Hilfen für Kinder und Jugendliche nach §§ 27, 35 oder 41 SGB VIII im Ausland
Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ[1]
Von sozialpädagogischen Angeboten kaum noch erreichbare Kinder und Jugendliche und auch sog. jugendliche Intensivstraftäter erzeugen immer wieder eine lebhafte öffentliche Diskussion um Möglichkeiten, aber auch um Grenzen der Jugendhilfe und der Jugendstrafrechtspflege.
Kontroverse Debatten werden in diesem Zusammenhang u. a. auch um freiheitsentziehende und sog. erlebnispädagogische Maß-nahmen im Ausland als Antworten der Jugendhilfe auf diese Kinder und Jugendlichen geführt. In etwa 80 Prozent aller Intensivmaßnahmen (also sowohl bei Inlands- als auch bei Auslandsmaßnahmen) im Jahr 2006 fanden vorangehende Hilfen (Erziehungsbeistand, Heimerziehung etc.) statt[2]. Grundsätzlich ist die eine Form der Hilfe nicht durch die andere zu ersetzen. Jugendämter wählen Hilfen zur Erziehung, die nach den §§ 27, 35 oder 41 SGB VIII in Auslandsprojekten durchgeführt werden, immer wieder als eine im Einzelfall geeignete Form der Hilfe, i. d. R. wenn andere Hilfen erfolglos waren. Gleichwohl werden Hilfen im Ausland nicht generell als eine „Intensive sozialpädagogische Einzel-betreuung“ (ISE) gem. § 35 SGB VIII oder in einem erlebnispädagogischen Setting gestaltet.
Hilfen im Ausland sind dann in Einzelfällen die notwendige und geeignete Hilfe, wenn die besonderen Rahmenbedingungen des Landes (z. B. Infrastruktur und Landschaft) verbunden mit dem individuellen pädagogischen Konzept die Möglichkeit bieten, Kinder und Jugendliche zu erreichen (mit den Zielen einer Neuorientierung und Anstößen zu Verhaltensänderungen), bei denen dies in Hilfesettings unter den Rahmenbedingungen des Inlands nicht gelingt bzw. gelungen ist. Im Dezember 2006 befanden sich insgesamt etwa 600 Kinder und Jugendliche in intensiv-pädagogischen Auslandsmaßnahmen[3]. Eine Alternative zu solchen Auslandsmaßnahmen ist in der Hilfeplanung nicht normiert.
Die Diskussion um Hilfeangebote im Ausland, insbesondere sog. erlebnispädagogische Maßnahmen, ist vielfältig und wird kontrovers geführt.
Dass Maßnahmen im Ausland scheitern können und der gewünschte Erfolg ausbleiben kann, wird nicht geleugnet. In den meisten Fällen jedoch erzielen im Ausland durchgeführte Hilfen aus Sicht der fallzuständigen Fachkräfte in den Jugendämtern Verbesserungen für die Lebensperspektiven der Kinder und Jugendlichen[4]. Hilfen im Ausland stellen damit für junge Menschen, eine spezielle Ausgestaltung von Hilfen dar, die in Einzelfällen besonders geeignet ist, die gesellschaftliche Eingliederung zu fördern. Keine Erkenntnisse liegen dazu vor, ob Erfolge unmittelbar nach Beendigung der Auslandsmaßnahmen auch länger tragfähig im Sinne einer gelungenen Integration sind.
Das Scheitern von Auslandsmaßnahmen ist in der Regel auf mangelnde Hilfeplanung im Vorfeld sowie auf fehlende Überprüfung und Kontrolle der die Auslandsmaßnahmen anbietenden Träger und der betreuenden (Fach-)Kräfte zurückzuführen. Es wird daher angeregt, bundesweite Qualitätsstandards (vor allem Standards zur Sicherung von Struktur- und Prozessqualität) in diesem Feld auszubauen, was länderspezifische Regelungen nicht ausschließt. Inzwischen wurden von unterschiedlichen Seiten Empfehlungen zu Standards für die Umsetzung intensivpädagogischer Maßnahmen entwickelt. Beispielhaft sind hier zu nennen: „Die Empfehlungen zur Beurteilung der Qualität von individualpädagogischen Maßnahmen der Hilfen zur Erziehung im Ausland“ (Beschluss des Bayerischen Landesjugendhilfeausschusses vom 12.10.2006).
