Mehr Wissen über die Jugend: Erster Europäischer Jugendbericht
Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ
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Der erste europäische Jugendbericht wurde als Arbeitspapier der Europäischen Kommission am 27. April 2009 gemeinsam mit der Mitteilung „Strategie für die Jugend – Investitionen und Empowerment“ veröffentlicht und dient der Untermauerung der darin beschriebenen politischen Strategie und der Definition diverser Begrifflichkeiten. Der Bericht soll von nun an alle drei Jahre erscheinen. Der erste europäische Jugendbericht stützt sich vor allem auf vorhandenes Datenmaterial von Institutionen und Quellen der EU, aber auch auf Ergebnisse unterschiedlicher jugendbezogener Forschungsprojekte aus dem Forschungsprogramm der EU.[1] Eine ganze Reihe der Daten ist aus dem BEPA-Bericht (April 2007) bekannt. Mit der vorliegenden Positionierung liefert die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ eine Bewertung des ersten Europäischen Jugendberichts mit Perspektive auf Anforderungen an eine kinder- und jugend(hilfe)politisch sinnvolle Weiterentwicklung dieses Instruments hin zu einem regelmäßigen, unabhängig erstellten, wissenschaftlich und politisch praktischen Referenzdokument für die Gestaltung und Weiterentwicklung von Jugendpolitik in Europa.
1. Kernaussagen des Berichts und Bewertungen
Der Jugendbericht umfasst die großen Themenbereiche Demographie, Übergänge zwischen Bildung und Beschäftigung, aktive Bürgerschaft sowie Lebensstile. Im Folgenden werden die jeweiligen Kernaussagen dargestellt und durch Einschätzungen und Klärungsbedarfe aus Sicht der AGJ ergänzt.
Demographie, familiale Lebensformen
Derzeit leben 96 Millionen junge Menschen zwischen 15 und 29 Jahren in der EU. Damit bilden sie 19,4 Prozent der europäischen Gesamtbevölkerung. Projektionen lassen erwarten, dass sich der Anteil im Jahr 2050 auf 15,3 Prozent reduziert haben wird.
Im Bericht wird der Versuch unternommen, die Lebensphase „Jugend“ abzugrenzen. Dabei wird deutlich, dass eine gemeinsame klare Definition in der Gemeinschaft kaum möglich ist, da sich die verschiedenen Konzepte der Mitgliedstaaten für Reife und Mündigkeit an unterschiedlichen Aspekten festmachen, wie Altersabgrenzung für Kindergeld und Ende der Schulpflicht.
Die bekannten Veränderungen familialer Lebensformen – Aufschub der Heirat, Zunahme nichtehelicher Lebensgemeinschaften, Zunahme der Geburt von Kindern in nichtehelichen Lebensgemeinschaften, Zunahme der Scheidungsrate – werden als genereller Trend für alle EU-Länder festgestellt. Dennoch gibt es eine sehr große Variationsbreite in den familialen Lebensformen junger Erwachsener in diesen Ländern. Dies wird im Hinblick auf
- das Alter bei Auszug aus dem Elternhaus (zwischen 21 und 31 Jahren)
- die Anteile nichtehelicher und ehelicher Lebensgemeinschaften junger Erwachsener (zwischen 13 und 41 Prozent der 15- bis 29-jährigen Frauen leben in nichtehelicher Lebensgemeinschaft, zwischen 20 und 60 Prozent der 25- bis 29-jährigen Frauen sind verheiratet)
- die Geburtenrate und das Alter der Frau bei der Geburt des ersten Kindes (zwischen 24,7 und 30 Jahren) sowie
- die Anteile der Geburten in nichtehelichen Lebensgemeinschaften (zwischen fünf und 58 Prozent)
dargestellt.
In den Ausführungen wird nach Geschlecht und Alter bzw. Altersgruppen differenziert. Abschließend wird kurz auf zwei unterschiedliche Muster von Generationsbeziehungen hingewiesen, die einerseits in nördlichen und westlichen und andererseits in südlichen und östlichen EU-Ländern vorherrschen.
