Was lange währt, wird endlich gut: Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen
Stellungnahme zum KJSG-RefE 2020 der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ[1]
Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ bedankt sich für die Möglichkeit, zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (KJSG-RefE 2020) Stellung nehmen zu können.
Trotz der erheblichen Verzögerungen im Verfahren und damit einhergehenden Belastungen begrüßt die AGJ die Inhalte des nun vorgelegten KJSG-RefE 2020. Auch wenn die AGJ an verschiedenen Stellen noch Nachbesserungs- oder Klärungsbedarf sieht, hält sie den KJSG-RefE 2020 in der Gesamtbetrachtung für eine wertvolle rechtliche Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendhilferechts, die wichtige Impulse in die Praxis sendet und somit eine Grundlage für eine bedeutsame fachliche Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe bilden kann. Die AGJ erkennt die große Leistung bei der Erarbeitung der KJSG-RefE 2020 an und sieht, dass viele fachpolitische Anregungen aus der Debatte der letzten Jahre aufgegriffen wurden. Hierfür bedankt sie sich ausdrücklich bei den verantwortlichen Personen im BMFSFJ.
Als besonders unterstützungswürdig bewertet die AGJ die inklusive Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe und dass das KJSG-RefE 2020 die Subjektstellung der Adressat*innen und damit ein fachliches Wesensmerkmal der Kinder- und Jugendhilfe deutlich im Recht betont. Die Implementierung von Selbstvertretung (§ 4a SGB VIII-E), Ombudsstellen (§ 9a SGB VIII-E), aber auch die an verschiedenen Stellen gestärkten Beratungs- und Beteiligungsansprüche (§§ 4 Abs. 3, 8 Abs. 3, 10a, 36 Abs. 1 S. 2 und Abs. 5, 37, 37a, 42 Abs. 2, 45 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 SGB VIII-E) hält die AGJ vor diesem Hintergrund für sehr gelungen. Und obgleich sich die AGJ einen schnelleren und mutigeren Schritt zur Zusammenführung der Zuständigkeit der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderung unter dem Dach des SGB VIII gewünscht hätte, hält sie das vorgeschlagene dreistufige Vorgehen für eine abgewogene Lösung, die sowohl die inklusive Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe verdeutlicht wie auch Verbesserungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung und ihre Eltern mit sich bringt.
Die dennoch verbleibenden Leerstellen dürfen aus Sicht der AGJ aber nicht kleingeredet werden. Sie führen auch weiterhin zu einer Benachteiligung für Familien, in denen ein Familienmitglied eine Behinderung hat oder diese droht. Sehr kritisch bewertet die AGJ besonders einzelne Regelungsvorschläge im Themenfeld Kinderschutz: durch die Umstellung des § 4 KKG-E, die Ausformung der dort aufgenommenen Rückmeldepflicht, insbesondere aber dem Anreiz, Fallverläufe als Kindeswohlgefährdung zu etikettieren (§ 73c SGB V-E) und die Verpflichtung zur Übersendung vollständiger Hilfepläne an das Familiengericht (§ 50 SGB VIII-E), droht aus Sicht der AGJ ein Einbruch der mühsam errungenen abgewogenen fachlichen Kinderschutzarbeit. Es enttäuscht, dass hier offenbar sogar Positionierungen und Hinweise aus dem Dialogprozess Mitreden-Mitgestalten ungehört blieben, die über die Berufsgruppen hinweg einhellig vorgebracht worden waren. An diesen Stellen fordert die AGJ in der Überarbeitung des RefE-KJSG 2020 nochmals deutliche Nachbesserungen.
Nichtsdestotrotz appelliert die AGJ an die politischen Entscheidungsträger*innen, zeitnah den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess zur Reform des SGB VIII aufzunehmen und die politische Debatte über die Regelungsvorschläge so konstruktiv zu führen, dass eine Verabschiedung noch in dieser Legislaturperiode gelingen kann. Ein erneutes Scheitern oder weiteres Vertagen der SGB VIII-Reform würde die AGJ zutiefst bedauern.
Zur Erleichterung der Lesbarkeit dieser Stellungnahme erfolgt die Auseinandersetzung mit den vorgeschlagenen Änderungen in Orientierung an den in der Einleitung des KJSG-RefE genannten Themenbereichen.
1. Kinderschutz
Die vorgesehene Beteiligung des/der medizinischen Berufsgeheimnisträger*in bei der Gefährdungseinschätzung (§ 8a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB VIII-E), die/der eine Mitteilung nach § 4 KKG gemacht hat, wird von der AGJ begrüßt. Sie hält es für wichtig, dass es sich nicht um eine verpflichtende Beteiligung in jedem Kinderschutzfall handelt, sondern diese nach fachlicher Einschätzung des Jugendamtes erfolgt. Eine solche Einbeziehung kann aber auch ohne vorhergehende Mitteilung durch dieselbe Person und auch von weiteren Berufsgruppen (Lehrer*innen, Betreuungs- oder Bezugspersonen) je nach Einzelfall sinnvoll sein. Aus Sicht der AGJ sollte daher der Zusatz „Nummer 1“ entfallen. Die vorgeschlagene Regelung regt eine besondere Aufmerksamkeit in der Vorbereitung der Gefährdungseinschätzung an, überlässt es aber – wie bisher auch – der Praxis im Einzelfall die fachliche Einschätzung zu treffen, wessen Beteiligung sie für erforderlich und welche Form sie hierfür als geeignet erachtet. In der Umsetzung der Norm wird es – ebenfalls wie bisher – wichtig sein, in den multidisziplinären Kooperationen des Kinderschutzes für eine Aufgabenklarheit zwischen den beteiligten Personen und eine Transparenz der Verfahrensgrundsätze zu sorgen. In diesen muss auf dem Weg zu einer verlässlichen, ausgereiften Praxis ge- und erklärt werden, wer wann und zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form einbezogen wird. So wird es erstens nicht immer zielgerichtet sein, die Person zu beteiligen, die die initiierende Mitteilung nach § 4 KKG gemacht hat. Je nach Gefährdungslage kann es sachgerecht sein, andere Personen auf Grund ihrer Fachexpertise oder ihres Kontaktes zum Kind hinzuzuziehen (z. B. nach kinderärztlicher Mitteilung von Hinweisen auf Schwierigkeiten im Sozialkontakt könnte es sachgerecht erscheinen, die Schule hinzuzuziehen). Zweitens sind fachlich folgende Zeitpunkte zu unterscheiden, an denen sich die Zielsetzung der Einbeziehung unterscheiden kann: Ersteinschätzung nach Meldung, Gefährdungseinschätzung mit Entwicklung eines Schutzplans, Gefährdungseinschätzung bei Überprüfung der Wirksamkeit des Schutzplans, Übergang vom Schutzplan zum Hilfeplan bzw. Maßnahmenende. Die Gesetzesbegründung macht deutlich, dass die Regelung auf eine fundierte Erkenntnisgrundlage bei der Ersteinschätzung abzielt. Konflikte um die Beteiligung auch der Berufsgeheimnisträger werden durch die Regelung zwar nicht ausgeschlossen, aber es werden, wie oben beschrieben, Aufmerksamkeit für und eine fachliche Auseinandersetzung mit diesen Fragen angeregt. Die AGJ trägt den Regelungsvorschlag mit Ausnahme der Beschränkung auf Angehörige von Heilberufen vor diesem Hintergrund mit.
Die AGJ spricht sich für die Hervorhebung aus, wonach bei fachlicher Qualifikation der insoweit erfahrenen Fachkräfte sowie bei deren Beratung auch die spezifischen Schutzbedürfnisse von Minderjährigen mit Behinderung zu beachten sind (§§ 8a Abs. 4 S. 2, 8b Abs. 3 SGB VIII-E). Diese greift die Beobachtung in der Praxis auf, dass die Schutzbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung bislang in der Wahrnehmung des Schutzauftrags der Jugendhilfe zu kurz gekommen sind, die Einschätzung und die im Umgang insbesondere von schweren Formen von Behinderung große Unsicherheiten auslösen, und in der Beratung es folglich besondere Kenntnisse und Erfahrungen braucht. Der Regelungsvorschlag greift dabei gekonnt die bewährte Konstruktion der Beratung durch „insoweit erfahrene Fachkräfte“ auf, für die weiterhin entscheidend ist, dass sie gerade nicht nur allgemein im Kinderschutz, sondern entsprechend der konkreten Gefährdungslage erfahren sein sollen. Die AGJ hält die vorgeschlagene Regelung für sehr geeignet, den notwendigen Qualifizierungsimpuls zu den spezifischen Schutzbedürfnissen von Kindern mit Behinderung zu setzen, ohne dass hiermit (ungewollt) eine Marginalisierung anderer gefährdeter Gruppen oder gar eine Stigmatisierung dieser Gruppe und ihrer Bezugspersonen einherginge.
