Bildung ist mehr als Schule
Leipziger Thesen zur aktuellen bildungspolitischen Debatte
Gemeinsame Erklärung des Bundesjugendkuratoriums (BJK), der Sachverständigenkommission des Elften Kinder- und Jugendberichts und der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ)
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(1) Bildung ist mehr als Schule
Bildung ist der umfassende Prozess der Entwicklung und Entfaltung derjenigen Fähigkeiten, die Menschen in die Lage versetzen, zu lernen, Leistungspotenziale zu entwickeln, zu handeln, Probleme zu lösen und Beziehungen zu gestalten. Junge Menschen in diesem Sinne zu bilden, ist nicht allein Aufgabe der Schule. Gelingende Lebensführung und soziale Integration bauen ebenso auf Bildungsprozesse in Familien, Kindertageseinrichtungen, Jugendarbeit und der beruflichen Bildung auf. Auch wenn der Institution Schule ein zentraler Stellenwert zukommt, reicht Bildung jedoch weit über Schule hinaus.
(2) Bildung muss Zukunftsfähigkeit sichern
Bildung entscheidet nicht nur über den ökonomischen Erfolg einer Gesellschaft, sondern vor allem auch über Lebensperspektiven und Teilhabechancen jedes einzelnen jungen Menschen. Sie ist grundlegend für die materielle Sicherheit und die Entfaltung der Persönlichkeit sowie Schlüssel zu einer zukunftsoffenen, sozialen und ökonomisch erfolgreichen Entwicklung jedes Einzelnen und der Gesellschaft. Bildungsanstrengungen haben sich nicht allein an der Sicherung ökonomischer Perspektiven zu orientieren, sondern müssen auch den Bedürfnissen und Interessen der jungen Menschen Rechnung tragen.
(3) Das deutsche Bildungssystem verstärkt soziale Ungleichheit
Die PISA-Ergebnisse haben bestätigt, dass in Deutschland von Chancengleichheit im Bildungswesen keine Rede sein kann. Schulerfolg und Bildungsperspektiven sind in hohem Maße durch die soziale Herkunft bestimmt. Um die Teilhabechancen aller Kinder und Jugendlichen zu sichern, müssen Bildungs- und Sozialpolitik aufeinander bezogen werden.
Das heißt, dass Sozialpolitik für junge Menschen auf die Sicherung von Bildungserfolg und Bildungspolitik verstärkt auf den Ausgleich von Benachteiligungen hin ausgerichtet werden muss. Das Scheitern von nahezu einem Viertel der Schülerinnen und Schüler an einem erfolgreichen Schulabschluss ist ein Beleg für diese Notwendigkeit.
(4) Selektion behindert Bildung
Das gegliederte Schulsystem (Grundschule, Sonderschule/Förderschule, Hauptschule, Realschule, Gymnasium) hält nicht, was es bislang verspricht: Eine den individuellen Fähigkeiten angemessene Förderung wird weder für begabte noch für benachteiligte junge Menschen gewährleistet. Vielmehr findet eine soziale Entmischung statt, die die Bildungserwartungen junger Menschen mit ungünstigen Startvoraussetzungen weiter verschlechtert. Nirgendwo ist die Kluft in den Schulleistungen zwischen „oben" und „unten" so groß wie in Deutschland. Derzeit diskutierte schulbezogene Vorschläge, wie etwa die Vorverlegung des Einschulungsalters, vermehrte Schulleistungstests oder der bloße Ausbau einer Eliteförderung greifen zu kurz. Alle Reformen müssen daran gemessen werden, ob sie dazu beitragen, den Leistungsstandard für alle zu erhöhen.
(5) Eltern sind keine Lückenbüßer
Die grundlegenden Fähigkeiten und Bereitschaften für lebenslange Bildungs- und schulische Lernprozesse werden in Familien gelegt. Die Familie muss daher in ihrer Bedeutung als maßgebliche Bildungsinstitution für Kinder und Jugendliche anerkannt und gefördert werden. Eine Gesellschaft, die jedoch zuallererst den Eltern die Misere an der Bildung anlastet, schiebt ihre eigene Verantwortung ab. Ein derartiges Vorgehen lässt die Familie weitgehend mit den strukturell bedingten Defiziten allein und setzt auf private Lösungen, die viele Eltern überfordern und herkunftsbedingte Ungleichheiten weiter verstärken. Hier muss die öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen junger Menschen durch eine differenzierte Förderung wahrgenommen werden.
