Empfehlungender Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe zur Anwendung des § 35 a SGB VIII

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Mit Einführung des § 35a in das SGB VIII (1. SGB VII – ÄnderG vom 16.02.1993) wurde die Eingliederungshilfe in das SGB VIII eingefügt. Damit sind Leistungen für seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche und entsprechend § 41 SGB VIII junge Volljährige in den Zuständigkeitsbereich der Jugendhilfe gegeben worden. Hilfen nach dem SGB VIII sind gegenüber der Eingliederungshilfe des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) vorrangig und nicht auf wesentliche Behinderungen beschränkt, sondern sie umfassen alle Stufen einer Behinderung.

In dem aktuellen Gesetzesentwurf zur Änderung des SGB VIII sollen die Leistungen für seelisch behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder- und Jugendliche gekürzt und denen des BSHG angeglichen werden. Zu den in der Novellierung vorgesehenen Änderungen im Einzelnen hat sich die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe in ihrer Stellungnahme positioniert. Sie lehnt die angestrebten Änderungen des § 35a SGB VIII ab, da mit ihnen die seit Einführung der Vorschrift entstandenen Probleme mit fachlichen und finanziellen Auswirkungen nicht gelöst, sondern sogar teilweise noch verstärkt werden.

Es ist, wie in der Begründung des o. g. Gesetzesentwurfes ausgeführt, richtig, dass Eingliederungshilfen nach § 35a SGB VIII einen wachsenden Teilbereich der Jugendhilfe darstellen. Dies belegen die vorhandenen bundesweiten Angaben zu der entsprechenden Ausgabensteigerung von 20-30%. Allerdings sind die Inanspruchnahmewerte in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich und es gibt deutliche Unterschiede zwischen Bundesländern, aber auch zwischen einzelnen Jugendämtern. Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Ein Grund ist die teilweise sehr unterschiedliche Umsetzung des § 35a SGB VIII und die Gewährung von Eingliederungshilfe vor Ort. Hier liegt aus Sicht der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe der wesentliche Punkt zur Lösung der fachlichen und finanziellen Probleme, an den mit den nachfolgenden Empfehlungen angeknüpft werden soll.

Hilfen nach § 35a SGB VIII werden bei seelischen Behinderungen gewährt, die auf verschiedensten seelischen Störungen (z. B. Suchtkrankheiten, Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, körperlich nicht begründbare Psychosen oder seelische Störungen als Folge von Krankheiten) beruhen können. Die Behinderung und die Störung werden gesondert festgestellt und sind voneinander zu trennen. Es sind zwei aufeinander aufbauende Diagnosen vorzunehmen. Die Feststellung der seelischen Stö- rung fällt in den Zuständigkeitsbereich des Arztes bzw. der Ärztin. In einem zweiten Schritt erfolgt die sozialpädagogische Prüfung, ob auch eine seelische Behinderung im jeweiligen Fall vorliegt oder droht. Diese Prüfung gestaltet sich in der Praxis als sehr schwierig und aufwändig. Als Grundlage dient das multiaxiale Klassifikationsschema für psychologische Störungen im Kindes- und Ju- gendalter ICD 10, anerkannt durch die Weltgesundheitsorganisation-WHO. Darin sind verschiedenste seelische Störungen aufgeführt, die dann als seelische Behinderung zu bewerten sind, wenn zur Funktionsstörung eine Gefährdung der Entwicklung sowie der gesellschaftlichen Eingliederung bzw. der altersgerechten Teilhabe an verschiedensten Lebensbereichen des jungen Menschen hinzukommt.

Da sich die Kostensteigerungen der vergangenen Jahre vor allem auf den Bereich der Hilfen bei Teilleistungsstörungen[1] und daraus resultierenden seelischen Behinderungen beziehen und die Leistungseinschränkungen der angestrebten Novellierung vorrangig diese Hilfen betreffen, wurde der Schwerpunkt der Empfehlungen ebenfalls hier gelegt.


