Kinder- und Jugend(hilfe)politik in Europa – Standortbeschreibung und Ausblick

Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe

Diskussionspapier als PDF

 

Die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe nimmt sich nicht zuletzt mit der Einrichtung des Fachausschusses „Kinder- und Jugend(hilfe)politik in Europa“ verstärkt der europäischen Perspektive im fachlichen Diskurs der Kinder- und Jugendhilfe und der Kinder- und Jugendpolitik an. Die Europarelevanz hat sie bereits durch die Arbeit im Informations- und Koordinationskreis Europa der AGJ als Vorläufer des Fachausschusses dokumentiert. Auch das 11. AGJ-Gespräch „Europa – ein Thema für die Jugendhilfe?“, das am 14./15.10.2003 mit vielen Akteuren der europäischen und nationalen Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpolitik in Nürnberg stattfand, setzte ein wichtiges Zeichen in der sich wandelnden Beziehung zwischen nationaler Kinder- und Jugendhilfe und europäischer Politik. Die Ergebnisse, Erkenntnisse und Analysen der Diskussionen der Fachtagung und der zweieinhalbjährigen Arbeit des Fachausschusses erfordern aufbauend auf dem Thesenpapier des AGJ-Vorstands „Kinder- und Jugend(hilfe)politik in Europa“ vom September 2001 eine Zwischenbilanz, eine Standortbeschreibung und einen Ausblick auf mögliche Perspektiven.

Um einer Vielzahl von Missverständnissen und Kommunikationsproblemen im alltäglichen Handeln im Feld der Kinder- und Jugendhilfe entgegenzuwirken, die den Diskussionsprozess insbeson- dere im Europäischen Kontext immer wieder behindern, wird eine begriffliche Klärung dem Diskussionspapier vorangestellt.

Eine Begriffsbestimmung:

Die gesetzliche Fassung des Begriffs Kinder- und Jugendhilfe ist eindeutig und schließt alle Hand- lungsfelder, darunter auch die Jugendarbeit, ein. Im Kontext von Europa hat allerdings das Hand- lungsfeld Jugendarbeit die größte Tradition und ebnet daher an vielen Stellen den Weg für eine eu- ropäische kinder- und jugend(hilfe)politische Diskussion. Diese Tradition macht sich nicht selten auch in den Biographien der Akteure bemerkbar. Erst allmählich werden konkrete „Europaerfah- rungen“ auch in anderen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe gemacht und kommuniziert.

Die Europäische Union hat aktuell lediglich einen vertraglichen Auftrag für die internationale Jugendarbeit[1], das erschwert es, die Kinder- und Jugendhilfe betreffenden Fragen auf europäischer Ebene eindeutig zu verorten. Der Weißbuchprozess, der eine systematische und umfängliche Befassung der jugendpolitischen Zusammenarbeit in Europa auf die politische Agenda gebracht hat, beschäftigt sich im jugendspezifischen Bereich insbesondere mit Fragen der Jugendarbeit. Der umfas- sendere Zugang der Kinder- und Jugendhilfe verbirgt sich hauptsächlich hinter dem Bereich der Querschnittspolitik. Dieser Ansatz der Einmischung in alle Politikfelder, die die Belange von jun- gen Menschen betreffen, ist auf europäischer Ebene neu und liegt daher erst in den Anfängen.

Der Begriff „Kinder- und Jugend(hilfe)politik“ transportiert, dass Jugendpolitik nicht nur eine Frage der Jugendarbeit ist – wie es sehr lange diskutiert wurde –, sondern dass ein sehr viel umfassenderes Verständnis von gesellschaftlicher Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendli- chen gemeint ist. Die Angebote in den einzelnen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe sind Teil des gesetzlichen Auftrages. Neben dieser Frage von Ressortpolitik sieht u. a. § 1 SGB VIII auch einen Querschnittsansatz vor. So soll die Kinder- und Jugendhilfe dazu beitragen, positive Le- bensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien zu schaffen bzw. zu erhalten. Die Umsetzung des gesetzlichen Auftrages der Kinder- und Jugendhilfe als Ganzes ist die Grundlage von Ju- gendpolitik. Jugendpolitik ist damit Lebenslagenpolitik von und für Kinder, Jugendliche und deren Familien, die sowohl die objektiven Rahmenbedingungen als auch die subjektive Lebensgestaltung umfasst.


