Kinder- und Jugend(hilfe)politik in Europa: Zur nationalen Berichterstattung zum Thema Partizipation

Vorwort zur Positionierung 

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Im November 2001 hat die Europäische Kommission das Weißbuch ‚Neuer Schwung für die Jugend Europas’ vorgelegt. Ausgehend von der Analyse, dass „das derzeitige System der europäischen Zusammenarbeit in Jugendfragen [...] an seine Grenzen gestoßen [ist] ... und [...] den neuen Herausforderungen, die es anzupacken gilt, nicht mehr gerecht [wird]“[1], werden im Weißbuch einige Vorschläge zur zukünftigen europäischen jugendpolitischen Zusammenarbeit gemacht. Kernpunkte sind zum einen die sogenannten spezifischen Bereiche der Jugendpolitik, die zukünftig mit Hilfe der offenen Methode der Koordinierung bearbeitet werden sollen sowie zum anderen die verstärkte Berücksichtigung der Jugend in anderen Politikbereichen.

Die Jugendminister und -ministerinnen in Europa sind in ihrer Entschließung vom Mai 20022 den  Empfehlungen des Weißbuches weitgehend gefolgt. So wird unter anderem die offene Methode der Koordinierung für die im Weißbuch vorgeschlagenen Themenbereiche Partizipation, Information, Freiwilligendienste und Jugendforschung seit Juni 2002 angewendet. Die offene Methode sieht zunächst nationale Berichte zu den genannten Themenbereichen vor, die dann von Seiten der Kommission in einen Synthesebericht gefasst werden. Auf dieser Grundlage kann der Jugendministerrat dann Verabredungen treffen und gemeinsame Zielvorstellungen formulieren.

Für die ersten beiden Themenkomplexe Partizipation und Information werden derzeit auf der Grundlage von Fragebögen nationale Berichte erstellt. Die Fragen gliedern sich in jeweils drei Teilbereiche. Der erste deckt den Bereich Basisinformationen ab, der zweite den Bereich politische Orientierung, der dritte die Erwartungen an die europäische Ebene. Die Fragebögen umfassen jeweils rund 30 Fragen.

Der nationale Bericht für Deutschland wird vom Bundesjugendministerium (BMFSFJ) erstellt. Im Vorfeld hat es thematische Positionierungen und Zuarbeiten insbesondere vom Deutschen Jugendinstitut, der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesjugendbehörden, dem Deutschen Bundesjugendring und der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe gegeben.

Im Folgenden wird die Positionierung der AGJ veröffentlicht.


Kinder- und Jugend(hilfe)politik in Europa:

Zur nationalen Berichterstattung zum Thema Partizipation
Position der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe

1. Grundsätzliche Anmerkungen

Die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe, der bundesweite Zusammenschluss der Träger der freien und öffentlichen Jugendhilfe in Deutschland hat bereits im April dieses Jahres positiv zur Vorlage des Weißbuches ‚Neuer Schwung für die Jugend Europas’ Stellung genommen (siehe FORUM Jugendhilfe 2/2002, S.2 ff). Sie begrüßt darüber hinaus die Entschließung des Jugendministerrates zur jugendspezifischen Anwendung der offenen Methode der Koordinierung unter gebührender Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips zu den vier vereinbarten jugendspezifischen Themen. Die AGJ erachtet  die nationale Berichterstattung auf der Grundlage von Fragebögen als sinnvoll, um so von den Erfahrungen der anderen Mitgliedsstaaten zu lernen und zu gemeinsamen Ziel- und Handlungsperspektiven in jugendpolitischen Fragen auf europäischer Ebene zu kommen.

Die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe betont, dass eine relative Kurzfristigkeit in der nationalen Berichterstattung und deren europäischer Zusammenführung sinnvoll ist, um zeitnah zu Ergebnissen und Handlungsperspektiven zu  kommen.  Der  unter  diesem Vorzeichen gesteckte Rahmen, welcher eine Beantwortung der Fragebögen innerhalb von 3-4 Monaten vorsieht, steht aber nach Auffassung der AGJ in eindeutigem Widerspruch zur empfohlenen Vorgehensweise, die die Partizipation sowohl von Jugendlichen als auch von jugendpolitischen Strukturen nahe legt.