Wie eingangs hervorgehoben, ist für die AGJ die im KJSG-RefE 2020 weiterhin enthaltene Umstrukturierung des § 4 Abs. 1-3 KKG-E besonders kritikwürdig. Gegen diese hatten sich nicht nur die AGJ und Vertreter*innen der Kinder- und Jugendhilfe bereits im KJSG-Gesetzgebungsverfahren 2017 ausgesprochen. Der Umstrukturierungsvorschlag war zudem im Rahmen des Dialogprozesses Mitreden-Mitgestalten einhellig und hier auch und besonders von Vertreter*innen des Gesundheitswesens kritisiert worden. Die Kritik beruht auf der fachlichen Einschätzung, dass durch ein Vorziehen innerhalb der Norm der Offenbarungsmöglichkeit gegenüber dem Jugendamt die eigene Handlungspflicht der Berufsgeheimnisträger*innen in den Hintergrund tritt. Der Umstrukturierungsvorschlag steht der Intention des Bundeskinderschutzgesetzes zuwider, indem sie die Mitteilung gegenüber dem Jugendamt bereits vor dem Nutzen der eigenen, fachlich und persönlich herausfordernden Handlungsoptionen anstößt. Hierdurch werden die bislang zu § 4 KKG erfolgten intensiven Aufklärungs- und Qualifizierungsbemühungen konterkariert und ein verwirrendes Signal in die Praxis gesetzt. Die nebeneinanderstehende Handlungsverantwortung im Kinderschutz von Kinder- und Jugendhilfe und Berufsgeheimnisträgern ist von großem Wert und trägt wesentlich zum hohen Standard des deutschen Kinderschutzsystems bei. Die AGJ spricht sich insofern scharf gegen Einzelstimmen aus, die gar eine Mitteilungspflicht bei gewichtigen Anhaltspunkten auf eine Kindeswohlgefährdung fordern. Diese übersehen, dass hierdurch kein besserer Schutz der betroffenen Minderjährigen gelänge, sondern vielmehr ein vorzeitiger Rückzug dieser wichtigen Partner*innen im Kinderschutz provoziert würde. Die AGJ fordert, § 4 Abs. 1-3 KKG in der jetzigen Form und damit als Spiegel der Handlungsstufenchronologie zu belassen und erinnert nachdrücklich daran, dass auch die Vertreter*innen des BMFSFJ aufgrund des deutlichen Meinungsbilds während der Sitzung im Dialogprozess Mitreden-Mitgestalten am 15. Februar 2019 resümierten, sie hätten das Signal gegen die Umstrukturierung verstanden. Es ist daher unverständlich, dass hierzu in der Begründung des KJSG-RefE 2020 nicht einmal eine Aussage getroffen wird.
Die Intention der Einführung einer Rückmeldungsverpflichtung des Jugendamtes nach einer Mitteilung gewichtiger Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung (§ 4 Abs. 4 KKG-E) kann die AGJ gut nachvollziehen. Für Berufsgeheimnisträger*innen i. S. d. § 4 KKG, aber auch andere Personen, die sich zu einer solchen Mitteilung gezwungen sehen, besteht die Sorge um das Kind oder den Jugendlichen auch nach der Einschaltung des Jugendamtes fort. Sie sind mit dieser Sorge, aber auch Gedanken über ihr eigenes Handeln, das rechtzeitige Einschreiten und den weiteren Verlauf konfrontiert. In der Begründung des KJSG-RefE 2020 wird insbesondere auf die Möglichkeit eines fortbestehenden Kontakts mit dem Kind oder Jugendlichen bzw. seiner Familie verwiesen, weshalb der/die Melder*in in sein/ihr weiteres Tätigsein neue Erkenntnisse und Veränderungen der Situation der Familie einbeziehen wolle. Dieses legitime Interesse ist jedoch ganz deutlich zu unterscheiden von einem Kontrollbedürfnis gegenüber dem fachlichen Handeln des Jugendamtes und von diesem eindeutig abzugrenzen. Die vorgeschlagene Regelung der Rückmeldung ist aus Sicht der AGJ noch nicht gelungen, da sie die beschriebenen fachlichen Probleme nicht differenziert aufgreift, sondern eine pauschale und zudem auf die medizinischen Berufsgeheimnisträger*innen beschränkte Regelung trifft. Wie die AGJ auch schon im Rahmen des Dialogprozesses Mitreden-Mitgestalten und dem KJSG-Gesetzgebungs-verfahren 2017 einbrachte, sollte vielmehr zwischen einer einfachen Rückmeldung („Ihre Mitteilung ist angekommen; wir kümmern uns um die/den Minderjährige*n und sind mit dieser/diesem in Kontakt.“) und einer differenzierten Einbeziehung in das Schutzkonzept unterschieden werden. In letzteres sind die Akteur*innen einzubeziehen, die weiter mit der/dem Minderjährigen zu tun haben – das kann der/die § 4- KKG-Mitteiler*in sein, muss es aber nicht zwingend. Zwischen den Akteur*innen des Schutzkonzeptes ist ein vertiefter Austausch und ein Teilen von Informationen notwendig, um die Schutzmaßnahmen zugunsten des/der Minderjährigen zu entwickeln und durchzuführen. Gegenüber den (ggf. auch nicht gleich einverstandenen) Personensorgeberechtigten ist zu verdeutlichen, dass dieses fachliche Zusammenwirken erforderlich ist und nur gemeinsam gelingen kann. Datenschutzrechtliche Bedenken bestehen hier nicht, soweit die Zusammenarbeit entweder auf dem Einverständnis der Betroffenen oder zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung erforderlich ist (§ 65 Abs. 1 Nr. 1 oder 5 SGB VIII). Andere Personen, auch wenn es sich um medizinische Berufsgeheimnisträger*innen handelt und sogar, wenn von diesen die das Kinderschutzverfahren initiierende § 4 KKG-Mitteilung kam, dürfen derartig detaillierte Informationen nicht erhalten. Für den Kinderschutz sind eine Wahrung des Vertrauensschutzes und das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen von großer Bedeutung, diese tragen wesentlich zur Etablierung einer gelingenden Hilfebeziehung bei. Die in § 4 Abs. 4 KKG-E vorgeschlagene Information, ob das Jugendamt tätig geworden ist und noch tätig ist, ist nur bei Einbezug in das Schutzkonzept und keineswegs in allen Fällen einer § 4 KKG-Mitteilung sinnvoll – auch nicht, wenn diese von medizinischen Berufsgeheimnisträger*innen kam. Sie reicht umgekehrt bei einem dauerhaften Einbezug in das Schutzkonzept oder auch bei einem fortwährenden Kontakt mit der Familie, ohne dass ein Schutzkonzept erforderlich wurde, weil sich die Sorge um die Gefährdungslage nicht bestätigte, auch nicht aus. Wirklich wissen will der/die Melder*in doch dann eigentlich, in welcher Situation, ggf. auch mit welcher Frequenz oder bei welchen weiteren oder sich wiederholenden Anhaltspunkten erneut eine Mitteilung gegenüber dem Jugendamt vorzunehmen ist. Aus Sicht der AGJ muss der Entwurf der Rückmeldepflicht folglich dringend dahingehend überarbeitet werden, dass eine Rückmeldung über den Eingang der Mitteilung immer erfolgt. Eine darüberhinausgehende Mitteilung mit konkreteren Informationen sollte hingegen nur bei Einbeziehung in den weiteren Hilfe- und Schutzprozess erfolgen, wenn dies für die weitere Arbeit mit dem Kind, Jugendlichen oder dessen Familie erforderlich ist. Der Zusatz „Nummer 1“ sollte zudem entfallen.
Die Erweiterung des Kreises der von § 4 KKG profitierenden Berufsgeheimnisträger*innen auf andere Sozialgeheimnisträger (§ 4 Abs. 5 KKG-E i. V. m. der Einführung des § 71 Abs. 1 S. 6 SGB X-E) bewertet die AGJ positiv. Hierdurch wird eine Lücke geschlossen, die zwar aufgrund des Rechts auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft für alle beruflich mit Kindern in Kontakt stehenden Personen über § 8b SGB VIII nicht allzu gewichtig war, aber rechtstechnisch und zur Verdeutlichung auch der eigenen Handlungspflicht so besser gelöst ist.