Qualifizierung der Hilfeplanung
Hilfen im Ausland bedeuten stets einen erheblichen Einschnitt in das Leben der Kinder / Jugendlichen und ihrer Familien. Von besonderer Bedeutung ist daher im Rahmen der Hilfeplanung eine intensive Aufklärung und Beratung des Kindes und seiner Eltern darüber, was das Kind bzw. den Jugendlichen im Ausland und mit dem jeweiligen Betreuungssetting erwartet, ebenso über die Chancen und Risiken dieser Form der Hilfe für das Kind / den Jugendlichen und seine Familie. Des Weiteren muss ein unmittelbarer Kontakt zwischen dem Kind / Jugendlichen, seinen Eltern und dem Jugendamt während des Auslandsaufenthaltes sichergestellt sein und kompetente Ansprechpersonen des Leistungsanbieters in Deutschland und dem Ausland benannt und erreichbar sein.
Unabdingbar für ein fachlich qualifiziertes Konzept einer Hilfe im Ausland ist immer auch die (Re-)Integration des jungen Menschen in ein stabiles Umfeld in Deutschland. Im Rahmen des Hilfeplan-verfahrens müssen daher, und zwar bereits vor Einleitung der Maßnahme, konkrete Wege aufgezeigt werden, wie nach Beendigung der Auslandsmaßnahme die (Re-)Integration in Deutschland gelingen kann und welche Hilfen hierbei unterstützend gewährt werden.
Neben den Fachkräften des Jugendamtes sollten im Rahmen des Hilfeplanverfahrens nach § 36 SGB VIII bei Hilfen im Ausland auch Fachkräfte anderer Professionen einbezogen werden. Um insbesondere auszuschließen, dass eine seelische Störung mit Krankheitswert bei dem Kind bzw. dem Jugendlichen vorliegt, die die Auslandsmaßnahme kontraindiziert erscheinen lässt, soll gemäß § 35 Abs. 3 SGB VIII die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingebunden und, wenn dies für die fachliche Beurteilung im Einzelfall erforderlich ist, die Stellungnahme einer in § 35a Abs. 1a, Satz 1 SGB VIII genannten Person eingeholt werden.
Qualifizierung der Angebote im Ausland
Angebote der Hilfen nach dem SGB VIII / KJHG im Inland unterliegen einer konsequenten Überprüfung durch die Träger der öffentlichen Jugendhilfe. So muss beim überörtlichen Träger für den Betrieb einer stationären oder teilstationären Einrichtung die Betriebserlaubnis beantragt werden. Ambulante Angebote unterliegen der Kontrolle des jeweils zuständigen örtlichen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe, vielerorts liegen verbindliche Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen vor. Pflegefamilien werden im Inland sorgfältig ausgewählt, geschult und durch das zuständige Jugendamt betreut. Mit allen Trägern werden im Inland Vereinbarungen nach § 8a SGB VIII und 72a SGB VIII zur Gewährleistung des Kinderschutzes getroffen.
Solche verbindlichen Instrumente der Qualitätssicherung und Kontrolle stehen in dieser Form für Angebote im Ausland nicht zur Verfügung. Verschiedene Träger von Auslandsprojekten sichern durch ihre freiwillige Selbstverpflichtung zur Einhaltung wesentlicher (fachlich anerkannter) Qualitätsstandards deren Einhaltung zu (siehe z. B. „Selbstverpflichtungserklärung für Träger von individual-pädagogischen Leistungen der Erziehungshilfe im Ausland“ des Landschaftsverbands Rheinland – Landesjugendamt). In der Regel werden Jugendhilfemaßnahmen im Ausland nur in Einzelfällen bewilligt. Das „Erfahrungswissen“ des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe bezogen auf das jeweilige Land und den Träger ist oftmals entsprechend gering. Hier besteht Weiterentwicklungs- und Regelungsbedarf mit Blick auf eine bessere Information der Träger der öffentlichen Jugendhilfe über Konzepte von und Erfahrungen mit Hilfeangeboten im Ausland.