Empfehlungen

(1) Fortbildung der Mitarbeiter bzw. Mitarbeiterinnen des Jugendamtes / Allgemeinen Sozialen Dienstes

Nach der medizinischen Diagnose der seelischen Störung bei einem Kind bzw. Jugendlichen folgt das sozialpädagogische Diagnostikverfahren, in dem geprüft wird, ob darüber hinaus eine seelische Behinderung vorliegt und wenn ja, welche Leistungen der Jugendhilfe gewährt werden.
Die Entscheidung, ob eine Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII bejaht wird, liegt ausschließlich beim Jugendamt / ASD, dessen sozialpädagogische Bewertung allein ist ausschlaggebend. Die Erfahrungen der bisherigen Praxis zeigen jedoch, dass Entscheidungen des Jugendamtes aufgrund der oben bereits beschriebenen Unschärfe des Behinderungsbegriffes oftmals willkürlich getroffen werden und vor allem die ausschlaggebende Einschätzung der altersgerechten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben - insbesondere bezogen auf die Lebensbereiche Familie, Schule, Ausbildung, Arbeit sowie verschiedene Freizeitbereiche – den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jugendam- tes schwer fällt. Die in dem aktuellen Gesetzesentwurf enthaltene Bestrebung, eine Unterscheidung zwischen wesentlicher und nicht wesentlicher Behinderung in den Tatbestand des § 35a SGB VIII aufzunehmen, würde zur weiteren Verkomplizierung des ohnehin schon schwierigen diagnostischen Prüfungsverfahrens führen und ist daher abzulehnen.

Im Ergebnis ist eine einheitliche Leistungsgewährung gegenwärtig nicht erkennbar. Zu eng ist darüber hinaus die Orientierung am ärztlichen Befund zur seelischen Störung. Die zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen daher in ihrer eigenständigen sozialpädagogischen Diagnosefähigkeit bestärkt werden. Um die Integrationsfähigkeit des betroffenen Kindes bzw. Jugendlichen fundiert bewerten zu können, müssen allgemeingültige Kriterien zur Bejahung einer Teilhabeeinschränkung entwickelt werden und die Mitarbeiterschaft in der Anwendung dieses Kriterienkataloges geschult und fortgebildet werden. Die Landesjugendämter sollen entsprechende Fortbildungsangebote vorhalten.


(2) Einrichtung interdisziplinärer Fallkonferenzen

Das Jugendamt führt das Verfahren und entscheidet über den Antrag auf Leistungsgewährung und Kostenübernahme. Auf Grundlage des medizinischen Gutachtens, in dem eine seelische Störung festgestellt wurde, wird von den Fachkräften im Jugendamt federführend geprüft, ob darüber hinaus auch eine soziale Beeinträchtigung der Eingliederung und damit eine seelische Behinderung, die eine Hilfe nach § 35a SGB VIII notwendig macht, vorliegt. An dieser Entscheidung sollten neben den zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jugendamtes weitere Beteiligte Gelegenheit zur Mitwirkung erhalten. Insbesondere die Betroffenen und ihre Personensorgeberechtigten, die Schule (Klassenleitung, Schulleitung, Schulamt), der schulpsychologische Dienst und die medizinische Gutachterin, der Gutachter sollten mit einbezogen werden. Darüber hinaus entscheidet das Jugendamt darüber, ob noch weitere Stellen in diese interdisziplinäre Fallkonferenz zur gemeinsamen Beratung und Planung einbezogen werden wie z. B. die Erziehungsberatungsstelle oder ein Kinder- und Jugendpsychiater bzw. eine -psychiaterin. Ob diese entscheidende interdisziplinäre Abklärung und Beratung schriftlich oder im Wege einer Konferenz erfolgt, liegt ebenfalls in der Entscheidungsmacht des Jugendamtes. Für eine differenzierte Wahrnehmung der betroffenen Kinder, ihrer Problemlagen und Ressourcen sowie eine gute Hilfevermittlung ist eine möglichst umfassende Mitwirkung aller Beteiligten notwendig. Zur Bildung kompetenter und flexibler interdisziplinärer Teams können auch mehrere kleinere Jugendämter zusammenarbeiten.