Der enge Zeitrahmen zur nationalen Berichterstattung beeinträchtigt unter anderem die Erarbeitung und Umsetzung von jugendgerechteren Methoden zur Beteiligung von Jugendlichen an der Beantwortung der Fragebögen. Die AGJ erachtet daher die Zusammenführung von beidem, die Realisierung von direkter Partizipation von Jugendlichen und die zeitnahe nationale Berichterstattung für wenig sinnvoll und unter Umständen auch kontraproduktiv.

Die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe erkennt anhand des Verfahrens zur nationalen Berichterstattung gleichzeitig, dass sich die sinnvolle Einbeziehung der gewachsenen kinder- und jugend(hilfe)politischen Strukturen in einem  föderalen  System  nicht  ohne Schwierigkeiten und Abstriche insbesondere in der Frage der demokratischen Legitimierung realisieren lässt. An dieser Stelle sieht sie alle Beteiligten gefordert, die intensivere Auseinandersetzung zum Thema Beteiligung von Zivilgesellschaft weiterzuführen.


2. Partizipation – die bundesdeutsche Debatte

Die Partizipation von Jugendlichen an allen sie betreffenden gesellschaftlichen  und politischen Bereichen und Ereignissen wird von ihnen nicht nur immer wieder  gefordert, sondern ist zugleich konstitutiv für den Bestand und die Fortentwicklung demokratischer Strukturen. Die Konsultationen zum Weißbuch Jugend der Europäischen Kommission haben dies nachdrücklich belegt. Folgerichtig räumt die Kommission Konsultationen in diesem  Bereich auch Vorrang ein.

Auch in der Bundesrepublik Deutschland stellt die Beteiligung  von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein wichtiges kinder- und jugendpolitisches Ziel dar und hat in der allgemeinen gesellschaftlichen Debatte große Bedeutung. In den letzten Jahren  und  Jahrzehnten hat sich eine differenzierte Praxis der Beteiligung junger Menschen an einer Vielzahl gesellschaftlicher und politischer Prozesse entwickelt.

Eines der Kernelemente dieser Entwicklung ist die Erkenntnis, dass  junge  Menschen  zum einen in direkter Form beteiligt werden wollen, vor allem aber auch die Wirkung ihres Engagements konkret spürbar werden muss.

Hieraus folgt, dass Beteiligung zunächst einmal immer an der Lebenswelt junger Menschen ansetzen, ihre Lebenslage berücksichtigen und den Raum für eigenverantwortliche Gestaltung geben muss. Themen und Räume einer solcher Beteiligung sind dabei so vielfältig wie das Leben der jungen Menschen selbst. Sie finden sich sowohl in den originär jugend(hilfe)politischen Bereichen, wie z. B. Jugendeinrichtungen und Verbänden, als auch in Politik, Sport und sonstigen gesellschaftlichen Gestaltungsbereichen.

Junge Menschen sollen durch Beteiligung als verantwortungsbewusste Bürgerinnen  und  Bürger angesprochen und ernst genommen werden.

Beteiligung soll

  • an der Lebenswelt junger Menschen ansetzen,

  • handlungsorientiert sein und

  • Raum geben für die eigenverantwortliche Gestaltung.

Beteiligung findet statt

  • in allen jugend(hilfe)politischen Bereichen,

  • in allen übrigen gesellschaftlichen Gestaltungsbereichen und

  • in der Politik, wobei hier die kommunale Ebene im Vordergrund steht.

Junge Menschen sollen in all diesen Bereichen nicht nur gefragt und zu einer demokratischen Willensbildung unter Gleichaltrigen aufgefordert werden, sondern sie sollen vor allem reale Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten erhalten.

Die konkreten Beteiligungsformen variieren in der Praxis entsprechend den unterschiedlichen Beteiligungsfeldern, Beteiligungsgegenständen und den angesprochenen Altersgruppen. Im Hinblick auf die Interessen, den Zeithorizont und die Fähigkeiten junger Menschen sind insbesondere offene und projektorientierte Beteiligungsformen bedeutsam.

Die Formenvielfalt der Beteiligung junger Menschen wird mit unterstützt  durch unterschiedliche kommunal- und landesrechtliche Grundlagen sowie durch die Vielzahl nicht- staatlicher Organisationen, deren soziales Engagement das Bild der deutschen Gesellschaft nachhaltig prägt. Außerhalb jener Vertretungsstrukturen, die insbesondere auf der Selbstorganisation Jugendlicher beruhen, gibt es deshalb keine  allgemein verbindliche und alle Politikebenen umfassende repräsentative politische Jugendvertretung.