Aus fachlicher Sicht sollten die Träger der öffentlichen Jugendhilfe dazu verpflichtet werden, die Einhaltung von fachlichen Standards umfassend zu überprüfen. Voraussetzung dafür ist die Entwicklung einheitlicher Standards und verbindlicher Regelungen:
1. Auch Angebote im Ausland müssen einer Kontrolle durch den überörtlichen (Genehmigung der Konzeptionen, Meldung der Fachkräfte) und den örtlichen (bei Belegung verbindliche Überprüfung der Hilfe am Ort der Leistungserbringung) Träger der Jugendhilfe unterliegen. Bei der Überprüfung der Qualifizierung der Auslandsangebote sollten deren fachliche Konzepte, die Struktur der Leistungsanbieter und deren Vernetzung (im In- und Ausland) sowie die Qualifikation der beschäftigten Fachkräfte, deren fachliche Begleitung und die Konzepte des Trägers zur Mitarbeiterqualifikation im Mittelpunkt stehen. Nach den ersten Ergebnissen einer Studie zu Erlebnispädagogischen Maßnahmen im Ausland des Instituts für Erlebnispädagogik an der Uni Lüneburg wurden im Dezember 2006 9,6 % der Klienten in Gruppen und 90,4 % der Klienten in Einzelsettings betreut; 38 % der Träger arbeiten mit Gastfamilien.
Insbesondere bei den „Einzelsettings“ und auch den „Familiensettings“ lebt das Kind / der Jugendliche im Ausland ausschließlich bei einer Person bzw. einer Familie. Um so mehr ist hier die sorgfältige Auswahl der mit der Betreuung beauftragten Personen und deren fachliche Begleitung und auch Kontrolle durch den Leistungsanbieter zu gewährleisten. Insbesondere der Ausgestaltung und fachlichen Umsetzung der Ziele und Standards der Schutznormen nach § 8a SGB VIII und § 72a SGB VIII durch den Träger kommt hier eine besondere Bedeutung zu.
Je nach Lage des Einzelfalls, auch unter Einbeziehung und sorgfältiger Abwägung der damit verbundenen Kosten sollten sich die fallverantwortlichen Fachkräfte des Jugendamtes vor Ort einen eigenen Eindruck von dem Angebot, den beschäftigten (Fach-)Kräften und den örtlichen Bedingungen verschaffen.
2. Die Landesjugendämter sollten eine sog. „Informationsbörse“ für Jugendhilfeangebote im Ausland einrichten, in die die Konzepte und Änderungen der Angebote und die Erfahrungen der örtlichen Träger der Jugendhilfe einfließen. So kann eine qualifizierte Beratung der örtlichen Jugendämter erfolgen. Gleichzeitig könnten die Landes-jugendämter ein bundesweites Informations-, Evaluations- und Kontrollsystem, bezogen auf Hilfen nach dem SGB VIII im Ausland aufbauen.
3. Träger der Einrichtung oder des Angebotes im Ausland müssen gewährleisten, dass die Rechtsvorschriften des Aufenthaltslandes eingehalten werden. Es muss insbe-sondere geprüft werden, ob die Betreuung im Ausland erlaubt ist, d. h. die Aufnahme der Tätigkeit der Betreuer muss im Sinne der örtlichen Gesetzgebung über die Gewährung einer Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis genehmigt sein.
4. Die durchführenden Stellen im Ausland müssen mit den durchführenden Trägern in Deutschland, den entsendenden deutschen Jugendämtern, den Behörden des Aufenthalts-landes sowie der deutschen Vertretung im Ausland zusammenarbeiten. Die konkrete Form der verbindlichen Zusammenarbeit muss in Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt festgelegt und bereits im Vorfeld der Maßnahme sichergestellt werden. Dabei sind die internationalen und europarechtlichen Regelungen für die grenzüberschreitende Unterbringung von Kindern und Jugendlichen, insbesondere die seit dem 01.03.2005 gültige Brüssel-IIa-Verordnung zu beachten (die bei der grenzüberschreitenden Unterbringung ein sog. Konsultationsverfahren vorsieht, d. h. Behörden und Gerichte in beiden Ländern haben sich untereinander abzusprechen).
5. Der Aufenthalt von Kindern und Jugendlichen im Ausland stellt für diese einen wesentlichen Einschnitt in ihr Leben und ihre Rechte dar. Sie werden konfrontiert mit einem völlig anderen Lebensumfeld und einer fremden Sprache. Oftmals bestehen in den Ländern andere Rechtssysteme, die im Vergleich zum deutschen Recht z. B. andere, mitunter härtere Sanktionen bei Straftaten vorsehen. Daher sollte sich der die Auslandshilfe erbringende Träger verpflichten, alle in Deutschland geltenden Persönlichkeitsschutzrechte der Jugendlichen auch im Ausland verbindlich zu beachten.