Bei der Darstellung der familialen Lebensformen wäre eine weitergehende Differenzierung nach Bildungsniveau und Ausbildungs- und Erwerbsstatus angebracht. Die Fokussierung auf familiale Lebensformen hat zur Folge, dass andere Lebensformen junger Erwachsener (Alleinleben, „Living apart together“, Leben in Wohngemeinschaften o. ä.) außer Betracht bleiben. Es könnte aber ebenso relevant sein darzustellen, in welchem Ausmaß junge Erwachsene in den EU-Ländern zwischen dem Leben bei der Herkunftsfamilie und partnerschaftlichem Zusammenleben beziehungsweise Familiengründung selbständige Lebensformen realisieren. Vor dem Hintergrund der sehr großen Unterschiede in den Lebensformen junger Erwachsener in den EU-Ländern wäre es wünschenswert gewesen, wenn auch zumindest Hinweise auf maßgebliche Bedingungen dieser Unterschiede gegeben worden wären. Nur im Hinblick auf das spätere Alter bei Auszug aus dem Elternhaus werden einige subjektive Einschätzungen seitens der jungen Erwachsenen berichtet. Von Interesse wären auch Ausführungen zu der Frage, inwieweit staatliche Sozialpolitik im weitesten Sinn in den unterschiedlichen Ländern zur Entwicklung selbständiger Lebensformen im jungen Erwachsenenalter beiträgt.
Bildung, Arbeit, Armut
Der Bericht konstatiert einen steigenden Bildungsstandard, insbesondere beginnen und beenden immer mehr junge Menschen in der Europäischen Union ein Studium. Die Anzahl der Studierenden stieg zwischen 1998 und 2006 um 25 Prozent. 11,5 Prozent der Bevölkerung zwischen 18 und 39 Jahren studieren gerade, 15 Prozent der Studierenden sind älter als 30 Jahre, der Anteil der Studentinnen ist um 23 Prozent höher als der der Studenten. Fast 80 Prozent der jungen Menschen zwischen 25 und 29 Jahren haben eine abgeschlossene höhere Schulbildung.
Gleichzeitig gelingt es jedoch immer noch nicht, allen jungen Menschen eine Perspektive zu bieten. Jedes fünfte Kind verfügt nicht über ausreichende Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen. Jeder siebte junge Mensch zwischen 18 und 24 Jahren erreicht lediglich einen Hauptschulabschluss oder weniger. Die Anzahl der vorzeitigen Schulabbrüche ist zwischen 2000 und 2007 zwar zurückgegangen, beläuft sich aber immer noch auf 14,8 Prozent. Zehn Prozent der Schüler und Schülerinnen lernen keine Fremdsprache in der Schule. Mehr als ein Drittel der jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren sind weder in schulischer oder beruflicher Aus- oder Weiterbildung noch in Arbeit oder beim Studium.
Bei der Betrachtung der Beschäftigungssituation wird deutlich, dass 57,5 Prozent der jungen Menschen in der EU im Alter von 15 bis 29 Jahren ökonomisch aktiv sind, also entweder in Arbeit sind oder aktiv nach einem Arbeitsplatz suchen. Die Arbeitslosenrate dieser Altersgruppe liegt im Durchschnitt bei 15,4 Prozent, fast drei mal so hoch wie die Quote für Ältere. 26 Prozent der arbeitslosen 15- bis 24-Jährigen und 35 Prozent der arbeitslosen 25- bis 29-Jährigen sind seit über zwölf Monaten arbeitslos.
Für junge Menschen in Beschäftigung beschreibt der Bericht die folgende Situation: Ein Drittel der angestellten 15- bis 24-Jährigen sind Studierende oder Lehrlinge, die Hälfte arbeitet in Bereichen für Geringqualifizierte. 40 Prozent der beschäftigten 15- bis 24-Jährigen arbeiten mit befristeten Verträgen, 25 Prozent in Teilzeitverhältnissen und vier Prozent sind selbständig. Und: Mehr als ein Drittel der 14- bis 24-Jährigen bildeten die sogenannte NEETs-Gruppe (Not in Education, Employment or Training).