(6) Chancengleichheit für junge Migrantinnen und Migranten
Die Bildungsdiskriminierung junger Migrantinnen und Migranten verhindert eine gelingende Integration in die Gesellschaft. Die Lösung dieses Problems darf nicht nur im Ausgleich von migrationsbedingten Differenzen bzw. damit verbundenen Defiziten gesucht werden. Sie liegt insbesondere in der Akzeptanz von kultureller Vielfalt und in der Orientierung an den bislang zu wenig genutzten Ressourcen. Sie können durch die Förderung von Zweisprachigkeit und die Fähigkeit, sich in unterschiedlichen ethnisch-kulturellen Kontexten zu orientieren, realisiert werden. Dies erfordert eine konsequente Verbreitung und Weiterentwicklung von interkultureller Bildung.
(7) Bildung endet nicht mit dem Schulabschluss
In der Bildungsdebatte wird zu wenig berücksichtigt, dass Veränderungen in der Arbeitswelt, dass Jugendarbeitslosigkeit und Ausbildungsnot massive Konsequenzen für alle mit Bildung befassten Institutionen haben. Der Übergang in den Beruf muss daher sehr viel stärker in den Blick genommen werden. Berufliche Bildung vermittelt nicht nur Kompetenzen für Erwerbsarbeit, materielle Unabhängigkeit und ökonomischen Erfolg, sondern hat auch eine identitätsbildende Funktion im Lebenslauf der einzelnen jungen Menschen. Jeder junge Mensch sollte das Recht auf einen grundlegenden schulischen Abschluss haben und die Möglichkeit einer „zweiten Chance“ in der berufsqualifizierenden Ausbildung erhalten.
(8) Geschlechtergerechtigkeit als Bildungsauftrag
Bildung beeinflusst das Geschlechterverhältnis. Schulerfolge von Mädchen täuschen nicht darüber hinweg, dass das Bildungssystem weiterhin ein geschlechtsspezifisches Berufswahlverhalten fördert. Dieses wirkt sich auf dem Arbeitsmarkt insbesondere zu Lasten von Frauen aus. Durch Bildung allein lassen sich diese Muster nicht aufbrechen. Dennoch bleibt das Ziel der Geschlechtergerechtigkeit zentraler Auftrag aller Bildungsbereiche.
(9) Kinder- und Jugendhilfe eröffnet ein breites Bildungsangebot
Angebote und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe bieten einen spezifischen Erfahrungs-, Erlebnis- und Erkenntnisraum und dienen der allgemeinen Förderung junger Menschen. Mit je eigenen Zielsetzungen und vielfältigen Inhalten, Methoden und Arbeitsweisen wird in der Kinder- und Jugendhilfe ein breites Bildungsangebot eröffnet, das in enger Wechselwirkung zu Familie, Schule und beruflicher Bildung steht. Die direkten oder indirekten, bewusst geplanten oder impliziten Bildungspotenziale müssen in den Angeboten und Diensten sichtbar gemacht und weiterentwickelt werden. Vor allem in der Differenz zu der Formalisierung schulischer Angebote liegt das spezifische Profil und die Chance der Kinder- und Jugendhilfe, junge Menschen zu erreichen und anzuregen.
(10) Bildung erfordert neue Formen der Vernetzung
Die verschiedenen Bildungsinstitutionen haben einen je eigenen Bildungsauftrag. Auf der Grundlage der Bedürfnisse und Interessen junger Menschen müssen die Bildungsaufgaben von Familie, Jugendhilfe, Schule und Berufsausbildung neu verbunden und aufeinander abgestimmt werden. Dabei sind vor dem Hintergrund heterogener und komplexer Lebenslagen die Übergänge zwischen den Bildungsorten neu zu gestalten. Unabdingbar ist daher eine übergreifende Verknüpfung der unterschiedlichen Bildungsinstitutionen und der politischen Verantwortlichkeiten.
(11) Ganztagsangebote als Bildungsoffensive
Der flächendeckende Ausbau der Ganztagsschulen bzw. der Ganztagsbetreuung wird als ein probates Mittel angesehen, der Bildungsmisere wirksam zu begegnen. Längeres Verweilen in der Schule oder bloße Betreuung in außerschulischen Einrichtungen allein bewirken jedoch noch keine höhere Qualität von Bildung. Ganztagsangebote benötigen vielmehr innovative Konzepte, die auf einem integrativen Bildungsbegriff basieren. Ein modernes, ganztägiges Bildungsangebot in und um die Schule herum schafft neue Räume für gemeinsam verantwortete Bildungserfahrungen und kann Modell für eine zukünftige umfassende Entwicklung junger Menschen sein. Zielperspektive ist u.a. mehr Zeit zur Förderung individueller Begabungen und zur Anerkennung und Einbeziehung nicht durch Schule vermittelter Kompetenzen sowie erweiterte Möglichkeiten zum Ausgleich fehlender Ressourcen im familiären Umfeld und zur Förderung politischer Bildung und sozialen Lernens.
Bonn/Berlin/Leipzig, den 10. Juli 2002