Intensivpädagogische Maßnahmen im Ausland gemäß § 35 SGB VIII

Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe

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Schwer dissoziale und delinquente Kinder und Jugendliche und auch sog. jugendliche Intensivstraftäter erzeugen immer wieder eine lebhafte öffentliche Diskussion um Möglichkeiten, aber auch um Grenzen der Jugendhilfe und der Jugendstrafrechtspflege.

Kontroverse Debatten werden in diesem Zusammenhang u. a. auch um die geschlossene Unterbrin- gung und sog. erlebnispädagogische Maßnahmen im Ausland als Antworten der Jugendhilfe auf diese Kinder und Jugendlichen geführt. Grundsätzlich ist die eine Form der Hilfe nicht durch die andere zu ersetzen. Hilfen zur Erziehung in Auslandsprojekten werden von den Jugendämtern immer wieder als eine im Einzelfall geeignete Form der Hilfe gewählt, i. d. R. wenn andere Hilfen er- folglos waren. In 82 Prozent aller Intensivmaßnahmen (also sowohl bei Inlands- als auch bei Auslandsmaßnahmen) im Jahr 2000 fanden vorangehende Hilfen statt (Erziehungsbeistand, Heimerziehung etc).

In diesem Zusammenhang wird mit Interesse das Forschungsprojekt des Deutschen Jugendinstituts „Freiheitsentziehende Maßnahmen im Rahmen von Kinder- und Jugendhilfe, Psychiatrie und Justiz“ (Indikationen, Verfahren und Alternativen) verfolgt.

Intensivpädagogische Hilfen im Ausland sind dann in Einzelfällen die notwendige und geeignete Hilfe, wenn die besonderen Rahmenbedingungen des Landes (z. B. Infrastruktur und Landschaft) verbunden mit dem individuellen pädagogischen Konzept die Möglichkeit bieten, Kinder und Ju- gendliche zu erreichen (mit den Zielen einer Neuorientierung und Anstößen zu Verhaltensänderungen), bei denen dies in Hilfesettings unter den Rahmenbedingungen des Inlands nicht gelingt bzw. gelungen ist. Unabdingbar für ein fachlich qualifiziertes Konzept einer Hilfe zur Erziehung im Ausland ist immer auch die Reintegration des jungen Menschen in ein stabiles Umfeld in Deutschland. Eine Alternative zu solchen Auslandsmaßnahmen ist in der Hilfeplanung nicht normiert.

Die Diskussion um Hilfsangebote nach § 35 SGB VIII, insbesondere sog. erlebnispädagogische Maßnahmen, ist vielfältig und wird kontrovers geführt.

Dass intensivpädagogische Maßnahmen im Ausland scheitern und der gewünschte Erfolg ausbleibt, wird nicht geleugnet. In den meisten Fällen jedoch sind im Ausland durchgeführte Hilfen erfolg- reich und stellen insbesondere für junge Menschen, die bereits vorangegangene wirkungslose Hilfen im Inland erhalten haben, eine Möglichkeit zur gesellschaftlichen Eingliederung dar, die von ihnen tatsächlich genutzt wird.

Das Scheitern von Auslandsmaßnahmen ist auf mangelnde Hilfeplanung im Vorfeld sowie auf fehlende Überprüfung und Kontrolle der die Auslandsmaßnahmen anbietenden Träger zurückzuführen.

Es wird daher angeregt, die bundesweite Standardisierung in diesem Feld auszubauen, was länderspezifische Regelungen nicht ausschließt.


Qualifikation der Angebote im Ausland

Angebote der Hilfen nach dem SGB VIII / KJHG im Inland unterliegen einer konsequenten Über- prüfung durch die Träger der öffentlichen Jugendhilfe. So muss beim überörtlichen Träger für den Betrieb einer stationären oder teilstationären Einrichtung die Betriebserlaubnis beantragt werden. Ambulante Angebote unterliegen der Kontrolle des jeweils zuständigen örtlichen Trägers der öf- fentlichen Jugendhilfe, vielerorts liegen verbindliche Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen vor.

Solche verbindlichen Instrumente der Qualitätssicherung und Kontrolle stehen in dieser Form für Angebote im Ausland nicht zur Verfügung. Verschiedene Träger von Auslandsprojekten sichern durch ihre freiwillige Selbstverpflichtung zur Einhaltung wesentlicher (fachlich anerkannter) Quali- tätsstandards deren Einhaltung zu. In der Regel werden Jugendhilfemaßnahmen im Ausland nur in Einzelfällen bewilligt. Das „Erfahrungswissen“ des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe bezogen auf das jeweilige Land und den Träger ist oftmals entsprechend gering. Hier besteht Regelungsbe- darf.