Der Bericht macht außerdem deutlich, dass sich ungleiche Zugangschancen auf die Lebensperspektiven auswirken. Nach den vorliegenden Zahlen leben in der EU 19 Millionen Kinder und Jugendliche unter der Armutsgrenze. Das betrifft ebenfalls 20 Prozent der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 Jahren. 18 Prozent der jungen Menschen in der Altersgruppe verdienen weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens ihres Landes.
Die Wirtschaftskrise wird 2009 zu einem weiteren Einbruch führen. Selbst viele „ausbildungsreife“ Bewerberinnen und Bewerber müssen wohl ins Übergangssystem ausweichen, weil zu wenig Ausbildungsplätze bereitgestellt werden. Dieser problematische Trend trifft andere Mitgliedstaaten verschärft. Dort, wo Berufsbildung in eher schulähnlichen Institutionen stattfindet, werden die Übergänge von Ausbildung zu Beschäftigung erschwert. Mit Blick auf Wirtschaftskrise und demografische Entwicklung gilt es, diesen Entwicklungen gegenzusteuern. Dieses zentrale Thema des gelingenden Übergangs zum Erwachsenenstatus wird in den Analysen zu Recht hervorgehoben, findet aber in den Empfehlungen keine hinreichend klaren Strategien und Präzisierungen.
Jugend und Freizeit
Grob beschrieben wird der Umfang der freien Zeit, den junge Menschen zur Verfügung haben, sowie Freizeittätigkeiten, mit denen sie sich regelmäßig oder auch seltener beschäftigen. Der Freizeitanteil für 15- bis 19-Jährige beträgt im Schnitt 20 Prozent. 82 Prozent der 16- bis 24-Jährigen gehen mindestens einmal im Jahr ins Kino. 45 Prozent treiben Sport, 40 Prozent gehen mit Freunden aus, 25 Prozent lesen, 23 Prozent schreiben, singen oder spielen ein Instrument. 41 Prozent der 16- bis 29-Jährigen besuchen mindestens einmal im Jahr eine Kultureinrichtung. Ferienreisen werden von jungen Leuten in etwa so häufig wie von Erwachsenen gemacht; auch bei den Reisezielen gibt es kaum Unterschiede zwischen den Altersgruppen.
70 Prozent der 16- bis 24-Jährigen benutzten in 2007 täglich einen Computer (verglichen mit 50 Prozent in 2004). 59 Prozent nutzen täglich das Internet, 30 Prozent der jungen Leute geben an, Arbeit über das Internet zu suchen.
Die Ausführungen zum Thema Freizeit erscheinen insgesamt ziemlich diffus, ungenau und undifferenziert. Länderunterschiede sind nur teilweise nachvollziehbar, Unterschiede nach Geschlecht und Bildungsniveau werden gar nicht erwähnt. Quellenangaben sowie die Datenbasis bleiben weitgehend unklar. Von Interesse auch in Bezug auf Bildungschancen wäre zum Beispiel eine Erhebung bislang fehlender Daten zum sogenannten „digital divide“ (digitale Wissens- und Zugangskluft) mit seinen Auswirkungen für benachteiligte junge Menschen.
Aktive Bürgerschaft
Hervorgehoben wird zunächst, dass aktive Bürgerschaft, verstanden als politische Partizipation und soziale Beteiligung in Vereinen, Verbänden, Assoziationen und Gruppierungen ein Schlüssel für die Zukunft Europas seien und dass deren Förderung deshalb zu den Prioritäten Europäischer Politik gehöre. Bezogen auf die Jugend sei insbesondere die Beteiligung auf kommunaler Ebene, innerhalb der Strukturen der repräsentativen Demokratie sowie in Schulen, Universitäten und Jugendparlamenten zu stärken.