Europa ist ein Thema für die Kinder- und Jugendhilfe - Kinder- und Jugendhilfe muss ein Thema für Europa werden

Das Subsidiaritätsprinzip ist Grundpfeiler europäischer Politik: es beschreibt eine Herangehensweise an Aufgabenstellungen und Handlungsbedarfe, möglichst auf der Ebene, die den Betroffenen am nächsten ist, legt dabei aber gleichzeitig Wert auf Effizienz und Erfolg für die Betroffenen. Für den jugendpolitischen Bereich bedeutet dies in der Regel, die Entscheidungs- und Handlungsebene ist die lokale, regionale oder nationale und nur in Ausnahmen die europäische Ebene. Allerdings ge- winnt vor dem Hintergrund der steigenden Einflussnahme europäischer Entwicklungen auf die Lebensrealitäten junger Menschen ein jugendpolitisches Handeln auf der europäischen Ebene zunehmend an Bedeutung.

In diesem Zusammenhang kann und darf sich die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland vor dem Thema „Europa“ nicht verschließen, im Gegenteil, sie muss sich diesem Thema stellen und zwar sehr viel stärker als dies bisher der Fall ist. Die Politik der Europäischen Union ist mit zunehmender Relevanz an der Gestaltung der Lebenslagen innerhalb und außerhalb der Grenzen der Europäischen Union beteiligt, gleichzeitig bietet die Europäische Union neue Chancen für die Gestaltung von Bildungs-, Berufs- und Lebensverläufen. Europa ist zum sozialen und politischen Lebensraum von Kindern, Jugendlichen und deren Familien geworden. Das erfordert sowohl die Einmischung der jugendpolitischen Akteure in europäische Politikgestaltung als auch das Mitdenken der europäischen Dimension bei der Gestaltung des lokalen, regionalen und nationalen Kinder- und Jugendhilfeangebots.

Eine Einmischung in europäische Politikgestaltung kann nur dann funktionieren, wenn die Notwen- digkeit dafür gesehen wird – zum einen auf der Seite der jugendpolitischen Akteure und zum ande- ren auf der Seite der jeweiligen Entscheider. Sie setzt also eine breite Auseinandersetzung mit den Fragen voraus „Wie und an welcher Stelle werden die Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und deren Familien von europäischen Entscheidungen und Aktivitäten beeinflusst?“ und „Wie und an welcher Stelle können die Interessen und Perspektiven der nachwachsenden Generationen bei europäischen Entwicklungen eingebracht und umgesetzt werden?“. Gleichzeitig muss die Kinder- und Jugendhilfe sich fragen, wie sie in ihren Angeboten und Strukturen die europäische Dimension sehr viel selbstverständlicher berücksichtigen will, als das bisher der Fall ist. Auch dafür muss das Bewusstsein unter den Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe geschärft werden, um vermeintlich rein europäische und nationale Themen zusammenzuführen, um Rahmenbedingungen für einen grenzüberschreitenden Austausch und transnationale fachliche Auseinandersetzungen in allen Hand- lungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe zu schaffen und um Europa für ‚Klientel’ und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe erlebbar zu machen.


Interessensvertretung von Kindern, Jugendlichen und Familien in Europa

Die Diskussionen um die Einmischung in europäische Politikgestaltung im Sinne und mit der Per- spektive der nachwachsenden Generationen wirft die Frage auf, wer die Politik der EU gestaltet und wer an welcher Stelle sinnvoll eine Interessenvertretung von Kindern, Jugendlichen und deren Fa- milien wahrnehmen kann.