Auch die Einführung der Informationspflicht der Strafverfolgungsbehörden bei gewichtigen Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdung (§ 5 KKG-E) ist aus Sicht der AGJ gelungen und hat das Potential, einen positiven fachlichen Impuls zu setzen, insbesondere da die Norm ebenfalls das Recht auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft nochmals hervorhebt. Die AGJ hält es jedoch für problematisch und sieht einen dringenden Änderungsbedarf dahingehend, dass Abs. 1 als Schwelle der Informationspflicht sich auf eine „erhebliche Gefährdung“ bezieht, anstatt die im Kinderschutz sonst üblichen „gewichtigen Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung“ aufzugreifen oder mit Bezug auf den Anlass auf „Straftaten von erheblichem Gewicht“ abzustellen. Bei Kindeswohlgefährdung mit Adjektiven weitere graduelle Stufungen einzuführen, sollte unbedingt vermieden werden. In der Auslegung sind Unsicherheiten zu erwarten, ob die Information nur im Fall einer erhöhten Gefährdungsstufe zulässig ist und wenn ja, wo die Stufe anzusetzen ist. Eine Kindeswohlgefährdung liegt qua Definition ohnehin nur dann vor, wenn sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Die AGJ vermutet, dass die Formulierung mit der Intention gewählt wurde, Straftaten im Bagatellbereich auszuklammern und sich vielmehr auf Straftaten von erheblichem Gewicht zu begrenzen, was auch die Aufzählung in Abs. 2 verdeutlicht. Das kann jedoch auch unter Verwendung der im Kinderschutz sonst üblichen Formulierung „gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung“ oder ein Abstellen auf „Straftaten von erheblichem Gewicht“ erfolgen.
Die AGJ hält Kooperationsvereinbarungen der GKV mit den kommunalen Spitzenverbänden zur Zusammenarbeit der Vertragsärzte mit den Jugendämtern (§ 73c SGB V-E) für einen sehr wichtigen Baustein der gelingenden multidisziplinären Zusammenarbeit im Interesse der gemeinsamen Adressat*innen. Solche können die aktuelle Abrechnungslücke schließen, die diese Zusammenarbeit in weiten Teilen immer noch zum Privatvergnügen der Vertragsärzt*innen statt Teil ihres professionellen Handelns macht. Der AGJ ist unverständlich, warum Zahnärzt*innen über S. 2 ausgeschlossen werden, obgleich zahnmedizinische Hinweise oftmals ein wichtiges Indiz im Kinderschutz darstellen. Über diese Begrenzung des Kreises der Berechtigten hinaus setzt die Formulierung zudem den fatalen Anreiz, Fallverläufe unter das Label „Kindeswohlgefährdung“ zu deklarieren, um Kooperationsarbeit bezahlt zu bekommen. Dieses Label stigmatisiert und kann in zahlreichen Fällen kontraproduktive Dynamiken im Fallgeschehen in Gang setzen. § 73c SGB V-E sollte daher unbedingt verändert werden. Mit Blick auf die bereits gesetzlich geregelten Kooperations-beziehungen erscheint unverständlich, warum nicht einmal die bereits geltenden, regulären Kooperationsanlässe (vgl. etwa §§ 36 Abs. 3 und 35a Abs. 1a SGB VIII) berücksichtigt wurden. Ist ein über die Systemgrenzen hinweg abgestimmtes Handeln und Planen der Untersuchung und Behandlung nach SGB V einerseits und der Hilfen nach SGB VIII andererseits in belasteten Situationen unterhalb der Schwelle der Kindeswohlgefährdung für die Gesundheit der Kinder oder ihrer Eltern von Bedeutung, darf diese Kooperation nicht an der mangelnden Vergütung scheitern. Sowohl im Bereich der Frühen Hilfen als auch bei Eltern mit psychischen Erkrankungen kann die Kooperation dazu beitragen, dass der Fallverlauf gar nicht erst zum Kinderschutzfall eskaliert bzw. dann zügig der Schutz des betroffenen Kindes sichergestellt werden kann.
Die AGJ sieht in der Anpassung der Vorgaben zur Speicherung von Daten aus der Einsichtnahme in Erweiterte Führungszeugnisse (§ 72a Abs. 5 SGB VIII-E) ein Aufgreifen der in der Praxis durch die bisherige Regelung bestehenden Probleme. Sie hätte allerdings die Neuschaffung eines Negativ-Attests hinsichtlich der Eintragung von einschlägigen Straftaten für eine noch bessere Lösung gehalten. Die Aufnahme von § 181j StGB (Straftaten aus Gruppen) in den Katalog einschlägiger Straftaten kann die AGJ mittragen.
Innerhalb der Diskussion zu den veränderten Regelungen zur Erteilung der Betriebserlaubnis hat in der AGJ die Einführung einer Legaldefinition zum Einrichtungsbegriff (§ 45a SGB VIII-E) die größte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Deutlich wurde, dass eine solche Regelung als dringend erforderlich erachtet wurde, um eine Abgrenzung des Anwendungsbereichs im Gesetz deutlich zu machen und die hierzu bestehende Rechtsprechung abzubilden. Der vorgelegte Vorschlag hat dabei überrascht, wurde nach intensiver Erörterung aber als gelungen bewertet. Hierfür war insbesondere entscheidend, dass für die sogenannten familienähnlichen Betreuungsformen/Erziehungsstellen nun deutlich wird, dass diese in den Anwendungsbereich der Betriebserlaubnispflicht fallen, wenn für diese die Leitungsverantwortung eines Trägers besteht. Der Regelungsvorschlag formuliert dies als Einbindung in eine betriebserlaubnispflichtige Einrichtung (S. 2) und als Aufzählung der Elemente der Leitungsverantwortung des Trägers (S. 3), ohne diese konkret als solche zu bezeichnen. Die AGJ regt an, diese Begrifflichkeit zur Verdeutlichung für die Praxis noch aufzunehmen, hält den Vorschlag aber auch so für akzeptabel.
Die nun zusätzlich normierte Voraussetzung für die Erteilung einer Betriebserlaubnis der Zuverlässigkeit des Trägers und die hierfür beispielhaft benannten Kriterien (§ 45 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 iVm S. 3 SGB VIII-E) hält die AGJ für geeignet, um den Betriebserlaubnisbehörden eine Orientierung zu geben und somit für mehr Rechtsklarheit zu sorgen, dass eine Verweigerung der Erlaubnis aufgrund entsprechender Erfahrungen mit dem Träger rechtmäßig ist. Auch dem verlangten Nachweis einer ordnungsgemäßen Buch- und Aktenführung (§ 45 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII-E) erachtet die AGJ als akzeptabel und sieht bei aller Sorge vor zusätzlicher Bürokratie in dieser Dokumentation auch die Chance eines Nachweises für Qualität. Gleichwohl wäre klarstellend ein Hinweis auf mögliche Steuerberater*innen- bzw. Buchprüfer*innentestate hilfreich, welcher auch im Begründungs-text erfolgen könnte.
Die Konkretisierung und Erweiterung des Prüfrechts (§ 46 SGB VIII-E) begrüßt die AGJ und ist erfreut, dass die Anregungen im Rahmen des Dialogprozesses Mitreden-Mitgestalten weitgehend aufgegriffen wurden. Durch die Ausführungen in Abs. 1 S. 2 wird aus Sicht der AGJ auch hinreichend deutlich, dass örtliche Prüfungen nach Abs. 2 zwar jederzeit unangekündigt, aber nicht willkürlich und nur nach Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens möglich sind. Die AGJ begrüßt, dass das örtliche Jugendamt und auch der zentrale Träger der freien Jugendhilfe beteiligt werden soll. Auch die zur Abmilderung der Belastung der Bewohner*innen in Abs. 3 S. 1 aufgenommene Bestimmung begrüßt die AGJ. Sie macht hiermit darauf aufmerksam, dass bei der in Abs. 3 S. 2 erfolgten Bezugnahme die Benennung des Absatzes vergessen wurde und es hier „nach Maßgabe von Abs. 1 S. 2“ heißen müsste. Der AGJ ist wichtig, an dieser Stelle zudem nochmals zu betonen, dass die Betriebserlaubnisbehörde nicht – wie fälschlich in der Bezeichnung als Heimaufsicht teils impliziert – auf ihre Aufsichtsfunktion verengt werden sollte und sie vielmehr auch fachliche Anregungen in Form von Planungs- und Betriebsführungsberatungen einbringen soll und so zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit i. S. d. § 4 SGB VIII beiträgt. Für die sachgerechte Ausübung dieser wichtigen, nebeneinanderstehenden und miteinander in Bezug stehenden Funktionen ist eine Hinterlegung mit entsprechenden personellen Ressourcen erforderlich, woran es in der Praxis nach Einschätzung der AGJ noch oftmals hakt.
