Sicherung einer zukunftsfähigen Kinder- und Jugendhilfe nach Verabschiedung der Föderalismusreform
Position der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Positionspapier als PDF
Am 1. September 2006 trat das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes in Kraft. Durch die Änderung der Art. 84 Abs. 1, Art. 125a und die Einfügung des Art. 125b Grundgesetz haben die Länder einen erweiterten Gestaltungsspielraum bei der Regelung der Einrichtung der Behörden (seit 1.9.2006) und Verfahren (ab 1.1.2009) für die Leistungen und anderen Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe.
Die Verfassungsreform wurde in den Gremien der AGJ kontinuierlich fachlich begleitet. Unmittelbar nach In-Kraft-Treten der Reform informierte die AGJ im Herbst 2006 über die neue Rechtslage mit der Publikation „Auswirkungen der Föderalismusreform auf die Kinder- und Jugendhilfe“. In der Broschüre werden die Gesetzesänderungen dargestellt und Ausblicke auf (mögliche) Auswirkungen der Verfassungsreform auf die Kinder- und Jugendhilfe gegeben. Teil der Publikation ist des Weiteren die im September 2006 verabschiedete AGJ-Entschließung zur Kinder- und Jugendhilfe nach Verabschiedung der Föderalismusreform.
Ausgehend von den o. g. AGJ-Diskussionen und Aktivitäten zur Verfassungsreform hat die AGJ die Sicherung moderner fachlicher Standards für eine effektive und effiziente Kinder- und Jugendhilfe unter drei Aspekten diskutiert:
- Freiheitsförderlichkeit der Kinder- und Jugendhilfe
- Aufbauorganisation öffentlicher Kinder- und Jugendhilfe
- Verwaltungsverfahren im SGB VIII.
In der vorliegenden AGJ-Position werden die Möglichkeiten und Grenzen föderaler Differenzierungen bei den Strukturen und Verfahren des SGB VIII mit Blick auf eine fachliche und praxisgerechte Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe herausgearbeitet.
1. Freiheitsförderlichkeit der Kinder- und Jugendhilfe
1.1 Freiheitsförderlichkeit als Verfassungsauftrag
Die öffentliche Verwaltung in Deutschland hat gemäß der Verfassung den Auftrag, freiheitsförderlich zu handeln und auch sich freiheitsförderlich zu strukturieren. Die Freiheitsrechte der Verfassung sind in diesem Sinn nicht nur Rechte auf Abwesenheit von illegitimer staatlicher Einflussnahme. Sie enthalten auch eine gesellschaftliche Verabredung zu sinnvollem Gebrauch dieser Freiheitsrechte. Der Staat hat in diesem Sinn nicht die Aufgabe diesen sinnvollen Gebrauch zu erzwingen, er ist aber gleichwohl nicht absichtslos. Deshalb wird er „ ... dafür werben, dass seine Bürger von ihrem Recht zu Ehe und Familie Gebrauch machen und damit die Zukunft des Staates in einer freiheits- und demokratiefähigen Jugend sichern; ...“ (Paul Kirchhoff, Handbuch des Staatsrechts, § 221 Rn. 59).
1.2 Freiheitsförderlichkeit im Jugendhilferecht
Mit dem Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten formuliert § 5 SGB VIII eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass das Sozialleistungsangebot der verfassungsrechtlich gebotenen Wahrung der Menschenwürde und der Förderung der Freiheit gerecht wird: Wären hilfebedürftige Bürgerinnen und Bürger verpflichtet, ein bestimmtes Leistungsangebot anzunehmen, müssten sie die handlungsleitenden Vorstellungen des oder der Helfenden als handlungsleitend für ihre Entwicklung akzeptieren. Dass die handlungsleitenden Vorstellungen der Helfenden erheblich gestaltend auf die Hilfebedürftigen einwirken, ist gerade bei Erziehungsprozessen unvermeidlich und wohl auch notwendig, in diesem Sinne gilt für die Jugendhilfe insgesamt: Helfen heißt Herrschen.