(3) Zuverlässigkeit der Diagnosegutachten verbessern

Für die Jugendämter ist es von entscheidender Bedeutung, ob eine Teilleistungsstörung medizinisch diagnostiziert wird, da diese zu konkreten seelischen Behinderungen im Sinne von § 35 a SGB VIII führen kann bzw. dazu, dass eine solche droht. Wie unter Punkt (1) erwähnt, orientieren sich die Fachkräfte des Jugendamtes und des ASD bei der Bewertung, ob eine seelische Behinderung vorliegt, in hohem Maße an der vorherigen medizinischen Diagnose zur seelischen Störung. Zu oft werden sie bejaht, obwohl die vorhandenen Störungen und Auffälligkeiten andere Ursachen haben. Eine Unterscheidung zwischen wesentlicher und nicht wesentlicher Behinderung, wie im aktuellen Gesetzesentwurf gefordert wird, hätte einen noch höheren Stellenwert der medizinischen Diagnostik und eine noch stärkere Ausstrahlungswirkung auf die spätere sozialpädagogische Beurteilung der seelischen Behinderung zur Folge (s. o.). In der Praxis ist jedoch eine hohe Fehlerquote bei der gutachterlichen Feststellung von Teilleistungsstörungen festzustellen. Daher sind Qualitätsstandards zu entwickeln, die bei allen Gutachten einheitliche Anwendung finden:
Die Erstellung des Gutachtens setzt medizinisch-psychologische, differentialdiagnostische Spezialkenntnisse und ein wissenschaftlich anerkanntes Testverfahren voraus. Es sollte daher nur von Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und -psychiatern oder Kinderfachärztinnen und -ärzten, soweit sie über eine psychologisch-psychotherapeutische Zusatzqualifikation verfügen oder Diplompsychologinnen und -psychologen erstellt werden. Kinderfachärztinnen und -ärzte sind vor allem dann hinzuzuziehen, wenn Symptome für das Vorliegen einer Krankheit gegeben sind, wenn also der Verdacht besteht, dass Teilleistungsstörungen Krankheitsfolge oder -anzeichen sind. Die Diagnostik zum Nachweis von Teilleistungsstörungen muss im Ergebnis zeigen, dass diese nicht auf körperlichen Erkrankungen wie Sinnesfunktionsstörungen (Hör- bzw. Sehstörungen) oder chronischen sowie neurologischen Erkrankungen zurückzuführen sind. Bei der Auswahl der Gutachterin, des Gutachters muss darauf geachtet werden, dass kein Zusammenhang mit der späteren Therapeutin bzw. dem Therapeuten besteht.

Inhaltlich muss das Gutachten den Nachweis der Teilleistungsstörung durch medizinische und psychologische Untersuchungen enthalten. Als Grundlage kann das multiaxiale Klassifikationsschema für psychologische Störungen im Kindes- und Jugendalter ICD-10 (s. o.) dienen. Das Gutachten  soll die angewandten Untersuchungs- und Testverfahren sowie die wichtigsten Befunde aufzeigen, zusammenfassend darlegen und dazu Stellung nehmen, ob eine Maßnahme (Therapie) nötig bzw. geeignet ist, der festgestellten Beeinträchtigung entgegenzuwirken. Wichtig ist des Weiteren eine Aussage darüber, ob im betreffenden Einzelfall die Teilleistungsstörung Krankheitswert hat oder auf einer Krankheit beruht, da in diesen Fällen die Zuständigkeit der Krankenkasse nach SGB V oder der Beihilfe eingreift. Dagegen ist es nicht Aufgabe des Gutachters oder einer Gutachterin, dem Jugendamt eine Therapeutin bzw. einen Therapeuten vorzuschlagen. Dennoch Vorgeschlagene binden das Jugendamt in keiner Weise. Es ist ferner darauf zu achten, dass Mehrfachuntersuchungen der betroffenen Kinder zum gleichen Untersuchungsauftrag vermieden werden. Zudem sollte der zeitliche Abstand zwischen Gutachtenerstellung, Therapiebewilligung und Therapiebeginn im Interesse der Kinder möglichst kurz bemessen sein.


(4) Frühdiagnostik und Prävention in Kindertagesstätten

Teilleistungsstörungen, die Eingliederungshilfen nach § 35a SGB VIII erforderlich machen, sind nicht erst im Schulalter erkennbar. Vielfach sind betroffene Kinder bereits im Vorschulalter auffällig. Eine effektive Frühdiagnostik, die in der Kindertagesstätte einsetzt und Entwicklungsstörungen erkennt, sollte daher konsequent durchgeführt werden.