Die AGJ begrüßt, dass eine gegenseitige Informationspflicht der Betriebserlaubnisbehörde, des örtlichen Jugendamts und der die Einrichtung belegenden Jugendämter (§ 47 Abs. 2 SGB VIII-E) vorgesehen ist. Da diese drei Behörden einen unterschiedlichen Bezug zu den betreuten Kindern und Jugendlichen haben und mit verschiedenen Handlungsoptionen ausgestattet sind, hält die AGJ eine gegenseitige Information zur Wahrnehmung ihrer Verantwortung wichtig.
Die AGJ hält die Spezifizierung zu Rücknahme und Widerruf der Betriebserlaubnis (§ 45 Abs. 7 SGB VIII-E) für sinnvoll. Die Eingriffsstufe sollte aber nicht mit dem Begriff „Gefährdung“ markiert sein, da dies in der Praxis regelmäßig Missverständnisse hervorruft zwischen der abstrakten, an Strukturqualität festgemachten Kindeswohlgefährdung in der Einrichtungsaufsicht und der einzelfallbezogen-konkreten, an den Voraussetzungen des § 1666 Abs. 1 BGB Kriterien. Die Aufhebung sollte daher bereits möglich sein, wenn das Wohl der Kinder und Jugendlichen in der Einrichtung nicht gewährleistet ist und der Träger nicht bereit oder in der Lage ist, für eine entsprechende Gewährleistung des Kindeswohls Sorge zu tragen. Die Aufhebung sollte in diesem Fall nur dann unterbleiben, wenn die so begründete Aufhebung das Kindeswohl gefährden würde.
Die AGJ möchte an dieser Stelle auf das dringende Problem hinweisen, welches sich derzeit für die Träger von Einrichtungen über Tag und Nacht durch die Regelungen des Arbeitszeitgesetzes stellen. Die engen Vorgaben verunmöglichen u. a. fachlich sinnvolle Konzepte sogenannter innewohnender Betreuer*innen und konterkarieren so das Bemühen um kontinuierliche, enge Betreuungsbeziehungen. Auch wenn eine Lösung dieses Problems nicht ins SGB VIII fällt, besteht hier ein enger inhaltlicher Bezug im Ringen um eine gute Fachlichkeit zur Stärkung der Kinder und Jugendlichen.
Die vorgeschlagenen Ergänzungen zum vorzulegenden Konzept zur Sicherung der Rechte und des Wohls von Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung (§ 45 Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII-E) begrüßt die AGJ. Sie hält die Einbeziehung von Selbstvertretung und die Eröffnung des Zugangs zu Beschwerdemöglichkeiten außerhalb der Einrichtungen für eine konsequente Fortentwicklung der rechtlichen Vorgaben. Gleichermaßen begrüßt die AGJ die Verpflichtung der Jugendämter zur Entwicklung eines entsprechenden Konzepts für Pflegekinder (§ 37b Abs. 1 und 2 SGB VIII-E) und sieht hier fachpolitische Forderungen gelungen aufgegriffen. Sie hält es für richtig, dass dem Jugendamt diesbezüglich eine Gewährleistungs- und Informationspflicht auferlegt wird. Durch diese wird ein wichtiger Impuls für die fachliche Weiterentwicklung der Pflegekinderhilfe gesetzt. Die AGJ hält es für richtig, dass in die Norm auch die Überprüfungspflicht des Jugendamtes sowie die Meldepflicht der Pflegeeltern über die das Wohl des Kindes oder Jugendlichen betreffenden gewichtigen Ereignisse integriert wurde (§ 37b Abs. 3 SGB VIII-E).
Die AGJ befürwortet die Einführung der konkreten Vorgaben zur Zulässigkeit von Auslandsmaßnahmen (§ 38 SGB VIII-E) und erachtet diese als notwendig, damit qualitative Mindeststandards und der Schutz von untergebrachten Kindern und Jugendlichen auch im Ausland besser gewährleistet werden kann.
2. Stärkung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen und Pflegefamilien
Die Änderungen innerhalb der Norm zur Hilfeplanung heben aus Sicht der AGJ wichtige fachliche Grundsätze deutlich hervor. Die AGJ ist besonders über die deutliche Aufforderung zum Einbezug der Geschwisterperspektive (§ 36 Abs. 2 S. 3 SGB VIII-E) sehr erfreut. Sie bedauert allerdings, dass hier nicht noch deutlicher hervorgehoben wird, dass eine gemeinsame Unterbringung der Geschwister der anzustrebende Regelfall sein sollte, soweit nicht Gründe des Kindeswohls dem entgegenstehen. Aus Sicht der AGJ wäre eine solche Hervorhebung sinnvoll, um die Schaffung entsprechender Unterbringungsmöglichkeiten stärker anzuregen. Einen ähnlichen Anregungseffekt erwartet die AGJ ebenso von der Hervorhebung der Pflicht zur Beteiligung im Hilfeplanverfahren von Eltern ohne Personensorgerecht (§ 36 Abs. 5 SGB VIII-E). Da sich diese Pflicht aus dem grundrechtlich geschützten Elternrecht ergibt, geht die AGJ jedoch davon aus, dass sie nicht auf Fälle mit einer „impliziten Erforderlichkeit“ begrenzt werden darf. Vielmehr besteht eine Pflicht des Jugendamtes, sich um eine Einbeziehung der nicht-personensorgeberechtigten Eltern zu bemühen, wenn das Wohl des Kindes dem nicht entgegensteht. Aus Sicht der AGJ wird dieser entscheidende letzte Gesichtspunkt gut aufgegriffen. Für Fachfremde könnte jedoch inadäquat wirken, dass zwar die Willensäußerung der Personensorgeberechtigten, aber vermeintlich nur das Interesse des Kindes oder Jugendlichen und nicht auch dessen Äußerungen zu berücksichtigen sind. Zwar beinhaltet das sozial- und erziehungswissen-schaftliche Verständnis des Kindesinteresses immer auch die Dimension des Kindeswillens, aus Sicht der AGJ wäre es jedoch sinnvoll, auch in der Formulierung der Norm deutlich zu machen, dass die betroffenen Kinder aktiv in die Entscheidungsfindung einzubeziehen und nicht allein Objekt der Erwägungen von Fachkräften sind.
Die Überführung der Einbeziehung Dritter in einen eigenen Absatz und die Verdeutlichung, dass auch andere im Einzelfall relevante Sozialleistungsträger, Rehabilitationsträger oder öffentliche Stellen sowie die Schule zu beteiligen sind (§ 36 Abs. 3 SGB VIII-E), begrüßt die AGJ.
Die AGJ findet es auch sehr sinnvoll, dass die Spezialvorgaben zur Hilfeplanung bei Hilfen außerhalb der eigenen Familien in einer eigenen Norm zusammengefasst und klar hervorgearbeitet wurden (§ 37c SGB VIII-E). Diese trägt die AGJ mit und bittet darum, etwaige abweichende Anregungen insbesondere aus dem Dialogforum Pflegekinderhilfe aufzunehmen. Die AGJ regt zudem an, in § 37c Abs. 3 SGB VIII-E zusätzlich aufzunehmen, dass bei der Auswahl einer Pflegestelle außerhalb der örtlichen Zuständigkeit des belegenden Jugendamtes das Jugendamt vor Ort aufgefordert werden soll, etwaige Erkenntnisse zur Eignung der Pflegeperson mitzuteilen. Aus Sicht der AGJ wäre dies eine gute Lösung, um ins Verfahren Erfahrungen des örtlichen Jugendamtes und insbesondere das Wissen um vorhandene Schwierigkeiten mit den Pflegepersonen einzubringen. Das Fehlen dieses Wissens hat in der Vergangenheit bei verschiedenen Kinderschutzfällen zu Recht Zweifel an der sachgerechten Zusammenarbeit unterschiedlicher Jugendämter entstehen lassen. Der genannte Lösungsvorschlag hätte die Vorteile, die Fallhoheit beim belegenden Jugendamt zu belassen, keinen überzogenen Kontrollbedarf gegenüber Pflegefamilien zu implizieren und zudem die mitsamt seinen Ausnahmen abgewogene Regelung der Pflegeerlaubnis (§ 44 SGB VIII) unangetastet zu lassen.
Die Einführung eines ausdrücklichen, eigenen Beratungs- und Unterstützungsanspruch der Eltern (§ 37 SGB VIII-E) und der nachfolgende eigene Beratungs- und Unterstützungsan-spruch der Pflegeeltern (§ 37a SGB VIII-E) wird als eine Errungenschaft des KJSG-RefE bewertet. Die Hervorhebung des Elternrechts auf Beratung und Unterstützung auch nach Unterbringung ihres Kindes außerhalb der eigenen Familien stellt eine echte Stärkung ihrer Rechtsposition dar. Sie greift die Bedeutung von Hilfekontinuität gegenüber den Eltern auch nach erfolgter Unterbringung des Kindes auf. Die AGJ sieht in dieser Regelung einen starken Impuls gegenüber der Praxis, die Zusammenarbeit mit den Eltern fortzusetzen und mit ihnen – auch und gerade auch – nach Unterbringung des Kindes oder Jugendlichen eine Hilfebeziehung fortzusetzen, diese neu oder auch wieder zu etablieren.