Weil Menschen aber niemals schlicht zum Objekt staatlichen Handelns werden dürfen, muss auch in den Situationen, in denen sie auf Hilfe entscheidend angewiesen sind, möglichst viel Steuerungsmacht bei ihnen verbleiben. Diesem dient das Recht der Leistungsberechtigten, zwischen verschiedenen Angeboten verschiedener vorhandener Anbieter von Hilfe auszuwählen. Sofern das gewählte Angebot nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist, muss der öffentliche Träger dem Wunsch des Hilfeempfängers entsprechen. Dieses bedeutet, dass der Hilfeempfänger nicht verpflichtet ist, das billigste Angebot zu wählen. Das von ihm gewählte Angebot kann auch mit Mehrkosten verbunden sein. Diese müssen in einer abwägenden Entscheidung in ein Verhältnis gesetzt werden zu den Vorteilen, die sich objektiv und aus der Sicht des Hilfeempfängers ergeben. Erst wenn sie unter dieser Rücksicht unverhältnismäßig sind, muss dem Wunsch nicht entsprochen werden, wiewohl der öffentliche Träger auch in diesen Fällen die Möglichkeit hat, dem Wunsch zu entsprechen. Der Gesetzgeber hat geahnt, dass die öffentlichen Träger mit der Verwirklichung dieses Rechtes der Bürgerinnen und Bürger Schwierigkeiten haben werden. Wegen der hohen Bedeutung vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Bestimmungen hat er deshalb die öffentlichen Träger verpflichtet, die Leistungs-berechtigten auf ihr Wunsch- und Wahlrecht hinzuweisen.
1.3 Anforderungen an die Strukturen in der Jugendhilfe
Freiheitsförderlichkeit als Grundanforderung an die Strukturen der Jugendhilfe führt zu fünf konkreteren Anforderungen an die Strukturen der Jugendhilfe, die auch bei Ausgestaltungen der Kinder- und Jugendhilfe auf landesrechtlicher Ebene berücksichtigt werden müssen:
- Klarheit im Hilfeangebot
Freiheitsförderlich kann ein Hilfeangebot nur dann sein, wenn es für die Adressaten transparent ist. Intransparente Angebote führen dazu, dass sich Bürgerinnen und Bürger der öffentlichen Verwaltung wie Untertanen unterworfen fühlen. Diese Transparenz im Leistungsangebot lässt sich immer dann gut erreichen, wenn typisierte Leistungen zur Verfügung stehen. Im Bereich der Jugendhilfe ist dies insbesondere bei Leistungen nach den §§ 11 - 25 SGB VIII der Fall. Angesichts des offenen Hilfekataloges kann diese Klarheit bei Leistungen nach § 27 SGB VIII nicht bestehen. Gleichwohl muss das Angebot insgesamt möglichst transparent sein. Erst dann kann das Wunsch- und Wahlrecht seine menschenwürdewahrende Wirkung entfalten.
- Transparenz beim Kontrollauftrag
Jugendhilfe hat neben dem Auftrag der Hilfe auch den Auftrag der Kontrolle von Menschen und Personen, die in besonderer Weise für junge Menschen sorgen. Gerade in der Erfüllung dieser Aufgabe ist die Gefahr groß, dass sich die Menschen, die dieser Aufsicht unterstellt sind, als bloß rechtsunterworfen und ohne eigene Rechte erleben. In der Erfüllung des Kontrollauftrages lässt sich nicht vermeiden, dass zwischen Kontrollverpflichteten und den zu Kontrollierenden ein Machtgefälle deutlich wird. Akzeptanz der Kontrolle und auch eine notwendige Mitwirkung der zu Kontrollierenden lässt sich nur erreichen, wenn Transparenz über Zweck, Grundlagen und Verfahren der Kontrolle besteht. Gegenüber Professionellen lässt sich diese Klarheit herstellen, für von Kontrollhandeln betroffene Eltern bedarf es großer Bemühungen, Transparenz zu ermöglichen.