Aus fachlicher Sicht sollten die Träger der öffentlichen Jugendhilfe dazu verpflichtet werden, die Einhaltung von fachlichen Standards umfassend zu überprüfen. Voraussetzung dafür ist die Ent- wicklung einheitlicher Standards und verbindlicher Regelungen:

  1. Auch Angebote im Ausland müssen einer umfassenden Kontrolle durch den überörtlichen (Genehmigung der Konzeptionen, Meldung der Fachkräfte) und den örtlichen (bei Belegung verbindliche Überprüfung der Hilfe am Ort der Leistungserbringung) öffentlichen Träger der Jugendhilfe unterliegen.
  2. Die Landesjugendämter sollten eine sog. „Informationsbörse“ für Jugendhilfeangebote im Ausland einrichten, in der die Konzepte und Änderungen der Angebote und die Erfahrungen der örtlichen Träger der Jugendhilfe einfließen. So kann eine qualifizierte Beratung der örtlichen Jugendämter erfolgen. Gleichzeitig könnte über eine Vernetzung der Landesjugendämter ein bundesweites Informations-, Evaluations- und Kontrollsystem bezogen auf Hilfen nach dem SGB VIII im Ausland aufgebaut werden.
  3. Träger der Einrichtung oder des Angebotes im Ausland müssen gewährleisten, dass die Rechtsvorschriften des Aufenthaltslandes eingehalten werden. Es muss insbesondere geprüft werden, ob die Betreuung im Ausland erlaubt ist, d. h. die Aufnahme der Tätigkeit der Betreuer muss im Sinne der örtlichen Gesetzgebung über die Gewährung einer Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis genehmigt sein.
  4. Die durchführenden Stellen im Ausland müssen mit den durchführenden Trägern in Deutschland, den entsendenden deutschen Jugendämtern, den Behörden des Aufenthaltslan- des sowie der deutschen Vertretung im Ausland zusammenarbeiten. Die konkrete Form der verbindlichen Zusammenarbeit muss in Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt festgelegt und muss bereits im Vorfeld der Maßnahme sichergestellt werden.
  5. Der Aufenthalt von Kindern und Jugendlichen im Ausland stellt für diese einen wesentlichen Einschnitt in ihr Leben und in ihre Rechte dar. Sie werden konfrontiert mit einem völ- lig anderen Lebensumfeld und einer fremden Sprache. Oftmals bestehen in den Ländern andere Rechtssysteme, die im Vergleich zum deutschen Recht z. B. andere, mitunter härtere Sanktionen bei Straftaten vorsehen. Daher sollte sich der die Auslandshilfe erbringende Träger verpflichten, alle in Deutschland geltenden Persönlichkeitsschutzrechte der Jugendlichen auch im Ausland verbindlich zu beachten. Aufgrund ihres freiheitsentziehenden Charakters sollte geprüft werden, ob bei Hilfemaßnahmen im Ausland ebenso wie bei freiheitsentziehenden Maßnahmen im Inland nicht stets eine familiengerichtliche Genehmigung zu fordern sei.


Kosten von Hilfen im Ausland

Hilfen im Ausland sind nur in sehr wenigen Einzelfällen kostenintensiver als Hilfen im Inland. Grundsätzlich sind die Kosten für Auslandsmaßnahmen genauso hoch, wie gleichwertige Maßnahmen im Inland, da die jeweiligen Leistungsentgelte im selben Rahmen liegen. Im Vergleich zu den entstehenden Kosten einer geschlossenen Unterbringung des Jugendlichen im Inland muss deutlich gemacht werden, dass die hier anfallenden Kosten pro Tag i. d. R. erheblich über den Tagessätzen einer intensivpädagogischen Auslandsmaßnahme liegen.

Insgesamt ist festzuhalten, dass die Fallzahlen von Auslandsangeboten sehr gering sind. So fanden im Jahre 2000 intensive sozialpädagogische Einzelbetreuungen nur in zwei Prozent außerhalb des Elternhauses statt. Ein nochmals geringerer Teil dieser zwei Prozent fand im Ausland statt. Mit Blick auf die Entwicklungen innerhalb der Europäischen Union bleibt festzuhalten, dass Maßnahmen nach § 35 SGB VIII im europäischen Ausland einen besonderen Stellenwert einnehmen.


Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe Berlin, November 2003