Festzuhalten bleibt zum einen, dass es europäische Gremien gibt, die in vielfältiger Weise die Lebensbedingungen junger Menschen und ihrer Familien mitbestimmen und die dazu der Politikberatung auf europäischer Ebene bedürfen (Parlament, Kommission, WSA u. a.). Dafür erscheint neben den regierungsamtlichen Strukturen eine europäische Plattform der Kinder- und Jugendhilfe als dringend notwendig. Sinnvoll wäre eine europäische Vernetzung von nationalen kinder- und jugend(hilfe)politischen Strukturen, die neben dem Europäischen Jugendforum als Vertretung der Jugendverbände und Jugendringe und anderen handlungsfeldspezifischen Netzwerken, die Frage der Lebenslagenpolitik für und von Kindern, Jugendlichen und deren Familien bündelt und im Sinne einer Interessensvertretung agiert. Die Einrichtung eines solchen Forums auf europäischer Ebene bedarf der inhaltlichen und fachlichen Unterstützung der nationalen Akteure ebenso wie der zivilgesellschaftlichen Akteure auf europäischer Ebene. Daneben bedarf sie einer finanziellen Strukturförderung.

Die sogenannte Zivilgesellschaft[2] als Gesamtheit der aktiven Nichtregierungsorganisationen ist traditionell nationalstaatlich orientiert, findet aber auf europäischer Ebene zunehmend ihre Entsprechung. Ansätze einer Europäischen Zivilgesellschaft finden sich an verschiedenen Stellen wieder, zu nennen sind neben dem bereits erwähnten Europäischen Jugendforum zum einen die Europäi- sche Sozialplattform[3] als Zusammenschluss europäischer Netzwerke im sozialen Bereich und zum anderen der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (WSA)[4]. Der WSA als Institution der EU mit vertraglich festgelegten beratenden Aufgaben bezeichnet sich selbst als Forum der organisierten Zivilgesellschaft auf europäischer Ebene.

Eine europäisch organisierte Kinder- und Jugendhilfe muss sich in beiden Kontexten verstärkt einsetzen, als Mitglied der europäischen Sozialplattform und als Kooperationspartner des Europäi- schen Wirtschafts- und Sozialausschusses. Gleichzeitig gilt es, das nationale Engagement der Akteure mit dem Blick auf Europa auszubauen, nur so werden europäische Netzwerke wirklich handlungsfähig, nur so kann die Jugendpolitik weiterhin das Ziel verfolgen, einen festen Sitz im Wirtschafts- und Sozialausschuss zu erlangen.

Innerhalb der EU stellt der Zusammenschluss der nationalen Regierungen (Regierungskonferenz, Europäischer Rat, Ministerräte) die höchste Entscheidungsebene dar. Damit wird deutlich, dass die Ansprechpartnerinnen und -partner für die einzelnen europäischen Politikbereiche zunächst in der eigenen nationalen Regierung zu finden sind. So bleiben auch für eine europäische Kinder- und Jugend(hilfe)politik die nationale Regierung, nationale Ministerien wichtige Ansprechpartner, um europäische Anliegen zu transportieren. Um eine nationale Interessenvertretung mit europäischer Perspektive darüber hinaus fachpolitisch nachhaltig umsetzen zu können, startete die AGJ bereits vor über zwei Jahren die Initiative für eine „Nationale Beobachtungs- und Koordinierungsstelle Kinder- und Jugend(hilfe)politik in Europa“. Die Beobachtungsstelle sollte sowohl jugendhilferelevante eu- ropäische Prozesse analysieren und für die nationale Jugendhilfe transparent und nachvollziehbar kommunizieren, als auch die notwendigen inhaltlichen Grundlagen für nationale Entscheidungen mit europäischer Dimension erarbeiten. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat dieses Ansinnen bislang nicht unterstützt bzw. als bereits durch andere Institutionen abgedeckt erachtet. Die AGJ unterstreicht an dieser Stelle erneut die aus ihrer Sicht gebotene Notwendigkeit einer „Nationalen Beobachtungsstelle Kinder- und Jugend(hilfe)politik in Europa“ in dem hier vorgetragenen umfassenden Sinne.