- Pluralitätsfreundlichkeit
Freiheitsförderlich sind Strukturen der Jugendhilfe dann, wenn sie Bürgerinnen und Bürgern, auch solchen mit Hilfebedarfen deutlich machen, dass sie Wahlmöglichkeiten haben, dass es auf ihre Entscheidung ankommt. Voraussetzung dafür ist, dass die öffentliche Verwaltung sich aktiv um die Herstellung von Auswahlmöglichkeiten bemüht. Dieses kann nur gelingen, wenn die Beziehungen zwischen freien und öffentlichen Trägern so gestaltet werden, dass nicht Gleichheit des Angebots freier Träger und anderer Leistungsanbieter, sondern dessen Unterscheidbarkeit profiliert wird. Voraussetzung in der Struktur der öffentlichen Verwaltung ist dafür eine definierte und kontrollierbare Mitwirkungsmöglichkeit freier Träger, die in einer Weise genutzt wird, in der eine Qualifizierung der Entscheidungen des öffentlichen Trägers im Fokus stehen muss. Um dies zu erreichen, ist das Instrument des Jugendhilfeausschusses ein wichtiges Mittel; seine Funktionsfähigkeit zu verbessern, ist im Wesentlichen eine kommunale Aufgabe.
- Mitwirkungsfreundlichkeit
Freiheitsförderlich ist die Struktur der öffentlichen Verwaltung dann, wenn sie Bürgerinnen und Bürgern die Mitwirkung an sie selbst betreffenden Entscheidungen ermöglicht. Bürgerinnen und Bürger sind dann nicht nur mitwirkungsverpflichtete Adressaten des Verwaltungshandelns, wenn die öffentliche Verwaltung im Sinne von Empowerment an Wünschen und Fähigkeiten anknüpft und Handlungsräume öffnet, die von den Bürgerinnen und Bürgern in eigener Verantwortung gefüllt werden müssen. Hierzu bedarf es eingeübter Verfahren bei der Beteiligung nach § 8 SGB VIII und der Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII. Zu prüfen ist, ob es sinnvoll ist, dass diese Hilfeplanung regelmäßig mit einer Vereinbarung zwischen Jugendamt und Leistungsberechtigtem abzuschließen ist.
- Transparenz im Verwaltungshandeln
Wichtige Konsequenz aus der Anforderung freiheitsförderlichen Verwaltungshandelns ist Transparenz im Verwaltungshandeln. Diese hängt nicht nur an der Vorhersehbarkeit des Verwaltungshandelns im Einzelfall, sondern auch an der Zugänglichkeit der Verwaltung durch gleiche oder wenigstens ähnliche Behördenbezeichnungen. Von Bürgerinnen und Bürgern wird vielfältig Mobilität erwartet, Erwachsene können sich regelmäßig nicht verlassen, ihr gesamtes Erwerbsleben an einem Ort zu verbringen, Kinder und Jugendliche erleben es vielfach als Normalität, dass sie mit ihren Eltern den Wohnort wechseln. Die öffentliche Verwaltung ist aufgerufen, Mobilität nicht zu erschweren. Dieses kann sie entscheidend dadurch erreichen, dass sie unter erwartbaren Bezeichnungen aufgefunden werden kann. Regelmäßig erwarten die Menschen die die Jugendhilfe betreffende Verwaltung unter dem Titel „Jugendamt“. Dieser Erwartung ist auch dann zu entsprechen, wenn es im jeweiligen kommunalen Einzelfall angemessener erscheint, eine andere Bezeichnung zu wählen.
2. Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe – neue Herausforderungen – Aufbau-organisation öffentlicher Kinder- und Jugendhilfe
Das Aufgabenprofil öffentlicher Kinder- und Jugendhilfe verändert sich aufgrund neuer Herausforderungen im Zuge des sozialen und gesellschaftlichen Wandels wesentlich. Öffentliche Kinder- und Jugendhilfe wird weit über die Gewährleistung individueller Hilfe hinaus zunehmend als "Gestalter" struktureller Rahmenbe-dingungen im Sinne einer familien- und kinderfreundlichen sozialen Infrastruktur herausgefordert. Nach den aktuellen Diskussionen stehen hierfür insbesondere folgende Erwartungen:
- Eine niedrigschwellige, auf Prävention ausgerichtete Förderstruktur; insbesondere die Entwicklung regelmäßiger, systematischer Förderangebote für Familien mit Kindern unter 3 Jahren
- Eine systematische Früherkennung von Risiken (u.a. § 8a SGB VIII)
- Die systematische Ergänzung schulischer Bildung um außerschulische Angebote, die nicht formales bzw. informelles Lernen unterstützen und jungen Menschen Gelegenheiten bieten zur Einübung von Verantwortungs-übernahmen und zur Mitgestaltung der Gesellschaft
- Der wirksame Jugendschutz bzw. Angebote zur persönlichen Stärkung junger Menschen gegenüber sie gefährdenden gesellschaftlichen Einflüssen (Medien, Gewalt, Drogen…)
- Die wirksame Integration von sozial benachteiligten jungen Menschen, von jungen Menschen mit Zuwanderungs-hintergrund, von Kindern und Jugendlichen aus benachteiligten Milieus
- Die aktive Beteiligung an der Sozialraumgestaltung
- Die Planung auf der Grundlage systematischer Datener-hebungen und -fortschreibungen
- Die Systematische Beteiligung an der Gesundheits-förderung und Prävention
- Systemübergreifende Vernetzungs- und Kooperations-strukturen (u. a. Einbeziehung von Gesundheitswesen, Bildung, Arbeitswelt, Freizeit und Kultur).
Zunehmende Individualisierung von Lebensstilen und Lebensentwürfen verlangen auch im Einzelfall weniger standardisierte als vielmehr speziell für den Einzelfall zu entwickelnde Hilfeformen; d. h. weniger Leistungsvollzug als vielmehr Leistungsgestaltung, dabei geht es u. a. um folgende Aspekte:
- Die frühzeitige sachgerechte Intervention im Fall von Kindeswohlgefährdung
- Passgenauere Hilfen, besonders für Fälle hoch problem-belasteter Biographien
- Interdisziplinäre Früherkennungs- und Hilfeverfahren
- Die Zusammenarbeit öffentlicher Jugendhilfe mit freien Trägern
- Die Gewährleistung von mehr Partizipation von Kindern und Familien
- Die Garantenstellung für die Erfüllung der zunehmend stärker betonten eigenständigen (elternunabhängigen) Grundrechte junger Menschen (siehe Diskussion "Kindergrundrechte in die Verfassung").
Aus dem skizzierten Blickwinkel ergibt sich eine besondere Anforderung an eine institutionelle Verfasstheit, nach der Fachlichkeit, Kompetenz, Zusammenarbeit mit den freien Trägern, Netzwerkbildung, Datenerfassung usw. für die notwendige Gestaltungsarbeit sichergestellt ist. In diesem Sinne muss für den Erhalt bzw. für die Weiterentwicklung der Aufbauorganisation öffentlicher Jugendhilfe folgenden Aspekten Rechnung getragen werden:
2.1 Der spezifische Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe erfordert Fachkenntnisse im Hinblick auf Entwicklung und Aufwachsen junger Menschen, eine spezifische sozialpädagogische Kompetenz im Umgang mit jungen Menschen bzw. Eltern sowie eine besondere Expertise im Bereich der Förderung, Bildung und Erziehung. Eine entsprechende Spezialisierung ist in der Aufbauorganisation strukturell abzusichern. Dem besonderen Gestaltungsauftrag für eine kinder-, jugend- und familienfreundliche Infrastruktur muss durch eine entsprechende Gestaltungskompetenz in der Aufbau-organisation der Jugendhilfe Rechnung getragen werden. Dazu gehören auch Kapazitäten für die Fachplanung.