Darüber hinaus müssen bereits vor Beginn der jeweiligen Hilfe Vorkehrungen getroffen werden, die in Krisen-situationen (innerhalb der Hilfe bzw. in dem jeweiligen Gastland) das Wohl des Kindes / Jugendlichen und ggf. dessen umgehende Rückkehr gewährleisten.
Aufgrund ihres freiheitsentziehenden Charakters sollte geprüft werden, ob bei Hilfemaßnahmen im Ausland nicht ebenso wie jetzt schon bei freiheitsentziehenden Maßnahmen im Inland stets eine familiengerichtliche Genehmigung zu fordern ist.
Kosten von Hilfen im Ausland
Hilfen im Ausland sind nur in sehr wenigen Einzelfällen kostenintensiver als Hilfen im Inland. Grundsätzlich sind die Kosten für Auslandsmaßnahmen genauso hoch, wie gleichwertige Maßnahmen im Inland, da die jeweiligen Leistungsentgelte im selben Rahmen liegen. Im Vergleich zu den entstehenden Kosten einer freiheitsentziehenden Maßnahme für den Jugendlichen im Inland muss deutlich gemacht werden, dass die hier anfallenden Kosten pro Tag i. d. R. erheblich über den Tagessätzen einer intensivpädagogischen Auslandsmaßnahme liegen.
Hilfen im Ausland – Europa als Chance und Herausforderung
In den Diskussionen um Hilfen im Ausland sollte unterschieden werden, ob diese innerhalb oder außerhalb der Europäischen Union durchgeführt werden. Bislang existieren in der öffentlichen und der freien Jugendhilfe im Bereich der Hilfen zur Erziehung nur wenige Kenntnisse über die (Jugendhilfe-)Strukturen anderer Mitglieds-staaten und kaum Formen der strukturierten Zusammenarbeit. Chancen sowie Konzepte der Träger der öffentlichen und der freien Jugendhilfe im Bereich der Hilfen zur Erziehung auch europäisch zu diskutieren und weiter zu entwickeln werden nur punktuell genutzt. Vor dem Hintergrund, dass Maßnahmen nach § 35 SGB VIII im europäischen Ausland einen besonderen Stellenwert einnehmen (so fanden 76% der ca. 600 intensivpädagogischen Auslandsmaß-nahmen im Jahre 2006 - s. o. - innerhalb der EU statt), ist eine grenzüberschreitende europäische Diskussion wichtig. Hilfen im europäischen Ausland werden in der Regel von Deutschland aus konzipiert, und oftmals ohne Bezug zu den, in dem jeweiligen Land existierenden Jugendhilfestrukturen organisiert. Insbesondere in den Grenzregionen bieten sich grenzüberschreitende Konzepte und Strategien auch in den Hilfen zur Erziehung an. Entscheidungen und auch Diskussionen auf europäischer Ebene werden auf der örtlichen Ebene der Jugendhilfe oftmals kaum wahrgenommen, der gegen-seitige Dialog allerdings auch kaum geführt.
Geschäftsführender Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ - August 2007
[1] Bei der Stellungnahme handelt es sich um eine Positionierung, die auf Grundlage der im November 2003 verabschiedeten AGJ-Stellungnahme „Intensivpädagogische Maßnahmen im Ausland gemäß § 35 SGB VIII“ erarbeitet wurde. Die frühe AGJ-Stellungnahme wurde aktualisiert, Änderungen durch das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK) fanden Berücksichtigung.
[2] Siehe in diesem Zusammenhang auch die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Freiheitsentziehende Maßnahmen im Rahmen von Kinder- und Jugendhilfe, Psychiatrie und Justiz“ (Indikationen, Verfahren und Alternativen) des Deutschen Jugendinstituts (www.dji.de/Freiheitsentzug).
[3]Siehe: Erste Ergebnisse der Evaluationsstudie „Intensivpädagogische Auslandsmaßnahmen in den Hilfen zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII und ihre Folgen“, durchgeführt durch das Institut für Erlebnispädagogik e. V. an der Universität Lüneburg; Wendelin/Pforte „Intensivpädagogische Auslandsmaßnahmen in den Hilfen zur Erziehung“ in JAmt 04/2007.
[4] Siehe Klawe, Willy / Bräuer, Wolfgang „Zwischen Alltag und Alaska – Praxis und Perspektiven der Erlebnispädagogik in den Hilfen zur Erziehung“, Weinheim und München 1998; Evaluationsstudie „Erlebnispädagogik in den Hilfen zur Erziehung“, 1996 – 1998, Institut des Rauhen Hauses für Soziale Praxis.