Aus dem Versuch einer Zustandsbeschreibung resultiert die Kritik des Berichts an der derzeitigen Datenlage: Es fehlen gemeinsame Konzeptbeschreibungen, Definitionen, vergleichbare Ergebnisse aus Erhebungen. Vorgeschlagen werden deshalb analytisch saubere Begriffsbestimmungen unter Reflexion unterschiedlicher politischer Kulturen. Prospektiv werden Untersuchungen gefordert, die ein europaweites und ländergerechtes Bild über Jugend-partizipation ermöglichen.
Der Mangel an belastbaren Daten wird besonders an den Stellen des Berichts eklatant sichtbar, wo ohne Vorlage einer einzigen Trendtabelle die Darstellung entsprechender Entwicklungen versucht und etwa ein „Rückgang traditioneller Mitgliedschaften in Organisationen“ konstatiert wird.[2] Um etwas über bürgerschaftliches Engagement der Jugend in seiner Breite und Intensität der Formen zu erfahren, muss die Erfassung recht differenziert angelegt sein. Um außerdem Trends festzustellen, müssen auf der Basis einer soliden Base-Line-Studie die weiteren Befragungen mit identischen Instrumenten durchgeführt werden.
Jugend und Gesundheit
Unklar bleibt, von welchem Gesundheitsbegriff in diesem Kapitel des Jugendberichts ausgegangen wird, jedenfalls nicht explizit von dem umfassenden Gesundheitsbegriff der WHO (Ottawa Charta 1986), der neben der körperlichen auch psychische und soziale Gesundheit und subjektives Wohlbefinden umfasst. In dem Kapitel werden vor allem Daten zu den Altersgruppen 15 bis 24 und 25 bis 34 Jahre zusammengetragen, und zwar zu den Bereichen
- Einschätzung der eigenen Gesundheit und psychische Störungen
- Über-/Untergewicht
- Todesursachen und HIV-Infektionsraten
- Tabakkonsum
- Alkoholkonsum
- Drogenkonsum.
Damit werden die wichtigsten Bereiche der „neuen Morbiditäten“, also der multifaktoriell und vor allem auch durch Lebensstile und Lebensverhältnisse bedingten Krankheiten und Störungen angesprochen. Andere gesundheits-relevante Bereiche wie zum Beispiel Störungen der Sprache, Motorik und des Verhaltens und (Mangel an) Bewegung sowie Allergien werden ebenso wenig berücksichtigt wie nichtstoffgebundenes Abhängigkeitsverhalten, wie etwa Spiel- oder Internet-„Sucht“. Es werden auch keine Zusammenhänge zwischen verschiedenen Problembereichen dargestellt, so etwa zwischen Übergewicht, Mangel an Bewegung und Fitness und Medienkonsum.
Umfang und Detailliertheit der präsentierten Daten zu den einzelnen Bereichen sind sehr unterschiedlich – so leiden nach Angaben des Berichts ca. zwei Millionen der 100 Millionen jungen Menschen in der EU unter psychischen Problemen. 60 Prozent der Todesfälle bei Jugendlichen werden auf externe Gründe zurückgeführt, wobei der Unfalltod der häufigste ist. In der weiteren Reihenfolge stehen Selbstmord, Drogenmissbrauch, Gewalt und AIDS/HIV. 17 Prozent der 15- bis 24-Jährigen sind übergewichtig, 9 Prozent untergewichtig. 24 Prozent der 15- bis 29-Jährigen rauchen täglich, im Durchschnitt betrinken sich junge Menschen zwischen 13 und 14 Jahren das erste Mal. 13 Prozent der 25- bis 34-Jährigen konsumieren Cannabis.
Die Herkunft und die genauen Fragestellungen sowie Zielgruppen der zugrunde liegenden Studien bleiben weitgehend offen. Unterschiedliche konzeptionelle Ansätze in den Studien könnten aber durchaus für die zum Teil sehr unterschiedlichen Ergebnisse in den einzelnen Ländern mitverantwortlich sein, ebenso wie die jeweiligen kulturellen Konnotationen bestimmter Frageninhalte.