Die (Mit)Gestaltung europäischer Politik wird immer ein Wechselspiel von jugendpolitischer Einmischung auf nationaler und europäischer Ebene sein. Sowohl der jugendspezifische Bereich als auch der Querschnittsansatz ‚Jugend’ beruht auf Beteiligungsverfahren, die es gilt, national und auf EU-Ebene sinnvoll und effektiv umzusetzen. Voraussetzung für eine partizipative Politik auf allen Ebenen ist Transparenz in der Abstimmung und Entscheidungsfindung sowie ein insgesamt demokratisch legitimiertes Verfahren. Sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene ist dabei der jeweilige nationale Kontext der gewachsenen strukturellen Verfasstheit der Kinder- und Jugendhilfe bzw. der Jugendpolitik zu berücksichtigen. Auf eine sinnvolle zeitliche Rahmung für partizipatorische Prozesse ist ausdrücklich Wert zu legen, wenn die Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und deren Organisationsstrukturen über ein rein konsultatives Verfahren hinausgehend als kommunikativer Prozess der Mitbestimmung konzipiert ist. Partizipative Politik kann nur dann erfolgreich sein, wenn sowohl bei der Entscheidungsfindung als auch bei deren Umsetzung der Dialog zwischen den Entscheidern, den Betroffenen und deren Interessensvertretung im Mittelpunkt steht und zwar gleichwertig auf der lokalen, regionalen, nationalen und europäischen Ebene.

Ausblick und Perspektive

Die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe hält die folgenden Themen in den nächsten Jahren für relevant im Sinne der intensiven nationalen Beobachtung, des internationalen fachlichen Austausches und der jugendpolitischen Positionierung sowie der nationalen und europäischen Politikberatung. Die Fragen des Gender Mainstreaming sind dabei differenziert zu berücksichtigen.

  • Die Offene Methode der Koordinierung im Rahmen der jugendpolitischen Zusammenarbeit in Europa

Eine Auseinandersetzung um die Angemessenheit und Umsetzung der offenen Methode der Koor- dinierung auf nationaler Ebene ist dringend notwendig. Dabei sollten sowohl die Erfahrungen der ersten Schritte der offenen Koordinierung (Fragebögen – nationale Berichte – Syntheseberichte – Empfehlungen) eine Rolle spielen, als auch die Erwartungen an die Umsetzung der europäischen Beschlüsse und deren Bewertung. Ein ausdrücklicher Bedarf an einer Verständigung besteht dar- über, wie die Einbindung aller Akteure der Kinder- und Jugend(hilfe)politik in das offene Koordinierungsverfahren gewährleistet und insgesamt die nationalen Beteiligungsprozesse realisiert werden können. Mit der Umsetzung der offenen Methode der Koordinierung wurde eine Evaluierung der Methode auf europäischer Ebene vereinbart, diese gilt es auch aus nationaler Perspektive intensiv zu begleiten.

  • Jugendpolitik als Querschnittsaufgabe

Die im Weißbuch ‚Jugend’ vorgeschlagene und durch den Jugendministerrat bestätigte Aufgabe, Jugendpolitik als Querschnittspolitik zu begreifen und umzusetzen, konnte bisher kaum realisiert werden. Es ist noch völlig offen, wie diese Querschnittsaufgabe wahrgenommen werden soll und wer sich dafür verantwortlich zeigt. Es bedarf einer intensiveren Auseinandersetzung mit Metho- den, Inhalten und Strukturen jugendpolitischer Einmischung auf den jeweils relevanten politischen Ebenen – von lokal bis europäisch – sowie einer nationalen Strategie der Umsetzung.