2.2 Insbesondere die hoheitlichen Aufgaben der Jugendhilfe, wie etwa die des Kindesschutzes, sind gekennzeichnet durch miteinander verbundene administrative, juristische und sozialpädagogische Anforderungen. Dass diese in ihrer Gesamtheit sachgerecht berücksichtigt werden können, ist strukturell abzusichern (personelle und materielle Ausstattung).
2.3 Grundsätzlich gilt, dass administrative oder juristische Aufgabenanteile in den sozialpädagogischen Zielhorizont der Jugendhilfe eingebettet bleiben müssen. Dem ist auch durch die Aufbauorganisation Rechnung zu tragen.
2.4 Da die Qualität eines personenbezogenen sozialen Handelns wie der Jugendhilfe sich nicht durch bloßen Rückgriff auf die individuell fachgerechte Anwendung professioneller Regeln herstellen lässt, bedarf es zur Qualitätssicherung einer fachlich verantwortlichen Steuerung und Begleitung der Jugendhilfe sowie eines Rahmens für die wechselseitige kollegiale Abstimmung und Beratung in der Organisation der Jugendhilfe. Neben der Transparenz von Verantwortlichkeiten und Handlungsverpflichtungen ist eine kontinuierliche fachliche Qualitätskontrolle (einschließlich Datenschutz, Beteiligung, etc.) sicherzustellen.
2.5 Die Struktur der Jugendhilfe muss transparent sein, damit Kinder auch dann wirksam geschützt werden können, wenn ihre Familien in andere örtliche Zuständigkeitsbereiche umziehen. Strukturen müssen überschaubar und in Grundzügen überregional vergleichbar sein, damit eine nahtlose Fallübergabe sichergestellt werden kann, aber auch generell, um junge Menschen und ihre Familien bei der Bewältigung von Mobilitätsfolgen unterstützen zu können.
2.6 Auch im Rahmen der Jugendhilfe sind alle Erkenntnisse zur positiven Beeinflussung der familiären Erziehungssituation zu nutzen. Bezogen auf die Aufbauorganisation bedeutet dies, jeder Tendenz zum Rückfall auf die „Eingriffsbehörde“ strukturell gegenzusteuern, weil diese den notwendigen kommunikativen Zugang zu den Betroffenen, deren frühes eigeninitiatives Hilfeersuchen und deren notwendige Mitwirkung an der Leistungserbringung blockiert. Das „doppelte Mandat“ von Förderung und Kontrolle, Freiwilligkeit und Zwang sollte offen akzeptiert werden und als konstitutive Elemente des sozialpädagogischen Handelns und professionelle Heraus-forderung eingeordnet werden.
2.7 Junge Menschen bzw. ihre Eltern müssen in der Organisation der Jugendhilfe eine leicht zugängliche Anlaufstelle finden für ihre (zunächst) unspezifischen Anliegen im Bereich der Förderung und Unterstützung, der Erziehung und des Schutzes vor Gefährdungen („Hausarztmodell“). Die Aufbauorganisation der Jugendhilfe muss auch insofern kinder-, jugend- und familienfreundlich sein.
2.8 Dem Idealbild der Leistungen „aus einer Hand“ folgend müssen unterschiedliche Jugendhilfeleistungen problemlos auf den jeweiligen Bedarf hin kombiniert und zugeschnitten werden können. Das beinhaltet die Forderung nach „kurzen Wegen“ zwischen den verschiedenen Leistungs- und Aufgaben-bereichen der Jugendhilfe (Lebenswelt- und Sozialraumbezug).