Die klar erkennbare Intention, konkrete Vorgaben zur Gestaltung des Verfahrens für absehbar bevorstehende Übergänge der Zuständigkeit zu treffen, befürwortet die AGJ. Beachtet werden muss aus Sicht der AGJ jedoch, dass es sich in der Regel nicht um einen Übergang i. S. d. Übernahme der Unterstützung der Kinder- und Jugendhilfe durch einen anderen Träger handelt, sondern vielmehr eine Ablösung bei Verschiebung der Ausrichtung der Unterstützung, denn die Aufgabe des neuen Sozialleistungsträgers entspricht eigentlich nie der der bisher zuständigen Kinder- und Jugendhilfe. Dennoch ist die Intention, auf abgestimmte, flüssige Übergänge hinzuwirken, aus Sicht der AGJ absolut richtig und greift eine in der Praxis bestehende Problematik auf. Noch zu oft fallen Leistungsberechtigte nach Beendigung der Kinder- und Jugendhilfeleistung in ein „Nichts“, obgleich ihnen Unterstützungsansprüche gegenüber anderen Sozialleistungsträgern zustehen. Die AGJ betrachtet es als sinnvoll, dass hierfür eine allgemeine Norm zur Zusammenarbeit beim Zuständigkeitsübergang (§ 36b Abs. 1 und 2 SGB VIII-E) und auf dieser aufbauende Spezialvorgaben für den Wechsel junger Menschen mit Behinderung in das Erwachsenensystem der Eingliederungshilfe (§ 36b Abs. 3 SGB VIII-E) und der Beendigung von Hilfen für junge Volljährige (§ 41 Abs. 3 SGB VIII-E) vorgeschlagen sind. Sie appelliert vehement an die Praxis, die Normen nicht i. S. e. Ausleitungsmanagements zu missbrauchen, sondern im Verlauf der hier benannten Fristen auch immer wieder offen zu prüfen, ob der jugendhilferechtliche Hilfebedarf sich nicht doch wieder intensiviert hat und folglich eine planentsprechende Hilfebeendung wider Erwarten ausscheidet. Die AGJ gibt ferner zu bedenken, dass die Konstruktion des kooperationsrechtlichen Vertrags zwischen den Sozialleistungsträgern (§ 36 Abs. 2 SGB VIII-E) zu hochschwellig sein dürfte, als dass sie in der Praxis tatsächlich verlässlich umgesetzt wird. Sie bringt einen hohen verwaltungsbürokratischen Aufwand mit sich und mangels korrespondierender Verpflichtungen in den anderen Sozialleistungsgesetzen ist zu befürchten, dass andere Sozialleistungsträger die Verhandlung und den Abschluss schlicht verweigern werden. Sollten sich die Sozialleistungsträger miteinander in entsprechende Aushandlungsprozesse über eine Vereinbarung begeben, besteht die Gefahr, dass die Beteiligung der Leistungsberechtigten darunter leidet.
Die Neugestaltung und vor allem die Anhebung des Verpflichtungsgrads der Hilfen für junge Volljährige (§ 41 Abs. 1 S. 1 SGB VIII-E) wirkt einer fehlgeleiteten Praxis entgegen, die trotz der Existenz des vorherigen Regelrechtsanspruchs eine Unterstützung durch die Kinder- und Jugendhilfe ab einem Alter von 18 Jahren trotz eines entsprechenden Bedarfs verweigerte. Die AGJ hält diese Anpassung für einen wichtigen Baustein zur Stärkung der Rechte der Adressat*innen und begrüßt, dass das BMFSFJ die entsprechenden fachpolitischen Anregungen aufgegriffen hat. Aus Sicht der AGJ sollte dennoch die Formulierung der Anspruchsnorm nochmal verändert werden. Zum einen könnte die passivische Satzbildung „erhalten“ für einen Teil der Rechtanwender*innen zu Beginn irritierend sein, da diese SGB VIII-untypisch ist, indem sie nicht „hat… einen Anspruch auf“ lautet. Der Effekt könnte durch die Beibehaltung der Worte „in der Regel“ in S. 2 verstärkt werden, weil diese zusätzlich an den vormaligen Regelrechtsanspruch erinnern. Da mit dem Wort „erhalten“ in anderen Sozialleistungsbüchern aber eindeutig verbindliche Rechtsansprüche gekennzeichnet sind, bedarf es aus Sicht der AGJ jedoch nicht zwingend einer Anpassung. Wichtiger ist für die AGJ, dass die nun konkret benannte Tatbestandsvoraussetzung „wenn und solange ihre Persönlichkeitsentwicklung eine eigenverantwortliche, selbstständige und selbstbestimmte Lebensführung nicht gewährleistet“ auf die Prüfung eines defizitären Reifegrades des jungen Menschen zielt. Care-Leaver*innen weisen zu Recht darauf hin, dass sie es als hochproblematisch erlebt haben, wenn sie für die Fortgewährung einer von ihnen noch benötigten Hilfe sich selbst als (noch) ungenügend darstellen mussten. Das zur Leistungsberechtigung führende Manko sei nicht unbedingt in ihrer Person verankert, vielmehr seien sie durch ihre Lebensumstände im Vergleich zu Gleichaltrigen benachteiligt und bräuchten deshalb Unterstützung. Die AGJ hält hieran anschließend für besonders dringend erforderlich, dass eine Formulierung gewählt wird, die hervorhebt, dass auch ein Anspruch auf Weitergewährung von Hilfen für junge Volljährige besteht, wenn diese Hilfe geeignet und notwendig ist, um Bildungsprozesse zu stabilisieren. Die Klarstellung der sogenannten Coming-back-Option (§ 41 S. 3 SGB VIII-E) befürwortet die AGJ und sieht auch hierdurch künftig rechtswidrige Leistungsverweigerungen erschwert. Dieser Absatz zeigt gemeinsam mit der nun in eine eigene Norm überführten Nachbetreuungspflicht (§ 41a SGB VIII-E), dass die Kinder- und Jugendhilfe auch nach Beendigung der Hilfe weiter eine Verantwortung für das Wohl des jungen Menschen trägt und bereit ist, diesen in Krisen erneut zur Seite zu stehen. Das ist aus Sicht der AGJ auch unter fiskalischen Gesichtspunkten sinnvoll, um erzielte Hilfeerfolge zu stabilisieren und die jungen Menschen nachhaltig zu einer eigenständigen Lebensführung zu befähigen.
Die Senkung des bei der Kostenheranziehung durch die jungen Menschen einzusetzenden Einkommensanteils auf 25% (§ 94 Abs. 6:S. 1 SGB VIII-E) sieht die AGJ als Schritt in die richtige Richtung. Aus ihrer Sicht spricht aber viel dafür, auf die Heranziehung ganz zu verzichten und/oder zumindest die Bemessung weiterhin am Monat des Vorjahres zu orientieren und nicht durch eine Bezugnahme auf das aktuelle Einkommen zu ersetzen (§ 94 Abs. 6 S. 2 SGB VIII-E). Sie warnt davor, den Verwaltungsaufwand zu unterschätzen, der durch die Zunahme kassatorischer Entscheidungen entsteht, welche wegen veränderten Einkommensentwicklungen notwendig werden.
Die AGJ unterstützt die Vorschläge zum Erlass sowie der Aufhebung einer Dauerverbleibensanordnung in Pflegefamilien mitsamt der Konkretisierung der hierfür zu beachtenden Kindeswohlbelange (§§ 1632 Abs. 4, 1696 Abs. 3, 1697a Abs. 2 BGB-E). Sie hält diese Regelungen für sehr abgewogen und sieht auch das verfassungsrechtlich geschützte Elternrecht gewahrt. Die Regelungen ermöglichen eine rechtliche Absicherung der Hilfekontinuität für Konstellationen, in denen die bisherige Rechtslage eine fortwährende emotionale Instabilität verursachte. Gleichzeitig wird hervorgehoben, dass die Rückkehr zur Herkunftsfamilie keineswegs ausgeschlossen ist und aktuelle Entwicklungen sowohl in der Herkunftsfamilie wie auch in der Pflegefamilie weiterhin Berücksichtigung finden und zu neuen familiengerichtlichen Entscheidungen führen können.