  • Umsetzung „Europäischer Jugendpolitik“

Durch die seitens der europäischen Jugendministerinnen und -minister beschlossenen jugendpoliti- schen Zusammenarbeit in Europa ergeben sich wichtige Impulse für die lokale, regionale und natio- nale Jugend(hilfe)politik. Sowohl aus den Verfahren der offenen Koordinierung als auch aus dem Querschnittsansatz ‚Jugend’ ergeben sich Zielsetzungen und Empfehlungen, die es gilt, in einem transparenten, partizipativen und demokratischen Prozess in konkretes Handeln – lokal bis national und in grenzüberschreitender Kooperation – umzusetzen. Notwendige konzeptionelle Schritte, die daraus folgen, müssen vor dem Hintergrund von öffentlicher und freier Kinder- und Jugendhilfe und Trägervielfalt eng mit den Akteuren abgestimmt werden. Nur so kann der Befürchtung der E- tablierung einer europäischen jugendpolitisch regulierenden Instanz die Idee eines europaweiten subsidiären Prozesses der grundlegenden Aufwertung von Jugendhilfe und Jugendpolitik entgegen- gesetzt werden.

  • Europäische Sozialschutzberichte

Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag erarbeitet, der eine Straffung der offenen Koor- dinierung im Bereich des Sozialschutzes vorsieht und damit die Stärkung der sozialen Dimension der Lissabonner Strategie - die Europäische Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, fähig zu nachhaltigem wirtschaftlichen Wachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und größerem sozialen Zusammenhalt - verfolgt. Der Vorschlag ist angesichts der bevorstehenden Erweiterung der Union auf 25 Mitglieder und der teilweise wenig koordinierten aktuellen Prozesse der Mitgliedstaaten im Bereich der Sozial- und Beschäftigungspolitik entstanden und im Kontext der Straffung der wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Koordinierungsprozesse zu sehen. Angedacht ist, anstelle der verschiedenen Verfahren der offenen Methode der Koordinierung (insbesondere Soziale Integration, Renten- und Gesundheitswesen), ab 2006 einen umfassenden Sozialschutzbericht vorzulegen, der jährlich einem wechselnden Schwerpunkt (z. B. Gesundheit, soziale Integration, soziale Sicherheit) gewidmet wird. Die Berichte werden die jeweiligen Fortschritte hinsichtlich der sozialpolitischen Zielsetzungen in der EU bewerten.

  • Europäische Beschäftigungsstrategie

Die Koordinierung der nationalen Beschäftigungspolitiken auf europäischer Ebene setzt Ziele und Benchmarks, die einen großen Einfluss auf die nationale Arbeitsmarkt- und Berufsbildungspolitik ausüben. Der Aufbau eines integrativen Arbeitsmarktes steht dabei neben der Vollbeschäftigung auf dem Zielekatalog und bestimmt die Rahmenbedingungen für die berufliche Integration junger Menschen.

  • Nichtformales Lernen

Die bundesdeutsche Bildungsdebatte zeigt, dass auch eine vermeintliche Neuorientierung der Bildungslandschaft insgesamt nicht automatisch einen ganzheitlichen Bildungsbegriff zu Grunde legt, der das nonformale Lernen dem formalen Lernen gleichwertig gegenüberstellt. Die europäische Debatte ist bezüglich der Anerkennung von nichtformalem Lernen, der Möglichkeiten der Validie- rung von nichtformalen Lernprozessen und der Kooperationsstiftung zwischen formalen und nicht- formalen Bildungsprozessen an vielen Punkten der bundesdeutschen Debatte voraus. Eine engere Verknüpfung zwischen der nationalen und der europäischen Bildungspolitik kann für die Kinder- und Jugendhilfe sicherlich sinnvoll sein.