Die berichteten Daten unterscheiden zwar oft nach Ländern, aber sehr selten nach Geschlecht und gar nicht nach sozioökonomischem und Beschäftigungs- oder auch Migrationsstatus der Befragten – dies alles wären aber wichtige Variablen, um der gesundheitlichen Chancenungleichheit auf die Spur zu kommen. Auch wird dem auf Störungen und gesundheitliches Problemverhalten gerichteten „Defizitblick“ der Studie kein Blick auf die Ressourcen und Potentiale der jungen Menschen gegenübergestellt, aktiv und selbstbestimmt für ihre Gesundheit zu sorgen.
Insgesamt sollten auf europäischer Ebene – ähnlich wie im deutschen 13. Kinder- und Jugendbericht – die vielfältigen Aspekte von Gesundheit und ihre möglichen Einschränkungen schon bei jungen Menschen stärker zum Thema gemacht werden, zum Beispiel in dem Sinne, dass bio-psycho-soziale Gesundheit eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiche Bildungsprozesse ist und immer wieder aktiv gefördert und hergestellt werden muss. Auch die Bezüge zum Beispiel zwischen sozialem und Bildungsstatus oder auch Geschlecht und Gesundheit sollten mehr Berücksichtigung finden. In diesem Sinne können die im EU-Jugendbericht enthaltenen vergleichenden Länderdaten zu bestimmten Gesundheitsindikatoren eine erste Orientierung über die jeweiligen Rangplätze der Länder und darüber geben, inwieweit solche Platzierungen mit länderspezifischen Lebensbedingungen Jugendlicher und jugendpolitischen Gestaltungen zusammenhängen.
Kultur, Multikulturalität, interkultureller Dialog
Im Bericht wird davon ausgegangen, dass junge Menschen unter 30 Jahren die erste junge Generation bilden, die in einer erweiterten Europäischen Union leben und von den vier Freiheiten (freier Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr) profitieren. „Vereint in Vielfalt“ als offizielles Motto der EU finde im „neuen Schmelztiegel“ dieser Generation seine Verwirklichung.
Stimmt aber die Annahme eines „neuen Schmelztiegels“ unter Jugendlichen in Europa? Um dies empirisch zu belegen, waren zum Beispiel folgende Aspekte zu erforschen: Wie nutzen Jugendliche bestehende Möglichkeiten der Kontaktaufnahme, Kommunikation, des wechselseitigen Kennenlernens und Austausches von Erfahrungen etwa durch die Teilnahme an europäischen Jugendbegegnungsprogrammen? Welche Effekte haben diese Begegnungs-programme mit Blick auf die Herausbildung einer europäischen Identität und eines dementsprechenden (Selbst-)Bewusstseins unter Jugendlichen – in Relation zu ihrer nationalen Verankerung und ihrem nationalen Selbstbild?
Zur Multikulturalität wird bilanziert, dass junge Europäerinnen und Europäer im Sinne eines Austausches mit ausländischen Kulturen praktische Aktivitäten bevorzugen. Etwa 30 Prozent schließen gerne Freundschaften mit anderen jungen Menschen aus anderen europäischen Ländern. Ermöglicht werde dies durch gestiegene Mobilität innerhalb Europas (zum Beispiel Studium, Städtepartnerschaften, grenzüberschreitender Arbeitsmarkt, Tourismus). Offen bleiben allerdings Antworten auf Fragen wie: Wie finden diese grenzüberschreitenden Freundschaftsbeziehungen statt? Durch wen (private und öffentliche Gelegenheitsstrukturen) werden sie eingeleitet? Welche Wege werden dabei beschritten und welche Unterschiede gibt es dabei mit Blick auf den sozio-ökonomischen Status der Jugendlichen? Und schließlich: Wie kann – auf der Grundlage empirischer Befunde dazu – der Anteil an Jugendlichen mit Freundschaftsbeziehungen innerhalb des europäischen Raums erhöht werden? Bezogen auf die Intensität grenzüberschreitender Freundschaftsbeziehungen wäre des Weiteren danach zu unterscheiden, ob es sich dabei um unmittelbare persönliche Freundschaften handelt und/oder um (überwiegend) mittelbare Freundschaften (etwa per Internet, Chatten, Skypen etc).