Die AGJ bedauert, dass in den KJSG-RefE nicht aufgenommen wurde, dass auch nach einer Inobhutnahme ein weiterer Verbleib der/des bis dahin alleinsorgenden Mutter/Vaters in der gemeinsamen Wohnform gem. § 19 SGB VIII als Hilfeleistung gewährt werden kann. Auch hätte die AGJ sehr begrüßt, wenn die Möglichkeit einer stationären Unterbringung in Familiensettings als fachlicher Impuls für die Schaffung solcher Angebotsformen Aufnahme in den KJSG-RefE gefunden hätte.
3. Hilfen aus einer Hand für Kinder mit und ohne Behinderung
Die AGJ unterstützt das Ziel einer inklusiven Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe seit langem. Ihr war es dabei stets wichtig, dass sowohl Faktoren berücksichtigt werden, die bislang zu einer Exklusion von jungen Menschen mit Behinderung führen, als auch solche, die an anderen (bestehenden oder zugeschriebenen) individuellen Besonderheiten anknüpfen und zu Stereotypisierung und Ausgrenzung führen. Für alle jungen Menschen in ihrer Vielfalt trägt Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wesentlich dazu bei, dass sie zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit heranwachsen können.
Als Teil eines breiten fachpolitischen Bündnisses hat die AGJ dabei auch immer wieder betont, dass sie die Herbeiführung der sogenannten Gesamtzuständigkeit unter dem Dach des SGB VIII für alternativlos hält. Sie möchte dabei nicht so verstanden werden, dass es ihr um eine im gegliederten Sozialleistungssystem kaum sinnvoll herzustellende volle Zusammenführung der Zuständigkeit von allen Rehabilitationsträgern geht. Vielmehr ist eine Überwindung der Zuständigkeitsspaltung zwischen der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit körperlicher und geistiger Behinderung (SGB IX-2. Teil) und der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung und den erzieherischen Hilfen (SGB VIII) gemeint. Ohne deren Überwindung wird die ganzheitliche Betrachtung des betroffenen Kindes oder Jugendlichen als Teil im System Familie nicht gelingen. Es werden weder die Minderjährigen vorrangig als Kind bzw. Jugendliche statt als Menschen mit Behinderung betrachtet noch wird auf die Unterstützungsbedarfe der Eltern angemessen eingegangen.
Wie eingangs bereits erläutert, hätte sich die AGJ – auch in Anbetracht des eindeutigen Signals im Dialogprozess Mitreden-Mitgestalten – einen mutigeren und auch schnelleren Schritt zur Zusammenführung dieser Zuständigkeiten unter dem Dach des SGB VIII gewünscht. Die AGJ begrüßt dennoch das im KJSG-RefE 2020 verankerte dreistufige Vorgehen und hält es für eine abgewogene Lösung; sie akzeptiert auch die zeitliche Streckung auf sieben statt fünf Jahre.
Die AGJ befürwortet die gesetzgeberische Selbstverpflichtung zur Verabschiedung eines Bundesgesetzes, welches mit Wirkung zum 01.01.2028 den Zuständigkeitsübergang von der Eingliederungshilfe in die Kinder- und Jugendhilfe regeln soll (§ 10 Abs. 4 SGB VIII-E). Sie hält die Verpflichtung zu einer vorbereitenden Gesetzesfolgenabschätzung und zu einer wissenschaftlichen Umsetzungsbegleitung für wichtige Einflussfaktoren für eine gelingende Reform. Kritisch sieht die AGJ, dass die Selbstverpflichtung allerdings nur bei Betrachtung des KJSG sichtbar ist, welches selbst ein Änderungsgesetz ist. Sie fordert die verantwortlichen Personen auf, hier ein deutlicheres Signal der Selbstverpflichtung zu setzen, indem sich die Regelung unmittelbar im SGB VIII auswirkt und so im Zeitverlauf bei einem einfachen Blick ins SGB VIII sichtbar ist. Modell hierfür konnte die später mangels Gesetzgebungskompetenz des Bundes unwirksam gewordene Selbstverpflichtung in § 16 Abs. 4 SGB VIII sein, die besagte dass ab 2013 für diejenigen Eltern, die ihre Kinder im Alter von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen betreuen lassen wollen oder können, eine monatliche Zahlung (zum Beispiel Betreuungsgeld) eingeführt werden solle. Jenseits davon erklärt die AGJ ihre Entschlossenheit, für den Erlass dieses konstitutiven Bundesgesetzes zu werben und zu einer konstruktiven Fachdebatte bei der Erarbeitung der hier notwendiger-weise enthaltenen Regelungen durch eigene Aktivitäten beizutragen.
Die vorgeschlagenen Verfahrenslotsen (§ 10b SGB VIII-E) hält die AGJ für einen Versuch, den Übergang zu begleiten und zu gestalten. In der Norm ist die Ausformung dieser Position weitgehend der Praxis überlassen, weshalb abzuwarten bleibt, ob die intendierte Unterstützung der Transition über das Institut der Verfahrenslotsen erreicht wird. Die AGJ sieht hierin jedenfalls eine Chance, um Personalressourcen und Fachkompetenzen in den Jahren 2024 bis 2027 in den Jugendämtern aufzubauen, die später die Aufgaben in der Fallbetreuung der durch den Zuständigkeitsübergang hinzukommenden Eingliederungshilfe mit zu bewältigen. Die AGJ teilt aber auch die Sorge, dass durch ein verspätetes Angehen dieser Aufgabe und eine zu große Freiheit in der Ausgestaltung die innewohnenden Chancen ungenutzt bleiben könnten. Sollten Verfahrenslotsen tatsächlich eingerichtet werden, empfiehlt die AGJ eine proaktive Aufklärung über diese Möglichkeit der Absicherung des Zugangs der Leistungsberechtigten und regt an, die Träger der Eingliederungshilfe in § 106 Abs. 4 SGB IX zu einem entsprechenden Hinweis zu verpflichten. Die AGJ fordert darüber hinaus die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Eingliederungshilfe auf, bereits ab Inkrafttreten des KJSG in einen gemeinsamen Fachdiskurs über die Ausgestaltung der Aufgaben der Verfahrenslotsen (Lotsenfunktion im Einzelfall nach Abs. 1, Organisationsentwicklungsberatung nach Abs. 2) zu treten. Auch die Aus- und Fortbildungsinstitute müssen möglichst zeitnah beginnen, Fachkräfte für diese neue Aufgabe zu qualifizieren. Ergänzend möchte die AGJ anmerken, dass sie einen Bedarf für Verfahrenslotsen zur Orientierung im gegliederten Sozialleistungssystem auch jenseits der hier eng begrenzten Zielgruppe sieht. Sowohl für Care-Leaver*innen, Eltern mit psychischen Erkrankungen sowie Existenzsicherungsbedarf ist schon mehrfach auf einen Unterstützungs-bedarf im Zurechtfinden zwischen den verschiedenen Behörden aufmerksam gemacht worden. Die Einführung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatungen waren ein wichtiger Schritt in Anerkennung dieses Bedarfs für Menschen mit Behinderung. Sie können die spezifischen Beratungsbedarfe von Kindern mit Behinderung und ihren Eltern aktuell jedoch nicht hinreichend auffangen und müssen diesbezüglich weiter qualifiziert werden. Die AGJ sieht in der, wenn auch zunächst befristeten, Einführung der Verfahrenslotsen ab dem 01.01.2024 daher eine Chance, auszuprobieren, ob und wie Verfahrenslotsen Adressat*innen noch konkreter im Zurechtfinden im gegliederten Sozialleistungssystem unterstützen können.
Als vollkommen richtig sieht die AGJ es an, dass im KJSG-RefE 2020 aber auch Schritte mit sofortigem Inkrafttreten zur Verbesserung der inklusiven Ausrichtung des SGB VIII gegangen werden. Die AGJ begrüßt hierbei, dass bei der Ergänzung der Zielbestimmungen der Kinder- und Jugendhilfe um den Aspekt der Teilhabe (§ 1 Abs. 3 Nr. 2 SGB VIII) keine Engführung auf das Diversitätskriterium Behinderung erfolgte. Die Formulierung wird vielmehr von dem Gedanken getragen, dass Inklusion eine Gesellschaft beschreibt, in der jeder Mensch gleichermaßen akzeptiert und Vielfalt geschätzt wird, ohne wiederum eine Teilgruppe herauszugreifen. Die AGJ kann es akzeptieren, dass in der Vorschrift über die Grundrichtung der Erziehung und der Förderung von Gleichberechtigung (§ 9 Nr. 4 SGB VIII-E) auf Teilhabe mit dem spezifischen Bezug auf Behinderung abgestellt wird. Sie hätte sich hier jedoch auch eine Benennung der unterschiedlichen Diversitätskriterien Geschlecht/Gender, Alter, Herkunft, Migrationshintergrund, Religionszugehörigkeit, sexuelle Orientierung, Bildung, soziale Lebenslage sowie Behinderung gewünscht.
