Chancen für junge Menschen beim Übergang von Schule zu Beruf verbessern – Schnittstellenprobleme zwischen SGB II, III und VIII beheben!
Positionierung der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
I. Ausgangssituation
1. Vielen, insbesondere von sozialen Benachteiligungen oder individuellen Beeinträchtigungen betroffenen jungen Menschen, für die die Kinder- und Jugendhilfe in besonderer Weise Verantwortung trägt, wird der Zugang zu Bildung, Arbeit und Berufsausbildung erschwert. Ihre häufig ungesicherte materielle Existenz behindert außerdem eine Teilhabe an der Gesellschaft.
Diese jungen Menschen
- brechen z.B. die Schule ab oder verlassen diese ohne Abschluss,
- sind mit mehrfachen Problemen (psychischer, familiärer, gesundheitlicher Art) belastet, die eine umfassende Sozialisationshilfe erfordern, damit sie eine selbstständige Lebensführung erreichen können bzw. sich gesellschaftlich integrieren,
- haben soziale und individuelle Probleme, die einer beruflichen Integration entgegen stehen,
- leben häufig in prekären bzw. ungesicherten Wohnverhältnissen ohne gesicherten Grundbedarf.
Der Nationale Bildungsbericht 2010 zeigt, dass beim Übergang von den allgemeinbildenden Schulen in die Berufsausbildung insbesondere benachteiligte junge Menschen von sozialen Ausgrenzungsprozessen betroffen sind. Vor allem für Jugendliche ohne Schulabschluss, aber auch mit Hauptschulabschluss, ist der reibungslose Übergang in die Berufsausbildung ein großes Problem. Von deutschen Ausbildungsinteressenten ohne Hauptschulabschluss mündeten 2008 drei Viertel ins Übergangssystem ein, von denen mit Hauptschulabschluss 48 Prozent. Bei ausländischen Jugendlichen liegen die Werte bei 88 bzw. 67 Prozent.[1]
2. Es ist eine dringende gesamtgesellschaftliche Aufgabe, den individuellen und sozialen Ausgrenzungsprozessen junger Menschen an der Schwelle zum Erwerbs- und Berufsleben entgegenzuwirken.
Die Zuständigkeiten für die soziale und berufliche Förderung junger Menschen sind jedoch geteilt. Für die Integration in Ausbildung und Arbeit zeigen sich einerseits die Agenturen für Arbeit bzw. die Träger der Grundsicherung mit den Instrumenten des SGB III bzw. des SGB II verantwortlich. Andererseits ist es zusätzlich auch Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe nach § 13 SGB VIII, sozialpädagogische Hilfen bei der beruflichen und schulischen Eingliederung sozial benachteiligter / individuell beeinträchtigter junger Menschen zu erbringen und die soziale Integration zu befördern. Diese Hilfen sind ergänzend zur Arbeitsförderung in Verantwortung der Jugendämter zu erbringen. Bislang ist die systemübergreifende Kooperation zwischen SGB II, III und VIII nicht regelhaft gesichert, sondern von der Initiative der einzelnen Institutionen, Gebietskörperschaften und von der Motivation der unterschiedlichen Akteure abhängig.[2]
Dies hat häufig zur Folge, dass verschiedene Ziele verfolgt werden, Einzelmaßnahmen nicht abgestimmt erfolgen und sich im ungünstigsten Fall gegenseitig behindern.
Die betroffenen jungen Menschen werden teilweise durch die verschiedenen Zuständigkeiten mit ihren unterschiedlichen Ansprüchen vor erhöhte Anforderungen gestellt, entmutigt, ausgegrenzt und nicht gefördert. Viele sind erstmals mit den Abläufen einer öffentlichen Verwaltung konfrontiert und häufig nicht in der Lage, ihre eigenen Interessen angemessen zu wahren. Organisatorische Probleme und die Vielzahl von verschiedenen Ansprechpartnerinnen und –partnern führen zu Überforderungen und damit häufig zu Versäumnissen, wie beispielsweise der Nichteinhaltung von festgesetzten Fristen, was wiederum sofort Sanktionierungen nach sich ziehen kann.