Zu klären wäre auch, inwieweit sich im lokalen Nahraum und – darin eingebettet – in unterschiedlichen Lebenssituationen und -zusammenhängen (zum Beispiel Kindergarten, Schule, Ausbildung, Arbeit, Nachbarschaft, Jugendverbände) selbstbestimmte und eigenständige Prozesse des interkulturellen Dialogs und der interkulturellen Beziehungen entwickeln, wie sich ein solcher Prozess auch bottom-up gestalten ließe, um positive Entwicklungen zu sichern und auf eine breitere Anwendung hin zu transformieren.
2. Anforderungen an eine kinder- und jugend(hilfe)politisch sinnvolle Weiterentwicklung des Europäischen Jugendberichts als Instrument einer EU-Jugendstrategie
Infolge des Weißbuchs „Neuer Schwung für die Jugend Europas“ der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2001 wurde „Mehr Wissen über die Jugend“ als vierte Priorität neben Partizipation, Information und Freiwilligenengagement für die Offene Methode der Koordinierung im Jugendbereich festgelegt. Zwar war zu diesem Zeitpunkt noch von keinem europäischen Jugendbericht die Rede, die Priorisierung verdeutlicht aber die Erkenntnis, dass Erfolg versprechende politische Strategien evidenzbasierte Informations- und Wissensgrundlagen benötigen.
Im Jahr 2007 wurde mit dem BEPA-Papier „Investing in Youth“[3] der erste Versuch gemacht, einen umfassenden und zusammenhängenden Blick auf die Problemlagen und Lebenslagen junger Menschen in der Europäischen Union zu richten und dabei insbesondere herauszuarbeiten, auf welcher Grundlage sich trotz der verschiedenen Bedingungen in den 27 Mitgliedsstaaten gemeinsame europäische Strategien entwickeln und begründen lassen. Bereits der BEPA-Bericht hielt die Vorlage eines Europäischen Jugendberichtes für sinnvoll.
Insofern ist der jetzt von der Europäischen Kommission vorgelegte erste Europäische Jugendbericht als sinnvolle Umsetzung einer Empfehlung der BEPA und als weiterer Schritt hin zu einer künftigen Jugendpolitik in Europa zu verstehen. Der Bericht gibt zwar im Wesentlichen keine neuen Erkenntnisse wieder, sondern bündelt bereits veröffentlichte und dargestellte Erkenntnisse, er gibt aber auch nicht vor, mehr zu sein. In der Einleitung heißt es: „Es ist der erste Versuch, Daten und Statistiken zusammenzuführen, um einen Bild über die Situation junger Menschen in Europa zu erhalten.“ Und auch bei der Definition des Ziels bleibt der Bericht selber bescheiden: „(er) unterstützt (…) die jugendpolitische Zusammenarbeit durch die Zusammenstellung von Statistiken und Daten über die Lebensbedingungen junger Menschen.“
Insofern ist zu begrüßen, dass erstmals in einer komprimierten Form alle wesentlichen, auf europäischer Ebene vorliegenden Erkenntnisse zusammengefasst worden sind und damit politisch handhabbar werden. Diese Darstellung ermöglicht auch eine Orientierung über den jeweiligen Entwicklungsstand des eigenen Landes im Vergleich zu den Mitgliedsländern der EU.
