterschiedlichen Seiten (z. B. Familie, Schule, Gleichaltrige) u.a. mit einer gesteigerten Infektionsanfälligkeit, psychosomatischen Beschwerden, einem unangemessenen Ernährungs-, Bewegungs- und Mediennutzungsverhalten oder gesteigerter Aggressivität reagieren können.[8]
Anforderungen:
- Um familiäre Fürsorge und Pflege zu sichern, ist auch die Arbeitswelt gefordert, ihre Flexibilitätserwartungen an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu begrenzen und ein Maß an Verlässlichkeit zu unterstützen, das zur Gestaltung von Familie notwendig ist. Menschen, die Sorgeleistungen erbringen, brauchen dafür im erforderlichen Umfang Zeitbudgets, die nicht mit individuellen Nachteilen verbunden sein dürfen. Entsprechende Zeiträume zu eröffnen, ist Aufgabe der Arbeitswelt. Zeitbudgets infrastrukturell und finanziell abzusichern, muss aufgrund des gesamtgesellschaftlichen Interesses an privat erbrachten Sorgeleistungen auch gesamt-gesellschaftlich getragen werden.
- Bei der Schaffung von preisgünstigem Wohnraum sind private Investoren und kommunale Wohnungsunternehmer gleichermaßen gefordert. Um Ghettobildungen zu vermeiden, ist eine soziale Wohnraumpolitik notwendig, die geförderte Wohnungen auf verschiedene Stadtteile verteilt und nicht in Brennpunkten konzentriert. In den Quartieren sind Stadtteilzentren mit multifunktionalen Zwecken, Spielplätze, Kindertageseinrichtungen, Schulen, Beratungsstellen etc. für eine gelingende Quartiersentwicklung unverzichtbar.
- Im Sinne des Konzeptes der WHO ist die gesundheitspräventive Handlungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen im Alltag zu stärken. Kinder, Jugendliche und deren Familien müssen in ihren jeweiligen Lebenswelten erreicht und situationsbezogen gesundheits-bezogene Impulse wie in den Bereichen Ernährung und Bewegung bekommen. Dazu gehören auch regelmäßige medizinische Untersuchungen in Kindertageseinrichtungen und Schulen. Maßnahmen der gesundheitlichen Vorsorge und Rehabilitation in Form von Mutter-, Mutter/Kind- und Vater/Kind-Kuren müssen bei Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen niedrigschwellig verfügbar sein.Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 30. September / 01. Oktober 2009
[1] Forum Familie stark machen e.V., Generationenbarometer 09, Repräsentativbefragung des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag des Forums Familie stark machen e.V., April 2009
[2] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Familienreport 2009, Februar 2009
[3] BMFSFJ, Familienreport 2009
[4] Konsortium Bildungsberichterstattung (Hrsg.), Bildung in Deutschland, Im Auftrag der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, 2006
[5] BMFSFJ, Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit, Siebter Familienbericht, Mai 2006
[6 Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Lebenslagen in Deutschland. 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Juli 2008
[7] z.B. Robert Koch-Institut in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt, Armut bei Kindern und Jugendlichen. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, 2005 / Robert Koch-Institut, Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS), 2006
[8] BMFSFJ, 13. Kinder- und Jugendbericht, Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, Juni 2009