3. Fragebogen ‚Partizipation’

Der Fragebogen zur Partizipation legt seinen Schwerpunkt zunächst einmal – und das ist durchaus verständlich – auf die Bereiche, die einerseits objektivierbar und andererseits quantifizierbar sind. Er operiert dabei unter anderem mit dem Begriff der Mitgliedschaft, welcher vielfältigen Bereichen von Beteiligung und Partizipation junger Menschen nicht  gerecht wird. Er bildet die Realität in Jugendorganisationen, Vereinen etc. nur unzureichend  ab. Gerade in den letzten Jahren entwickelte sich eine Vielfalt von zeitlich befristeten Projekten innerhalb von Verbänden, die sich nicht nur an Mitglieder richtet. Hinzu kommen

offene Angebote (Jugendcafé, Schülertreffs etc.), in denen Jugendorganisationen nach den Grundsätzen Partizipation, Freiwilligkeit und Selbstorganisation Jugendliche  erreichen,  die  weit von einer Mitgliedschaft in den Organisationen entfernt  sind.  Hilfreicher  wäre  es deshalb, in Zukunft nach „erreichten Jugendlichen“ zu fragen.

Darüber hinaus hat der jüngste Enquetebericht der Bundesregierung zum ehrenamtlichen Engagement deutlich gemacht, dass Jugendliche keineswegs politikmüde und selbstbezogen ihren Alltag gestalten, sondern vielmehr in unterschiedlichen  Formen  und Aktionen sich an der Gestaltung und Entwicklung ihres Lebensumfeldes beteiligen. Diese Formen sind jedoch nicht zwingend kompatibel mit dem Engagement in Verbänden, Vereinen und Parteien.

Insofern muss Wert gelegt werden auf die Feststellung, dass die im Fragebogen ‚Partizipation’ erhobenen Daten und Informationen  nur  einen  Ausschnitt  von  Engagement und Beteiligung junger Menschen darstellen.

Die sehr enge staatsbürgerliche Partizipationsdefinition des Fragebogens wird  in der Logik des Fragebogens selbst nicht eingehalten. Nach Fragen zur Ermutigung von Jugendlichen an  der Gestaltung der repräsentativen Demokratie (siehe Fragebogen 2.1), Fragen zur Einbeziehung von Jugendlichen in die Entscheidungsfindung auf der Ebene der repräsentativen Demokratie (dito 2.2) folgen Fragen nach der  Verantwortung  von   Jugendlichen in ihren unmittelbaren Lebensbereichen (Schule, Betrieb, Freizeit) ( dito 2.3).

Es fehlt die in der Logik einer staatsbürgerlichen Partizipationsdefinition konsequente Frage nach der Verantwortung von Jugendlichen in der  repräsentativen  Demokratie.  Hier  liegen nach Auffassung der AGJ enorme Defizite. Möglichkeiten und konkrete Beispiele, wie Jugendliche wirklich auch an der Umsetzung und Realisierung von Entscheidungen der repräsentativen Demokratie beteiligt werden können (verpflichtende Rechtspositionen, Budgetverantwortung von lokalen/regionalen Jugendparlamenten o. ä.), gibt es bisher kaum.

Um eine europäische Perspektive zum Thema Partizipation zu entwickeln, gilt es nach Auffassung der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe, der Debatte auf der derzeitigen nationalen Berichterstattung aufbauend einen erweiterten Partizipationsbegriff zu Grunde zu legen, der aus bundesdeutscher Sicht hier kurz skizziert wurde. Eine systematische Unterscheidung nach Zielen, Inhalten und Formen der Beteiligung ist aus Sicht der AGJ empfehlenswert, damit die länderspezifischen Voraussetzungen deutlich werden können und eine grenzüberschreitende Debatte fruchtbar auf europäischer Ebene geführt werden kann.

Die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe merkt an, dass unter dem Titel Best-Practice- Beispiel in der Regel Modellprojekte geschildert werden, die zeitlich befristet sind und nur in Ausnahmefällen in die Regelfinanzierung übergehen. Es müssten daneben auch sinnvolle und dauerhaft finanzierbare Beteiligungsformen in unbefristeten Regelangeboten erörtert werden.