Die Anwendung von Frühförderverfahren wie dem Bielefelder Screening oder dem Würzburger Trainingsprogramm, bei denen das phonologische Bewusstsein der Kinder geprüft und geschult wird, ist auszubauen und weiterzuentwickeln. Diese Früherkennungsverfahren haben sich zur Vermeidung von Teilleistungsstörungen bewährt. Es handelt sich um einfache und im Vergleich mit den Therapiekosten, die im Falle der Ausbildung einer Teilleistungsstörung entstehen, um sehr kos- tengünstige Verfahren. Kinder mit diagnostizierten Entwicklungsstörungen können so frühzeitig gefördert werden. Vorraussetzung für eine flächendeckende Anwendung der Früherkennungspro- gramme sind entsprechende Ausbildungs- und Fortbildungsmaßnahmen bei den Erzieherinnen und Erziehern.


(5) Zuständigkeit der Schule einfordern

Ein Hauptgrund für die oben bereits dargestellten Ausgabensteigerungen für Eingliederungshilfen nach § 35a SGB VIII ist die verstärkte Inanspruchnahme von Jugendhilfeleistungen durch Eltern  bei Teilleistungsstörungen ihrer Kinder im schulischen Bereich. Immer häufiger übernehmen Jugendämter die Kosten für Therapien und Fördermaßnahmen bei Teilleistungsstörungen. Aufgrund von offensichtlichen Defiziten des Schulsystems im Umgang mit diesen Störungen und gefördert durch massive Werbemaßnahmen einer stetig steigenden Anzahl privater Leistungsanbieter und Nachhilfeinstitute, beantragen Eltern immer bereitwilliger Jugendhilfeleistungen mit dem Ziel, dem Schulversagen und den enttäuschten Schullaufbahnerwartungen ihrer Kinder Abhilfe zu schaffen. Hier müssen Schulen nachdrücklicher ihre vorrangige Verantwortung wahrnehmen und die notwendigen Hilfsangebote vorhalten.

Die Kinder- und Jugendhilfe kann nicht länger gänzlich fehlende oder unzureichende Angebote der Schulen kompensieren und deren Systemschwächen mit eigenen kostenintensiven Leistungen ausgleichen. Die Aufgaben der Schulen sind in den Schulgesetzen der Länder festgelegt. Danach sind Schulen verpflichtet, adäquate Förderangebote für von Teilleistungsstörungen betroffene Schüler und Schülerinnen bereit zu halten und dem Bedarf entsprechend fortzuentwickeln (z. B. durch individuelle Förderung innerhalb des regulären Unterrichts oder spezifische intensive Förderung in Klassenverbünden, die ausschließlich Schülerinnen und Schüler mit Teilleistungsstörungen umfassen).

Als Voraussetzung dafür muss das Lehrpersonal Störungen und Auffälligkeiten der Schülerklientel fachlich richtig einschätzen können. Diagnostische Kompetenzen der Lehrerinnen und Lehrer müssen daher mit dem Ziel der sensibleren Wahrnehmung und Einordnung von Teilleistungsstörungen verbessert werden und entsprechende Fortbildungsmaßnahmen für die Lehrerschaft vorgehalten werden. Diese zusätzliche Qualifizierung bedarf einer gesonderten finanziellen Unterstützung.

Analog zu den oben unter Punkt (4) erwähnten Prüfungsschemata des Bielefelder Screenings und des Würzburger Trainingsprogramms, die im Primärbereich anzuwenden sind, sollte auch für die Schule ein Diagnoseverfahren entwickelt werden, das vor allem in den unteren Klassenstufen ein frühes Erkennen von Teilleistungsstörungen bei auffälligen Schülerinnen und Schülern und die umgehende Einleitung von Förderunterricht ermöglicht. Dessen Methodik und Konzept bedarf einer verstärkten Flexibilisierung im Hinblick auf die zu fördernde Klientel. Dabei müssen geschlechterspezifische Besonderheiten ebenso wie Migrationsaspekte Berücksichtigung finden.

Falls vom Lehrpersonal zwar eine Auffälligkeit erkannt jedoch keine Teilleistungsstörung diagnostiziert wird, muss sichergestellt werden, dass Maßnahmen eingeleitet werden, die weitere Diagnosemaßnahmen und Hilfeleistungen für die betroffenen Schüler bzw. Schülerinnen zur Folge haben (z. B. durch Informierung des zuständigen Jugendamtes).


Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe Berlin, im September 2003

 

[1] Der Begriff „Teilleistungsstörung“ wird nachfolgend als Oberbegriff für alle Lern-, Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörungen (Legasthenie und Dyskalkulie) verwendet.