2.9 Bürgerinnen und Bürger können erwarten, dass die Zusammenarbeit unterschiedlicher Jugendhilfebereiche bruchlos funktioniert. Ebenso können sie auch erwarten, dass die Jugendhilfe ihre Schnittstellen zu anderen gesell-schaftlichen Handlungssystemen, die für junge Menschen und ihre Eltern relevant sind, möglichst reibungslos und widerspruchsfrei organisiert.
2.10 Der besondere Wert der Jugendhilfe für die Bürger liegt u. a. darin, dass sie die jungen Menschen in ihrer Individualität wahrnimmt und sie um ihrer selbst Willen fördert. Dieser Aspekt muss als übergeordnetes Ziel der Jugendhilfeorganisation zum Tragen kommen und auch in der Kooperation mit Institutionen aufrecht erhalten werden, in denen junge Menschen nur in einer jeweils institutionenspezifischen Rolle zur Geltung kommen, wie etwa in der Schule oder im Ausbildungsbetrieb.
2.11 Dem Grundprinzip der Förderung des Individuums ist nach dem SGB VIII durch eine plurale Angebotsstruktur zu entsprechen. Dazu bedarf es der institutionalisierten Zusammenarbeit mit freien Trägern. Die einflussreiche Mitwirkung möglichst vieler zivilgesellschaftlicher Akteure muss deshalb weiterhin strukturell gewährleistet werden.
2.12 Die Mitwirkung und Mitbestimmung freier Träger und deren besondere Produktivkraft für die Jugendhilfe ist strukturell abzusichern. Es ist zu gewährleisten, dass deren Expertise bei der Gestaltung der Jugendhilfe auch zukünftig zum Tragen kommen kann. Dazu gehört es auch, ihnen eine prominente Rolle im organisatorischen Gefüge der Jugendhilfe zuzuweisen, so wie sie nach geltendem Recht in der Form der Zweigliedrigkeit des Jugendamtes verankert ist.
2.13 Damit die Jugendhilfe im Sinne des SGB VIII wirken kann, muss sie erfolgreich gegenüber anderen Politikfeldern vertreten werden. Dazu bedarf es einer entsprechend klaren, zielorientierten Profilierung der Jugendhilfeorganisation sowie bezüglich der fachlichen Einflussnahme auf landes- und bundesspezifische Regelungen auch einer fachlich ausgewiesenen überregionalen Kommunikationsstruktur.
2.14 Unabhängig von den sozialrechtlichen Aufgaben im engeren Sinne ist das Jugendamt nach dem Gesetz auch verantwortlicher Akteur für die Gestaltung der Verfahren, sei es für die Vereinbarungen nach § 8a SGB VIII, die Gründung von Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB VIII, den Abschluss von Vereinbarungen nach § 72a SGB VIII bzw. nach §§ 78a ff. SGB VIII, für die Jugendhilfeplanung nach § 80 SGB VIII oder für die Kooperation mit Dritten außerhalb der Jugendhilfe nach § 81 SGB VIII. Die entsprechenden Funktionen müssen in der Aufbauorganisation der Jugendhilfe verankert und in Anbindung an die Programmatik der Jugendhilfe erfüllt werden.
2.15 Auch die kommunalisierte Jugendhilfe ist nicht ausschließlich auf den Zuständigkeitsbereich eines örtlichen Jugendhilfeträgers beschränkt. Ihre öffentliche Organisation - bis jetzt das Jugendamt - muss vielfältige Kooperations-beziehungen mit den vergleichbaren Stellen anderer örtlicher Träger unterhalten. Dabei geht es um die Zusammenarbeit in Form gemeinsam finanzierter Einrichtungen (Beratungsstellen, gemeinsame Adoptionsstellen o. ä.) Dienste und Maßnahmen, um die jugendhilfeinterne Abstimmung der Kooperation mit Dritten wie ARGE, Schule und Gesundheitsdienste sowie um die einzelfallbezogene Zusammenarbeit, etwa in Fragen der Zuständigkeitsklärung und der überregionalen Kostener-stattung, der konkreten Hilfegewährung oder der Amtshilfe im Einzelfall.