Die AGJ heißt in besonderer Weise die beratende Teilnahme der Jugendämter am Gesamtplanverfahren bei minderjährigen Leistungsberechtigten willkommen (§ 10a Abs. 3 SGB VIII-E, § 117 Abs. 6 S. 1 SGB IX-E), an welches auch die Normierung des Vorschlagsrechts zur Gesamtplankonferenz (§ 119 S. 2 SGB IX-E) anschließt. Sie hält die Teilnahme des Jugendamtes in diesen Verfahren für einen klugen Weg, um auch im Stadium vor der Zuständigkeitszusammenführung unter dem Dach des SGB VIIIs die Jugendämter und damit den systemischen Blick auf Bedarfe des jungen Menschen und seiner Familie einzuspeisen. Für nicht sinnvoll erachtet die AGJ jedoch, die Abweichungsoption des Eingliederungshilfeträgers von der Einbeziehung des Jugendamtes (§ 117 Abs. 6 S. 2 SGB IX-E). Sie befürchtet, dass der Eingliederungshilfeträger wegen vorgeblicher Sorge um Verzögerung diese Option missbräuchlich ziehen wird, um sich die Arbeit zu erleichtern. Die AGJ glaubt nicht, dass es eine solche Abweichungsoption braucht, zumal die Einbeziehung der Jugendämter an den strengen Fristvorgaben des SGB IX nichts ändert. Es sollte lediglich den Leistungsberechtigten, nicht aber dem Eingliederungshilfeträger die Möglichkeit gegeben werden, auf die Einbeziehung der zusätzlichen Fachkompetenz zu verzichten.
Die an verschiedenen Stellen in den KJSG-RefE eingeflossenen Verpflichtungen zu einer wahrnehmbaren Gestaltung von Beratung und Beteiligung (§§ 8 Abs. 4, 36 Abs. 1 S. 2, 42 Abs. 2 S. 1 SGB VIII) befürwortet die AGJ sehr. Sie begrüßt, dass in der Begründung die Verwendung leichter Sprache ausdrücklich erwähnt ist. Die AGJ ist überzeugt, dass die mit Blick auf die allgemeine Beratung, die Hilfeplanung sowie Inobhutnahmen verankerte Verpflichtung die Praxis vor große Herausforderungen in der Umsetzung stellen wird und gleichzeitig auf einen an sich selbst bereits gerichtet Erwartung trifft. Von einer wahrnehmbaren Gestaltung, einer guten Aufklärung und zugewandten Beratung werden nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern ein sehr breiter Kreis der Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe profitieren.
Die AGJ sieht in dem Hinweis auf eine Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der Jugendarbeitsangebote auch für junge Menschen mit Behinderung (§ 11 Abs. 1 S. 2 SGB VIII-E) die konsequente Widerspiegelung der fachpolitischen Forderung nach einer stärkeren inklusiven Ausrichtung auch in Handlungsfeldern jenseits der Einzelfallhilfen. Dennoch möchte die AGJ Befürchtungen wiedergeben, wonach die Ergänzung überzogene Erwartungen wecken oder in Form einer Forderung missbraucht werden könnte, dass alle Jugendarbeitsangebote für alle jungen Menschen zugänglich und nutzbar sein müssen. Diese Befürchtungen sind berechtigt, da sich die Jugendarbeit vielerorts unterhalb eines angemessenen, bedarfsgerechten Niveaus zur Verfügung stehender Ressourcen bewegt. Dennoch ist die Ergänzung nach Auffassung der AGJ richtig und setzt den Impuls, die Vielfalt der jungen Menschen auch bei der Finanzierung der Angebote mitzudenken sowie im Rahmen der Jugendhilfeplanung darauf hinzuwirken, dass es für alle jungen Menschen bedarfsgerechte Angebote der Kinder- und Jugendarbeit geben muss. Hieran anknüpfend möchte die AGJ allerdings auch darauf hinweisen, dass gerade an dieser Stelle wiederum deutlich wird, warum ohne Zuständigkeitsübergang der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit körperlicher und geistiger Behinderung unter das Dach des SGB VIII erhebliche Lücken bleiben: Auch bei inklusiv ausgerichteter Jugendarbeit wird es immer wieder den Bedarf nach Einzelfallhilfen zur individuellen Begleitung und Unterstützung des Freizeitangebots geben. Ungeachtet der Problematik, dass diese ohnehin schwer zu bekommen sind, werden sie im Rahmen der Eingliederungshilfe nach SGB IX praktisch dadurch verhindert, dass in der Eingliederungshilfe die Berechtigten bzw. deren Eltern in erheblichem Maße hinsichtlich der Kosten dieser ambulanten Unterstützung herangezogen werden. Die Ergänzung des § 112 Abs. 1 S. 2 SGB IX war zwar ein wichtiger Schritt, Teilhabe an Freizeitangeboten auch jungen Menschen mit Behinderung zu ermöglichen, blieb aber auf solche innerhalb des Schulkontextes beschränkt. Diese Lücke wird auch durch § 11 S. 2 SGB VIII-E nicht geschlossen.
Ebenfalls für konsequent erachtet die AGJ die Schärfung der Aufgabe einer inklusiven Kindertagesbetreuung für Kinder mit und ohne Behinderung in Kindertageseinrichtungen (§§ 22a Abs. 4 SGB VIII-E), da dort nun der bislang noch bestehende Vorbehalt („sofern der Hilfebedarf dies zulässt“) gestrichen ist und eine Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit anderen beteiligten Rehabilitationsträgern normiert wurde (§ 22 Abs. 2 S. 3 SGB VIII-E).
Die AGJ erkennt an, dass der Versuch unternommen wurde, die Bedeutung von Ausführungen zur Teilhabebeeinträchtigung in der ärztlichen Stellungnahme klarzustellen (§ 35a Abs. 1a S. 4 SGB VIII-E). Sie begrüßt, dass hierbei der in weiten Teilen anerkannte fachliche Konsens zum Gewicht dieser Stellungnahme aufgegriffen wurde, wonach diese zwar zu bedenken, ihr aber vor dem Hintergrund weiter hinzuzuziehender Erkenntnisse zur Teilhabebeeinträchtigung nicht unbedingt zu folgen ist. Der Regelungsvorschlag übersieht aber, dass der Wortlaut des ohne spezialgesetzliche Abweichungsoption geltenden § 17 SGB IX eine strengere Vorgabe macht („zugrunde zu legen“ statt „angemessen berücksichtigt“). Hierzu wären zumindest Aussagen in der Begründung wichtig gewesen, zumal die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) und einzelne Stimmen im Fachdiskurs den Wortlaut des Abs. 1a „Stellungnahme“ als Beleg dafür heranziehen, dass es sich um gar kein Gutachten i.S.d. § 17 SGB IX handele und die hierfür normierten Vorgaben (Benennung von drei wohnortnahen Sachverständigen, Fristen etc.) gar nicht gelten würden. Darüber hinaus versäumt der Regelungsvorschlag Entwicklungen in der Praxis entgegenzuwirken, die versuchen, die strengen Fristenregelungen der §§ 14, 15 SGB IX zu umgehen, indem ohne Vorlage der ärztlichen Stellungnahme bzw. eines Gutachtens ein eingereichter Antrag als nicht vollständig bewertet und der Fristlauf damit nicht in Gang gesetzt wird. Solche Entwicklungen konterkarieren die Intention des BTHG und sollten dringend durch ein klares Signal des Gesetzgebers unterbunden werden. Die AGJ begegnet den unverändert belassenen Tatbestandsvoraussetzungen des Anspruchs auf Eingliederungshilfe (§ 35 Abs. 1 SGB VIII) mit Unverständnis. Wenn mit dem KJSG-RefE 2020 Änderungen im SGB VIII vorgenommen werden, erscheint die Anpassung an die Vorgaben der immerhin seit 2009 in Deutschland in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention und an § 2 Abs. 1 SGB IX überfällig. Die Kinder- und Jugendhilfe prüft zwar aufgrund ihres systemischen Verständnisses Wechselwirkungen zwischen Gesundheitsbeeinträchtigung und Umweltbarrieren seit langem, dies wird in der Formulierung der Anspruchsnorm jedoch nicht deutlich und hat zu einem ebenfalls vermeidbaren Auslegungsstreit und Verunsicherung der Praxis geführt.