3. Die komplexen Unterstützungsbedarfe sozial benachteiligter und individuell beeinträchtigter junger Menschen und ihre Schwierigkeiten, sich in den komplexen Hilfestrukturen zurecht zu finden, erfordern es, dass die unterschiedlichen Systeme mit ihren verschiedenen Ansätzen zusammenarbeiten und ihre Hilfen systematisch verzahnen. Das gelingt allerdings in der Praxis viel zu selten.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Angebote der Jugendsozialarbeit in vielen Regionen nicht oder nicht bedarfsgerecht zur Verfügung stehen. Wenn benachteiligte Jugendliche einmal von den Systemen der Arbeitsförderung betreut werden, geraten sie viel zu häufig aus dem Blickwinkel der Kinder- und Jugendhilfe, zumal wenn sie die Altersschwelle von 18 Jahren überschritten haben. In der Praxis werden deshalb selbst mehrfach benachteiligte junge Menschen nicht passgenau unterstützt, jugendhilfespezifische Förderbedarfe nicht gedeckt.
4. Junge Menschen haben nach § 1 SGB VIII ein Recht auf Förderung ihrer Entwicklung zu eigenständigen Persönlichkeiten. Sie haben das Recht, ihr Leben aktiv nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Die Kinder- und Jugendhilfe betrachtet „Jugend“ im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes als eigenständige Lebensphase mit spezifischen Entwicklungsaufgaben. Dazu gehören neben dem Auszug aus dem Elternhaus oder dem Eingehen von Partnerschaften und Familiengründung ebenso das Erreichen sozioöko-nomischer Unabhängigkeit und der Einstieg ins Erwerbsleben.
Für sozial benachteiligte und individuell beeinträchtigte Jugendliche werden meist ausschließlich die Förderungsinstrumente gemäß SGB II und III erbracht. Damit erfolgen die Hilfen weniger nach den häufig komplexeren Bedarfen der Jugendlichen. Sie richten sich vielmehr allein an dem Ziel aus, eine Integration in den Arbeitsmarkt zu erreichen. SGB II und III sind im Gegensatz zum SGB VIII nicht gesondert auf die spezifischen Lebenslagen junger Menschen und auf ihre besonderen Bedürfnisse für die Persönlichkeitsentwicklung ausgerichtet. Allerdings ist inzwischen eindeutig belegt, dass Verweildauer im und Ausstiegsmöglichkeiten aus dem System der Grundsicherung abhängig sind vom persönlichen Lebenshintergrund. Die Kumulation verschiedener Problemlagen führt zu einer Verstetigung des Bezuges. Vermittler haben unter Effektivitätsaspekten und vor dem Hintergrund fehlender Angebote nur eingeschränkte Möglichkeiten, auf die Stabilisierung der jungen Menschen einzuwirken. Über kommunale Leistungen, wie Familienberatungsstellen oder die Schuldnerberatung, wird oft nicht informiert. Auch das in der Kinder- und Jugendhilfe gängige Partizipationsverständnis ist im SGB II nicht gegeben.
Vor allem benachteiligte Jugendliche bedürfen eines intensiveren Unterstützungsprozesses, bei dem einzelne Förderleistungen zielgerichtet und modular aufeinander aufgebaut werden und ihre biografische Entwicklung begleiten. Dagegen entstehen für benachteiligte Jugendliche vielfach Lücken in der Förderung, weil entsprechende Plätze in Maßnahmen fehlen oder Anschlüsse nicht rechtzeitig geplant werden.
Junge Menschen zwischen 15 und 25 Jahren sind unverzüglich in Arbeit, eine Ausbildung oder Arbeitsgelegenheit zu vermitteln. Diese Regelung im SGB II – in guter Absicht vom Gesetzgeber eingerichtet – führt oft zu vorschnellen Entscheidungen, die der aktuellen psycho-sozialen Entwicklung nicht angemessen sind und eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt letztlich erheblich verzögern oder sogar verhindern können.
Als Gegenleistung der sozialstaatlichen Übernahme der Existenzsicherung wird im SGB II eine aktive Mitwirkung des Hilfebedürftigen an der Beendigung des Leistungsbezuges erwartet. Kommt dieser seiner Mitwirkungspflicht nicht nach, hält das SGB II Sanktionierungsinstrumente vor. Sanktionierungen im SGB II treffen Jugendliche deutlich häufiger als Erwachsene, oft wird die Leistung bis zu 100 Prozent gekürzt. Sie erzielen aber selten den gewünschten Effekt, sondern führen vielmehr häufig sogar zum Abbruch des Kontaktes mit den Trägern der Grundsicherung. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung – IAB hat Erfahrungen von Fachkräften aus ARGEn und Optionskommunen dokumentiert, die bei einem Teil der Jugendlichen infolge von Sanktionen Existenzgefährdungen, soziale Destabilisierung und sogar kriminelles Verhalten beobachten.