Um die Zusammenarbeit sachgerecht zu ermöglichen, müssen entsprechende Funktionseinheiten im Zuständigkeitsbereich der örtlichen Träger identifizierbar und zu verbindlichen Absprachen berechtigt sein.
Vieles spricht dafür, dass es zur Erfüllung der vorstehenden Anforderungen zwar keiner Einheitsstruktur wohl aber einer Struktureinheit in der öffentlichen Jugendhilfe bedarf. Das SGB VIII basiert auf einer solchen Struktureinheit. Wenn sie aufgegeben werden sollte, müsste die gesamte Statik der Jugendhilfe als ein Element der öffentlichen Fürsorge neu überdacht werden.
3. Verwaltungsverfahren im SGB VIII
3.1 Kern der Neuregelungen bezogen auf das Verwaltungsverfahren
Die Länder haben die Kompetenz, das Verwaltungsverfahren in Abweichung vom Bundesrecht, eigenständig zu regeln (Art. 84 Abs. 1 GG). Nur in Ausnahmefällen kann der Bund wegen eines besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlichen Regelungen das Verwaltungsverfahren ohne Abweichungsrecht für die Länder bestimmen (Art. 84 Abs. 1, S. 4 GG). Diese Gesetze sind - wie bisher auch - gem. Art. 84 Abs. 1, S. 5 GG dann allerdings zustimmungspflichtig. Bis zum 31.12.2008 (Art. 125 b Abs. 2 GG) existiert eine Sperrfrist für die Länder, es sei denn, der Bund ändert das jeweilige Bundesgesetz in diesem Bereich. Mit der Sperrfrist soll u.a. erreicht werden, dass der Bund die Möglichkeit erhält, zu prüfen, welche (zustimmungspflichtigen) Vorschriften er aus einem Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung, ohne Abweichungs-recht für die Länder, erlassen will.
3.2 Definition des Verwaltungsverfahrens
Die Voraussetzungen zum Vorliegen eines Verwaltungsverfahrens im Sinne des § 84 Abs. 1 GG sind im § 8 SGB X festgelegt. [1]
"Das Verwaltungsverfahren im Sinne dieses Gesetzbuchs ist die nach außen wirkende Tätigkeit der Behörden, die auf die Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlass eines Verwaltungsaktes oder auf den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags gerichtet ist; es schließt den Erlass des Verwaltungsaktes oder den Abschluss des öffentlich-rechtlichen Vertrags ein." Über diese Definition hinaus bezieht sich der Begriff des Verwaltungsverfahrens ebenfalls auf Verfahren ohne Außenwirkung sowie den Erlass von Rechtsverordnungen und Satzungen.
Nach der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes fallen unter den Begriff des Verwaltungsverfahrens i. S. des Art. 84 Abs. 1 GG gesetzliche Bestimmungen, "die die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden im Blick auf die Art und Weise der Ausführung des Gesetzes einschließlich ihrer Handlungsformen, die Form der behördlichen Willensbildung, die Art der Prüfung und Vorbereitung der Entscheidung, deren Zustandekommen und Durchführung und Durchsetzung sowie verwaltungsinterne Mitwirkungs- und Kontrollvorgänge in ihrem Ablauf regeln"[2].
3.3 Abgrenzung von Verwaltungsverfahren und materiell-rechtlichen Regelungen - Untrennbarkeit von materiellem Recht und prozeduralem Recht
Materielles Recht und prozedurales Recht sind eng miteinander verzahnt. Das bedeutet dreierlei:[3]
- Materielles Recht und Organisations- und Verfahrensrecht, das seiner Ausführung dient, sauber voneinander zu trennen, ist nicht möglich.