4. Zu ausgewählten Fragen:

F 25: Bestimmte Gruppen Jugendlicher haben spezielle Schwierigkeiten, um sich zu beteiligen (benachteiligte Jugendliche, Minderheiten,...). Wie können zielgruppenspezifische Ansätze entwickelt werden? Welche innovativen Initiativen oder Ideen wurden entwickelt, um die Partizipation der weniger engagierten Jugendlichen zu fördern?

F 26: Bedarf es spezifischer Maßnahmen, um die Partizipation von Mädchen zu unterstützen?

Beteiligung sollte grundsätzlich unter Berücksichtigung aller übrigen relevanten jugendpolitischen Grundsätze konzipiert und umgesetzt werden. Sie muss u. a. methodisch so angelegt werden, dass sie sozial integrierend wirkt und nicht ihrerseits Benachteiligungen schafft.
Ein grenzüberschreitender Austausch über die Methoden, die das am besten leisten können, ist daher von besonderer Bedeutung.

F 30: Die Resolution vom 30. Mai 2002 ersucht die Kommission, dem Rat für jede Priorität der offenen Koordinierungsmethode Entwürfe für gemeinsame Zielsetzungen vorzulegen. Welche gemeinsamen Zielsetzungen sollten Ihrer Meinung nach auf europäischer Ebene im Bereich der Partizipation entwickelt werden?

Auf europäischer Ebene sollte es Ziel sein,
-die Dimensionen des Beteiligungsanspruchs bewusst zu machen,
-jugendgemäße Beteiligungsinhalte und -formen heraus zu arbeiten und
-die Schaffung eigenverantwortlicher Entscheidungs- und Gestaltungsräume für junge Menschen in Politik und Gesellschaft zu unterstützen.


F 32: Wie sollte die Vertretung der Jugend als Teil der Zivilgesellschaft entwickelt werden:

  • im Wirtschafts- und Sozialausschuss?

  • durch andere Formen der Vertretung auf europäischer Ebene?

Angesichts des hohen Abstraktionsgrades europäischer Themen ist kritisch zu hinterfragen, wie weit, abgesehen von den existierenden jugendpolitischen Vertretungsstrukturen, eine  direkte Beteiligung junger Menschen unter Berücksichtigung aller beteiligungsrelevanten Kriterien sinnvoll und vertretbar ist.

Die demokratische Legitimation mit dem jugendgemäßen Charakter der Beteiligung zu verbinden ist, sobald die lokale Ebene überschritten wird, ein Problem, für das es noch keine schlüssige Lösung gibt.

Abgesehen von einer weiteren Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der direkten Beteiligung junger Menschen sollte auf europäischer Ebene der Frage einer besseren indirekten Beteiligung im Sinne der Interessenvertretung junger Menschen durch Erwachsene verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet werden (zum Beispiel im Wirtschafts- und Sozialausschuss). Es ist durchaus denkbar, eine entsprechende Interessenvertretung durch sachkundige Erwachsene mit direkten Beteiligungsprozessen zu verbinden und an eine "Rechtfertigung" gegenüber jungen Menschen zu knüpfen.


F 34: Sollte die neue Generation europäischer Programme für Bildung und Jugend eine Aktion zur Förderung der Partizipation Jugendlicher vorsehen? Welche Arten von Pilotprojekten und welche vorbereitenden Maßnahmen sind auf der Ebene der Union ins Auge zu fassen, um eine Entwicklung in diesem Sinne vorzubereiten?

F 35: Gibt es andere Elemente, die in einer weitergehenden vorausschauenden Perspektive zu entwickeln wären (Mehrwert auf europäischer Ebene, Mandat, Mittel,...)?

Für alle EU-Förderprogramme, die auch junge Menschen berühren, sollte die Beteiligung  junger Menschen, ähnlich wie das Gender Mainstreaming, zu einem besonderen Förderkriterium für dieses Programm erhoben werden.  Maßnahmen,  die  die  Beteiligung junger Menschen mit berücksichtigen, wären dann in besonderer Weise förderungswürdig.

Berlin, 26./27. November 2002
Der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe

Fußnoten


[1] Weißbuch der Europäischen Kommission ‚Neuer Schwung für die Jugend Europas’ November 2001, Seite 8 2 Entschließung des Jugendministerrates zu dem Rahmen für die jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa, 30.05.2002