In der Arbeits- und Ausbildungsförderung der Arbeitsagenturen nach SGB III gibt es ebenfalls Barrieren für benachteiligte Jugendliche, wie z. B. die Komm-Struktur der Berufsberatung oder die derzeitige Definition der „Ausbildungsreife“ als Zugangsvoraussetzung für die Ausbildungsstellen-vermittlung bzw. als vorrangiges Ziel von berufsvorbereitenden Maßnahmen.
II. Forderungen der AGJ
Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ begrüßt das Vorhaben der Bundesregierung, die Schnittstellen zwischen den Rechtskreisen SGB II, III und VIII zu klären. Hierzu sind gesetzliche und strukturelle Änderungen notwendig. Die Schnittstellen zwischen den genannten Rechtskreisen bilden seit über fünf Jahren eine große Hürde für junge Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf beim Übergang ins Erwerbsleben. Sie müssen zugunsten eines klaren individuellen Bedarfs auf bestmögliche Fördermaßnahmen unter Berücksichtigung der persönlichen Entwicklungspotentiale abgebaut werden.
Um junge Menschen, deren eigenverantwortliche Lebensführung oder Eingliederung in die Gesellschaft oder das Erwerbsleben gefährdet ist, angemessen und ganzheitlich zu unterstützen, sind aus Sicht der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen notwendig. Dies hat Auswirkungen auf Regelungen in den Sozialgesetzbüchern II, III und VIII.
Berücksichtigt werden muss insbesondere Folgendes:
- Die Sanktionsregelungen für Jugendliche im SGB II müssen dringend entschärft und flexibilisiert werden, um der sozialen Ausgrenzung junger Menschen entgegenzuwirken. Die Sanktionsbestimmungen müssen so gestaltet werden, dass eine auf die individuelle Situation abgestimmte und angemessene Reaktionsmöglichkeit des Fallmanagements geschaffen wird.
- Sozial benachteiligte und individuell beeinträchtigte junge Menschen bedürfen einer umfassenden Unterstützung, wie sie das SGB VIII vorsieht, auch dann, wenn sie durch das SGB II oder SGB III gefördert werden bzw. aus den dortigen Systemen Geldleistungen erhalten. Für sozial benachteiligte und individuell beeinträchtigte Jugendliche ist dabei auch eine verbindliche Leistungserbringung nach dem § 13 SGB VIII notwendig.
Bereits jetzt sind die Gebietskörperschaften verpflichtet, die Jugendämter in die Lage zu versetzen, für die Unterstützung dieser Jugendlichen ausreichende und bedarfsgerechte Angebote gemäß § 13 SGB VIII sicherzustellen und eine dazu erforderliche Infrastruktur vorzuhalten.
- Leistungen für die Sicherung des Lebensunterhaltes erhalten diese jungen Menschen von den Grundsicherungsträgern. Der örtliche Träger der Jugendhilfe ist im Sinne eines abgestimmten Zusammenwirkens am Abschluss der Eingliederungsvereinbarung mit einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen unter 25 Jahren zu beteiligen, sofern dies zur Sicherstellung des Hilfeprozesses notwendig ist.
- Arbeitsagenturen, Grundsicherungsstellen und Jugendämter sollen verbindlich zusammenarbeiten, damit in ihrer Region eine, auf der Grundlage geltenden Rechts, abgestimmte Förderstruktur zur sozialen und beruflichen Integration für Jugendliche und junge Erwachsene entsteht. Hierzu sind die Instrumente des SGB II, III und VIII zu harmonisieren und Verfahrensweisen zu optimieren und insbesondere ganzheitliche Angebote gemeinsam zu planen und deren Gesamtfinanzierung gemeinsam sicherzustellen.[3]
Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 02./03. Dezember 2010
[1] vgl. Bildung in Deutschland 2010. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Perspektiven des Bildungswesens im demographischen Wandel, www.bildungsbericht.de
[2] vgl. „Übergänge in Ausbildung und Arbeit“, Positionspapier der AGJ, Dezember 2009
[3] vgl. „Übergänge in Ausbildung und Arbeit“, Positionspapier der AGJ, Dezember 2009