- Es gibt sog. "doppelgesichtige Normen", Vorschriften mit materiell-rechtlichem Inhalt und verfahrensrechtlicher Bedeutung.[4]
- In der unmittelbaren Rechtsanwendung existieren Wechselwirkungen zwischen formellem und materiellem Recht, die für das Ergebnis maßgeblich bestimmend sind.
Die ergebnisbestimmende Bedeutung verfahrensrechtlicher Fragen steht in unmittelbarer Abhängigkeit zum Determinationsgrad des materiellen Rechts, d.h. je schwächer ausgebildet das materielle Recht ist (Final- anstatt Konditionalprogramme, unbestimmte Rechtsbegriffe statt konkreter Handlungsanweisungen), umso stärker haben Verfahrensregelungen diese "Schwäche" zu kompensieren. Ergänzendes und präzisierendes Verfahrensrecht unterstützt dabei die Realisierung materieller Rechte, "Organisations- und Verfahrensrecht fungiert in diesem Fall gewissermaßen als "Stellvertreter" für materielles Recht"[5]. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtssprechung die Figur des "Grundrechtsschutzes durch Verfahren" und des "Grundrechtsschutzes durch Organisation" entwickelt. Diese Rechtsfigur ist auf die Fälle anwendbar, in denen die Einhaltung und Verwirklichung materieller Grundrechte, aufgrund unbestimmter Rechtsbegriffe, nur durch entsprechende ergänzende Organisations- und Verfahrensregelungen sicher-zustellen ist.
Bei Vorschriften mit materiell rechtlichem Inhalt und zugleich verfahrensrechtlicher Bedeutung ergeben sich besondere Abgrenzungsschwierigkeiten. Das SGB VIII weist eine Reihe dieser „doppelgesichtigen“ Regelungen auf, geprägt von Finalpro-grammen und unbestimmten Rechtsbegriffen wie z. B. „Wohl des Kindes“, „geeignete und notwendige Hilfe“, „erzieherischer Bedarf“. Das trägt insbesondere der Tatsache Rechnung, dass eine qualifizierte Entscheidung über die angemessene Hilfe, sowie ihrer Überprüfung und Fortschreibung, nur durch eine umfassende Einbeziehung der Leistungsempfänger im Rahmen professionell ausgestalteter Aushandlungs- und Beurteilungsprozesse erreicht werden kann.
Im Hinblick auf die sich aus dem existierenden Doppelcharakter resultierende Frage der Zuordnung (materielles Recht oder Verwaltungsverfahren) sowie sich evtl. daraus erwogener „Zugriffsmöglichkeiten“ muss aus Sicht der AGJ die grundsätzliche Feststellung getroffen werden, dass ohne die verfahrensrechtlichen Anteile eine adäquate Umsetzung des materiellen Leistungs-anspruches und damit der Ziele aus dem § 1 SGB VIII gar nicht möglich wäre. Diese innere Logik stellt geradezu das Grundprinzip des SGB VIII dar und ist damit konstitutives Merkmal der Anwendung des Jugendhilferechts.
Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ wird den anstehenden Diskurs, welche Bestimmungen des SGB VIII im Einzelnen dem materiellen Recht zuzuordnen sind oder zumindest als Regelungen mit überwiegend materiell-rechtlichem Charakter betrachtet werden können und welche Normen verfahrens-rechtliche Regelungen i. S. v. Art. 84 Abs. 1 GG darstellen, fachpolitisch begleiten.
Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 18./19. April 2007
[1] Gleichlautend die Legaldefinition im § 9 Verwaltungsverfahrensgesetz für Verwaltungstätigkeiten außerhalb des Anwendungsbereiches des SGB.
[2] BVerfGE 55, 274 S. 320 f
[3] Grimm, D: Änderung von Art. 84 Abs. 1 GG, Bundesstaatskommission, Arbeitsunterlage 0060
[4] BVerfGE 55, 274, S.321
[5] Grimm: a.a.O.