Zuzüglich der Forderung, dass tatsächlich im Abstand von drei Jahren derartige Berichte vorgelegt werden, sind folgende Anforderungen an die Weiterent-wicklung künftiger Berichte zu stellen, damit diese tatsächlich als Handlungsinstrument politisch wirksam werden:
- Europäischer Jugendsurvey: Um Europäische Jugendberichte auf eine solide und für Trendanalysen taugliche Datenbasis zu stellen, sind systematische Forschungen notwendig, die mehr als nur Meinungsumfragen und das Zusammenstellen vorhandener Daten darstellen. Der Europäische Jugendbericht soll mehr Kenntnis und Erfahrungsaustausch über die Lebenslagen aller junger Menschen ermöglichen und Jugendpolitik auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene untermauern. Um das ermöglichen, wird ein Europäischer Jugendsurvey benötigt, der eine verlässliche und valide Datenbasis schafft. Eine angemessene europaweite Stichprobe von ca. 50.000 jungen Menschen würde nicht nur europaweite differenzierende Analysen ermöglichen, sondern die einzelnen Länder könnten auch „ihre“ Jugend, deren Lebenslagen, Einstellungen, Problemkonstellationen, Zukunftswünsche usw. genauer in den Blick nehmen und im Kontext anderer europäischer Ergebnisse der Jugendforschung vergleichen. Für die Politiken auf unterschiedlichen Ebenen wäre es damit auch möglich, das Erreichen vorhandener Ziele zu bewerten und für zusätzlich neu zu setzende jugendpolitische Schwerpunkte Anhaltspunkte zu haben. Neben Kenntnissen über Lebenslagen könnte ein europäischer Jugendsurvey repräsentativ die Einstellungen und Erwartungen junger Menschen eruieren, die im Rahmen des „strukturierten Dialogs“ bislang nur unzureichend eingebracht werden. Dieser Survey könnte als Base-Line-Studie auf der Grundlage wissenschaftlicher Standards mit den Schlüsselkonzepten Klarheit, Komplexität, Konsistenz, internationale Vergleichbarkeit und Kontinuität dienen. Damit würden Längsschnitt-analysen von Trends, die Entwicklung von Indikatoren sowie politische und praktische Relevanz ermöglicht. Auch könnten auf dieser Grundlage politische Strategien auf verschiedenen Ebenen evaluiert und weiterentwickelt werden. Auch die im Zusammenhang mit dem Monitoring der EU-Kinderrechtestrategie in Entwicklung befindlichen Indikatoren sollten berücksichtigt werden.
- Ursachenanalyse: In weiten Teilen verbleibt der Jugendbericht bei einer bloßen Beschreibung der Situation junger Menschen in Europa, stark bezogen auf statistisches Material. Es fehlen aber analytische Ansätze, die Ursachen für bestimmte Entwicklungen verdeutlichen.
- Handlungsempfehlungen: Künftige Berichte sollten trotz eines notwendigen allgemeinen Charakters Handlungsempfehlungen für die einzelnen Bereiche formulieren. Damit würde ein derartiger Bericht stärkere Wirkung entfalten können und damit verdeutlichen, wo die EU die Möglichkeiten sieht, die Lebenslagen junger Menschen zu verbessern. Das könnte auch Einfluss auf die entsprechenden EU-Programme haben.
- Kindheit/Jugend: Gemäß der europäischen Sichtweise konzentriert sich der Bericht auf die Altersspanne der 15- bis 29-Jährigen. Viele Entwicklungsprozesse, die Einfluss auf die Lebenswirklichkeit und die Lebensperspektive der Jugendlichen legen, finden jedoch bereits in früheren Lebensabschnitten statt und können für eine kohärente Jugendpolitik nicht ausgeklammert werden. Nicht umsonst hat der Bericht der BEPA gefordert, früh in die Jugend zu „investieren“.
- Europäischer Jugendbericht mit politischer Relevanz: Die politische Konstruktion eines Europäischen Jugendberichtes sollte analog zum deutschen Kinder- und Jugendbericht (gemäß § 84 SGB VIII) angelegt sein. Angesichts der vielfältigen pluralen und föderalen Zuständigkeiten und Interessenstrukturen im Kontext Jugend und Jugendhilfe hat sich diese vom deutschen Gesetzgeber gewählte Konstruktion einer unabhängigen Sachverständigenkommission gut bewährt. Die wissenschaftliche Bericht-erstattung stellt die Diskussionen von Politik und Praxis über die Lage der Jugend und die Leistungen der Jugendhilfe auf ein sachliches Fundament. Die wissenschaftlichen Empfehlungen und die politischen Stellungnahmen bieten dann für die Akteure auf allen Ebenen wichtige Anregungen für Auseinandersetzungen um konkrete Weiterentwicklungen der Jugendpolitik. Entsprechend dem Jugendbericht in Deutschland wäre es zu begrüßen, wenn ein europäischer Jugendbericht sich regelmäßig auch bestimmten Einzelfeldern zuwendet und diese durch vertiefende wissenschaftliche Analysen bearbeitet.
