Überprüfung und Weiterentwicklung der Frühen Hilfen / Frühen Förderung
Beitrag der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ zur Fachdebatte um ein Kinderschutzgesetz des Bundes
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Im Rahmen der Kinderschutzdiskussion nehmen Frühe Hilfen und Möglichkeiten der Frühen Förderung einen zentralen Stellenwert ein. Fachliche Aspekte im Kontext von früher Förderung und Hilfe für Kinder und Familien hat die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ in den letzten Jahren verschiedentlich diskutiert. Im Rahmen einer Arbeitsgruppe des Vorstandes der AGJ wurde die Thematik im April 2010 mit dem Ziel der Überprüfung bzw. Erweiterung des § 16 SGB VIII und ggf. Konkretisierung der Norm diskutiert.
Nach Beratung des AGJ-Vorstandes sollen die Überlegungen der AGJ als ein Diskussionsbeitrag in die aktuelle Fachdebatte um ein Kinderschutzgesetz des Bundes eingebracht werden und Impulse, insbesondere in der Auseinandersetzung um gesetzliche Änderungen im SGB VIII und anderer Gesetze, geben.
1) Die Begriffe „Frühe Hilfen“ und „Frühe Förderung“
Aus Sicht der AGJ sind Frühe Hilfen als ein Unterfall der Frühen Förderung einzuordnen. Der Begriff der Frühen Förderung ist offener und weiter als der der Frühen Hilfen; Frühe Förderung wird zudem sehr unterschiedlich ausgefüllt und verstanden.
Nachfolgend möchte die AGJ den Begriff der Frühen Hilfen nutzen, dessen zentrale Komponenten sind:
- Biografischer Ansatz (vorgeburtlich bis zum 3. Lebensjahr)
- Systemübergreifende Kooperationen
- Zugänge schaffen – auch zu speziellen Gruppen
- Schutzauftrag / Wächterfunktion.
Im Wesentlichen verweist die AGJ auf die Definition des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuF)[1], die sich auch im zweiten Absatz der Definition des Nationalen Zentrums Frühe Hilfe wiederfindet[2]:
...
Frühe Hilfen sind somit ... ein System, in dem die Akteure
- vor allen Dingen im Zeitraum ab der Schwangerschaft bis zum Alter von drei Jahren spezifische Beratungs- und Unterstützungsangebote für (werdende) Eltern und ihre Kinder machen und ggf. neue Angebote entwickeln,
- miteinander kooperieren sowie
- Ihre Angebote bereichsübergreifend und mit den allgemeinen Leistungen und Hilfen auf eine Weise koordinieren, die es den Eltern erleichtert, den Zugang zu finden und diese in Anspruch zu nehmen.
Frühe Hilfen sind gekennzeichnet durch die nicht stigmatisierende Art und Weise, mit der sich die Akteure den (werdenden) Eltern, den Familien und ihrer Lebenssituation annehmen, wenn sie zu ihnen rund um die Geburt Kontakt aufnehmen. Werden tragfähige Kooperationsbeziehungen zu den Eltern aufgebaut, können Bedarfslagen früher erkannt und das entgegengebrachte Vertrauen ggf. genutzt werden, um für die Inanspruchnahme weitergehender Hilfen zu werben. Die helfenden Akteure im System Früher Hilfen unterstützen somit die Eltern bei der Wahrnehmung ihrer „Letztverantwortung“.
Das System Frühe Hilfen überschreitet und überwindet somit Systemgrenzen und wirkt ebenso integrativ wie verantwortungsadditiv, ohne die Unterschiede und Eigenständigkeit der beteiligten Systeme zu nivellieren.
...
2) Notwendige Gesetzesimpulse im SGB VIII
Vor dem Hintergrund der Erwartungen und Forderungen der Politik (siehe Kinderschutzgipfel 2007 und 2008), der o. g. Begriffsdefinition und unter Berücksichtigung der aktuellen Fach(politischen)debatte sowie der Impulsfunktion von (Jugendhilfe)Recht (siehe z. B. Einführung des § 8a SGB VIII) hält die AGJ eine Diskussion über gesetzliche Änderungen für angezeigt. Die zentralen Anknüpfungspunkte im SGB VIII sind dabei die allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie (§ 16 SGB VIII) und die Hilfen zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII).
a) Änderung des § 16 SGB VIII:
Die AGJ möchte mit der vorgeschlagenen Neuformulierung des § 16 SGB VIII die Verbindlichkeit der Leistungsverpflichtung erhöhen, einen Rechtsanspruch auf Frühe Hilfen in Absatz 2 einführen und den persönlichen Anwendungsbereich ausdrücklich auf Schwangere erweitern sowie die Klärung der Zuständigkeit und damit die Zurverfügungstellung Früher Hilfen beschleunigen.
§ 16 Förderung der Erziehung in der Familie und Frühe Hilfen
(1) Müttern, Vätern, anderen Erziehungsberechtigten und jungen Menschen sind Leistungen der allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie anzubieten. Sie sollen dazu beitragen, dass Mütter, Väter und andere Erziehungsberechtigte ihre Erziehungsverantwortung besser wahrnehmen können. Sie sollen auch Wege aufzeigen, wie Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei gelöst werden können.