  • Politikbereiche Inneres und Justiz

Die Europäische Abstimmung über eine gemeinsame Migrations- und Asylpolitik wird langfristig Fragen der Einwanderung, Integration von Drittstaatlern und grenzübergreifende Unterhalts- und Aufenthaltsrechtsfragen in den EU-Mitgliedstaaten bestimmen. Die Lebenslagen von vielen Kin- dern, Jugendlichen und deren Familien werden dadurch berührt.

  • Grünbuch Daseinsvorsorge

Die Europäische Kommission hat im Mai 2003 das Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (Daseinsvorsorge) vorgelegt und damit eine Debatte eröffnet, die auch die Kinder- und Jugendhilfe betrifft. Die Kommission stellt ihrem Grünbuch eine positive Beurteilung der in den vergangenen Jahren erfolgten Liberalisierung verschiedener Sektoren voran, in denen hauptsächlich oder zumindest auch Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erbracht werden. Die Kommission will sich auch künftig für eine „kontrollierte“ Liberalisierung einsetzen, nämlich für eine schrittweise Öffnung des Marktes, flankiert von Maßnahmen zum Schutz des Gemein- wohls. Hierbei soll insbesondere der Zugang aller zu einer qualitativ definierten Dienstleistung ge- währleistet werden, und zwar zu einem erschwinglichen Preis, unabhängig von der wirtschaftlichen, sozialen oder geografischen Lage. Dabei soll besonderes Augenmerk auf die Sicherstellung ausrei- chender Standards für grenzüberschreitende Leistungen, die sich auf nationaler Ebene allein nicht angemessen regulieren lassen, gelegt werden. Von großem Interesse ist in diesem Zusammenhang, welche Auswirkungen ein möglicher europäischer Rechtsrahmen für die Jugendhilfe in Deutschland haben wird und wie Mechanismen für eine wirksam „kontrollierte“ Liberalisierung konkret aussehen sollen.

  • Europäische Plattform der Kinder- und Jugendhilfe

Wie bereits im oberen Teil des Textes ausgeführt, bedarf es einer europäischen Lobby und Interes- sensvertretung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien. Diese europäische Vernetzung muss in naher Zukunft umgesetzt werden. Die AGJ will hierzu im Sinne der Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe nicht nur aus nationaler, sondern auch mit europäischer Perspektive ihren Beitrag leisten.


Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe Osnabrück, Januar 2004

 

[1] „Förderung des Ausbaus des Jugendaustauschs und des Austauschs sozialpädagogischer Betreuer“, Artikel 149, Kapi- tel 3 „Allgemeine und berufliche Bildung und Jugend“ des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft von 1992 (Maastricht) und 1997 (Amsterdam). Allerdings sieht der Verfassungsvorschlag des Konvents von 2003 eine „ver- stärkte Beteiligung der Jugendlichen am demokratischen Leben in Europa“ (§ 182) vor und spricht bei der offenen Koordinierung von ‚Jugend’ allgemein.
[2]Es kann nicht von einer eindeutigen gesellschaftspolitischen Definition der Zivilgesellschaft ausgegangen werden. So schließen einige Definitionen beispielsweise Regierungsbeteiligte, Kirchen und durch staatliche Gelder finanzierte Organisationen aus, andere Definitionen sind weiter gefasst.
[3] Die „social platform“ wurde 1995 gegründet und vereint über 30 europäische Netzwerke aus verschiedenen gesell- schaftlichen Bereichen. Das gemeinsame Ziel ist es, die soziale Dimension der Europäischen Union voranzutreiben. Die Europäische Sozialplattform versteht sich als Gesprächspartner für alle EU-Gremien.
[4] Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss wurde 1957 gegründet. Er hat beratende Funktion für EU-Gremien und vertritt Arbeitgeber, Gewerkschaften, Landwirte, Verbraucher und andere Interessensgruppen. Die Mitglieder werden seitens der nationalen Regierungen benannt.