- Einbeziehung anderer EU-Institutionen: Um künftigen Berichten zu größerer Unabhängigkeit und größerer politischer Wirkung zu verhelfen, sollten sie von einer durch Kommission und Rat beauftragten unabhängigen Sachverständigenkommission erarbeitet und gemeinsam von Kommission und Rat vorgelegt werden. Das EU-Parlament, der Ausschuss der Regionen sowie der Wirtschafts- und Sozialausschuss sollten Gelegenheit zur Beratung und zu Stellungnahmen erhalten, die als Teil des Berichtes mit veröffentlicht werden.
- Nutzbarmachung für Nicht-Experten: Dem Bericht fehlt eine Zusammenfassung der wesentlichen Aussagen, die es politischen Entscheidungsträgern und Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe ermöglichen könnten, sich die wesentlichen Aussagen schnell zu eigen zu machen. Außerdem wurde der erste Europäische Jugendbericht von der Kommission nur in englischer Fassung vorgelegt. Damit erreicht er aber über den Kreis der Expertinnen und Experten hinaus keine Wirkung. Als hilfreiches Angebot der EU-Ebene an die Mitgliedstaaten, das von Jugendpolitikerinnen und Jugendpolitikern ebenso genutzt werden soll wie von Akteuren der Kinder- und Jugendhilfepraxis und der Wissenschaft, wird der Jugendbericht nur angenommen werden, wenn er seiner politischen Bedeutung entsprechend einen anderen Status als den eines Arbeitspapiers der Kommission bekommt und er in die Sprachen der EU-Mitgliedstaaten übersetzt wird. Hilfreich wäre auch eine nutzbare interaktive Fassung.
Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 01./02. Juli 2009
[1] Als wichtigste Datenquellen sind das statistische Amt der EU, die Meinungsforschungsstelle der EU (Eurobarometer), die Arbeitskräfteerhebung und die Erhebung zu Einkommen und Lebensbedingungen in der EU zu nennen. Darüber hinaus wurden Resultate regelmäßiger Untersuchungen derjenigen EU-Agenturen verwertet, die in den Bereichen Gesundheit, Drogenbeobachtung und Lebensbedingungen tätig sind.
[2] Als „Forschungsbefund“ wird referiert: „22 Prozent der jungen EU-Bürgerinnen und -Bürger geben an, Mitglieder in Organisationen zu sein.“ Dann wird behauptet, dass 49 Prozent „of young persons“ in einem Sportverein aktiv seien. Dieser Wert gilt jedoch nicht für die Jugend insgesamt, sondern nur für diejenigen, die in der Vorfrage geäußert haben, in einem Verband/Verein Mitglied zu sein. Außerdem erweist sich die problematisierte Abnahme der Mitgliedschaften in Organisationen als Fehlinterpretation vorhandener Daten. Aus der Partizipations-, Freiwilligen- und Ehrenamtsforschung ist bekannt, dass sich nach Vorfragen wie „Sind Sie Mitglied?“ oder „Sind sie ehrenamtlich aktiv?“ viel weniger Befragte als aktiv einschätzen, als wenn man ihnen die Vielfalt bürgerschaftlicher Eingebundenheit verdeutlicht, die bei dieser Frage eigentlich gemeint ist.
[3] Leanda Barrington-Leach, Marcel Canoy, Agnès Hubert, Frédéric Lerais (Bureau of European Policy Advisers – BEPA): Investing in youth: an empowerment strategy, April 2007