Leistungen zur Förderung der Erziehung in der Familie sind insbesondere
1. Angebote der Familienbildung, die auf Bedürfnisse und Interessen sowie auf Erfahrungen von Familien in unterschiedlichen Lebenslagen und Erziehungssituationen eingehen, die Familie zur Mitarbeit in Erziehungseinrichtungen und in Formen der Selbst- und Nachbarschaftshilfe besser befähigen sowie junge Menschen auf Ehe, Partnerschaft und das Zusammenleben mit Kindern vorbereiten,
2. Angebote der Beratung in allgemeinen Fragen der Erziehung und Entwicklung junger Menschen,
3. Angebote der Familienfreizeit und der Familienerholung, insbesondere in belastenden Familiensituationen, die bei Bedarf die erzieherische Betreuung der Kinder einschließen.
(2) Mütter und Väter, die für ein Kind unter drei Jahren zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen, sowie schwangere Frauen haben Anspruch auf frühe Hilfen; diese umfassen insbesondere spezifische aufeinander bezogene und einander ergänzende Angebote und Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe sowie des Sozial- und Gesundheitswesens.
Werden frühe Hilfen beantragt, stellt der örtliche Träger innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrags bei ihm fest, ob er für die beantragte Leistung zuständig ist. Stellt er fest, dass er nicht zuständig ist, leitet er den Antrag an den nach seiner Auffassung zuständigen Sozialleistungsträger weiter; der Träger, an den weitergeleitet wurde, ist stets zuständig.
(3) Das Nähere über Inhalt und Umfang der Aufgaben regelt das Landesrecht.
(4) Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kinder von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen betreuen lassen wollen oder können, eine monatliche Zahlung (zum Beispiel Betreuungsgeld) eingeführt werden.
b) Keine Aufnahme eines Rechtsanspruches auf Leistungen der allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie
Die Mehrheit des AGJ-Vorstandes hat sich gegen die alternativ von der Arbeitsgruppe vorgeschlagene Aufnahme eines Rechtsanspruches auf Leistungen der allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie in § 16 Abs. 1, S. 1 SGB VIII (z. B.: „Mütter, Väter, andere Erziehungsberechtigte und junge Menschen haben Anspruch auf Leistungen der allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie.“) ausgesprochen.
c) Änderung des § 27 SGB VIII:
Die Gewährung Früher Hilfen kann sich auch aus den Hilfen zur Erziehung ergeben. Die gesetzlichen Möglichkeiten hierzu sollen durch eine Ergänzung des § 27 Abs. 3 SGB VIII explizit festgeschrieben werden:
In § 27 Abs. 3 Satz 2 sollen hinter den Worten „Sie soll bei Bedarf“ die Worte „Leistungen nach § 16 Abs. 2 oder“ eingefügt werden.
3) Weitere gesetzliche Änderungen außerhalb des SGB VIII
Frühe Hilfen sind eine Querschnittsaufgabe und -leistung der Kinder- und Jugendhilfe und anderer Sozialleistungsträger. Neben den Trägern der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe sind insbesondere die Ärztinnen und Ärzte, die Hebammen und Entbindungspfleger, die Schwangerschafts(konflikt)beratungsstellen, der öffentliche Gesundheits-dienst sowie die Frühförderstellen Hauptakteure für die Gewährung Früher Hilfen – oder müssen es werden. Ein solches systemübergreifendes und offensives Verständnis Früher Hilfen schafft damit gerade an der Schnittstelle zur Gesundheitshilfe neue Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zur frühen Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien.
Die AGJ schlägt daher im Rahmen eines Artikelgesetzes weitere Änderungen in folgenden Gesetzen vor:
* SGB V – Gesetzliche Krankenversicherung
In einem neu einzufügenden § 23 a SGB V (Überschrift: „Frühe Hilfen“) sollte ein Hinweis auf § 16 SGB VIII ergänzt werden.
In § 92 Abs. 1 Nr. 11 SGB V (Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses) sollte ein Hinweis auf den neu einzufügenden § 23 a SGB V ergänzt werden.
§ 134a SGB V i. V. m. der Hebammenvergütungsvereinbarung sollte dahingehend verändert werden, dass die für psychosoziale Beratung vorgesehenen Zeiten ausgeweitet und die Abrechnungsmöglichkeiten verbessert werden, um die Zugänge für Frühe Hilfen ausreichend nutzen zu können.
- Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (Schwangerschaftskonfliktgesetz – SchKG) Der Leistungskatalog des § 2 SchKG sollte um einen Hinweis auf Leistungen nach § 16 SGB VIII ergänzt werden.
- Gesetz über den Beruf der Hebamme und des Entbindungspflegers (Hebammengesetz – HebG)
In einem neu einzufügenden § 23a HebG (Überschrift: „Frühe Hilfen“) sollte ein Hinweis auf § 16 SGB VIII ergänzt werden.
Der Diskussionsbeitrag und die genannten Vorschläge der AGJ sind als Anregungen und Impulse für den aktuellen Diskurs um ein Bundeskinderschutzgesetz zu verstehen, die in allen beteiligten Systemen, insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen, sowie auf allen relevanten Ebenen diskutiert werden sollen.
Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
27. April 2010
[1] Siehe Stellungnahme der Ständigen Fachkonferenz 1 „Grund- und Strukturfragen des Jugendrechts“ des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht vom 18.03.2010.
[2] Siehe Begriffsbestimmung „Frühe Hilfen“ des wiss. Beirates des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) September 2009, u. a. abgedruckt in der o. g. Stellungnahme des DIJuF, S.