Ausdrücklich begrüßen möchte die AGJ die Klarstellung, dass eine durch Individualanspruch begründete Unterstützung in Schule und Hochschule als Gruppenangebot erbracht werden kann, soweit dies im Einzelfall wegen des erzieherischen Bedarfs erforderlich ist (§ 27 Abs. 3 S. 3 SGB VIII-E). Hierdurch wird die Lücke zum sogenannten Pooling der Schulassistenz geschlossen, die jedenfalls für die Eingliederungshilfe für junge Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung bereits durch das BTHG in § 116 Abs. 2 SGB IX geregelt wurde. Da Leistungen der Schulassistenz auch teils über den offenen Leistungskatalog des § 27 Abs. 2 SGB VIII gewährt werden, hält die AGJ es für sehr klug, diese Regelung auch hier und nicht etwa nur innerhalb des § 35a SGB VIII zu treffen.
Zur Übergangsplanung (§ 36b SGB VIII-E) und die Qualifizierung insoweit erfahrener Fachkräfte zu den spezifischen Schutzbelangen (§§ 8a Abs. 4 S. 2, 8b Abs. 3 SGB VIII-E) wird auf die oben erfolgten Aussagen verwiesen.
Die Verpflichtung im Finanzierungsrecht zur Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse von jungen Menschen mit Behinderung als Qualitätsmerkmal (§§ 77 Abs. 1 S. 4, 78b Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII-E) sowie der Jugendhilfeplanung (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII-E) sieht die AGJ ebenfalls als wichtigen grundlegenden Schritt einer stärker inklusiven Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe. Solange jedoch das Grundproblem der Zuständigkeitsspaltung aufrecht erhalten bleibt, werden auch Leerstellen zulasten der Familien bleiben, in denen Familienmitglieder mit (drohender) Behinderung leben. Hier werden Bedarfe entweder übersehen oder bleiben zwischen den Systemen ungedeckt. Als Beleg kann auch gewertet werden, dass hier selbst der die Bedarfe von Eltern sonst sehr sensibel aufgreifende KJSG-RefE 2020 offenbar bestimmte Bedarfe komplett übersieht. Es handelt sich zum einen um den Bedarf von Eltern mit geistiger, ggf. auch seelischer Behinderung und die aus der Formulierung des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII resultierende und auch durch § 78 Abs. 3 SGB IX ungelöste Zuständigkeitsproblematik zur begleiteten/unterstützen Elternschaft. Zum anderen wird wiederum nicht auf den Entlastungsbedarf der Eltern von Kindern mit Behinderung eingegangen, obgleich die mit deren familiärer Betreuung und Versorgung einhergehende teils sehr hohe Belastung letztlich sogar ihr Aufwachsen in der Familie gefährden kann. Da es sich bei dem zuletzt genannten Entlastungsbedarf weder um einen erzieherischen Bedarf noch um eine Not-, sondern eher Dauerbelastungssituation handelt, greift auch der aus § 20 SGB VIII in § 28a SGB VIII-E verschobene Anspruch auf Betreuung und Versorgung in Notsituationen nicht (zu diesem an anderer Stelle mehr). Die AGJ hält es für unzumutbar, dass sich Eltern von Kindern mit Behinderung diese bitter notwendige Entlastung bislang in der Regel nur über die sogenannte Verhinderungspflege und zusätzliche Betreuungsleistungen über die Pflegekassen finanzieren lassen können. Erstaunt hat die AGJ des Weiteren wahrgenommen, dass nicht einmal die häufig fehlende fachliche Begleitung von Pflegeverhältnissen in der Eingliederungshilfe im KJSG-RefE 2020 aufgegriffen wurde. Die AGJ hätte es sehr begrüßt, wenn diesen ein Pflegekinderdienst, der in Orientierung an den jugendhilferechtlichen Standards arbeitet, verbindlich zur Seite gestellt worden wäre. Zudem sieht es die AGJ als unerträglichen Umstand an, dass es allein durch einen Zuständigkeitswechsel von der Kinder- und Jugendhilfe in die Eingliederungshilfe aufgrund der deutlich niedrigeren Vergütungssätze immer wieder zu starken Qualitätseinbußen in Fallverläufen kommt. Die Regelung des § 36b Abs. 3 SGB VIII-E löst dieses Problem nicht, da sie zwar eine Vorgabe für die fachliche Planung des Zuständigkeitsübergangs trifft, aber keine kontinuitätssichernde Brücke im Vergütungsrecht schlägt.
4. Mehr Prävention vor Ort
Die neue positive Beschreibung des Inhalts der Angebote der Familienförderung (§ 16 Abs. 1 S. 2 SGB VIII-E) bewertet die AGJ grundsätzlich positiv, regt aber an, neben der nun sehr starken Betonung auf Befähigung deutlich zu machen, dass auch Angebote zur konkreten Unterstützung unter die Norm gefasst werden können. Insbesondere vor dem Hintergrund der Streichung des Wortes „Elternverantwortung“ befürchtet die AGJ, dass diese Neuregelung sonst als falsches Signal einer Engführung des Auftrags der Familienförderung in der Praxis aufgenommen werden könnte.
Dem Wunsch nach einer verbindlicheren Vorgabe zur Finanzierung der durch objektive Rechtsverpflichtungen statt einklagbarer Rechtsansprüche verankerten Infrastruktur begegnet der KJSG-RefE 2020 durch die Schärfung der Pflicht zur Planung und Bereitstellung einer bedarfsgerechten niedrigschwelligen, sozialräumlichen Infrastruktur (§§ 79 Abs. 1 Nr. 1, 80 Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 3 i. V. m. 36a Abs. 2 S. 3 SGB VIII-E) und auch durch die Betonung der Bedeutung dieser Strukturmerkmale an unterschiedlichen Stellen im Gesetz (§§ 16 Abs. 2 S. 2, 78 S. 2 SGB VIII).
Besondere Bedeutung wird zudem dem Anspruch auf Betreuung und Versorgung in Notsituationen gegeben, indem dieser aus § 20 SGB VIII in die Hilfe zur Erziehung verschoben (§ 28a SGB VIII-E) und der niedrigschwellige Zugang abweichend vom Grundsatz der Hilfeplanung (§ 36a Abs. 2 SGB VIII-E) eröffnet wird. Innerhalb der AGJ wurde diese Verschiebung zunächst kritisch und als Erhöhung der Berechtigungsschwelle gesehen, da ergänzend zu den in § 28a SGB VIII-E implizit normierten konkreten Voraussetzungen nunmehr auch der erzieherische Bedarf nach § 27 Abs. 1 SGB VIII gegeben sein muss. Es wurde die Ansicht vertreten, dass für eine Verdeutlichung oder Aufwertung des Anspruchs eine Verschiebung in die Hilfen zur Erziehung gar nicht erforderlich, sondern dieses auch innerhalb des § 20 SGB VIII möglich sei. In der AGJ überzeugten jedoch letztlich die auch im KJSG-RefE 2020 aufgegriffenen Überlegungen der AG Kinder psychisch kranker Eltern, wonach eine Einordnung in die Hilfen zur Erziehung bei Betrachtung der Fallkonstellationen durchaus schlüssig ist, soweit dieser nicht als Dauerbedarf verstanden wird und eine Leistungsgewährung erst nach erfolgter Hilfeplanung möglich ist. Dem begegnet der KJSG-RefE 2020 durch die Eröffnung des erprobten niedrigschwelligen Zugangs gem. § 36a Abs. 2 SGB VIII und schafft mit diesem eine neue flexible Hilfe. Die AGJ findet es sinnvoll, dass Praxismodelle als Vorbild herangezogen wurden, bei denen gute Erfahrungen einer durch Alltagsunterstützung in Form von Patenschaften oder Haushaltshilfen erweiterten Erziehungsberatung gesammelt wurden – auch wenn nicht einleuchtet, weshalb Patenschaften qua gesetzlicher Vorgabe zwingend ehrenamtlich durchzuführen sein sollen. Sie bittet Kritiker*innen dieses Vorschlags, diesen nicht kaputtzureden, sondern eine rechtskonforme Erprobung und den flächendeckenden Aufbau solcher Angebote in der Praxis zuzulassen. Gerade für Konstellationen immer wieder akut werdender Notsituationen, bei denen eine Hilfe auch in Ruhephasen möglichst weiter mitschwingen sollte, beinhaltet dieser Ansatz große Chancen. Das schließt selbstverständlich konstruktive Anregungen zur Gestaltung der so neu verankerten und damit anders etablierten Hilfeform nicht aus. Die AGJ hält es beispielsweise für entscheidend, dass das Verb „ausfällt“ in Nr. 1 z. B. durch „beeinträchtigt“ oder „überfordert“ ersetzt oder ergänzt wird, da etwa bei depressiven Schüben oder in Alkoholphasen Eltern in der Regel nicht vollständig ausfallen, sondern in der Familie durchaus anwesend sind, aber ihren Alltagsaufgaben nicht oder nur noch ungenügend nachkommen können. Die AGJ begrüßt, dass nicht einseitig darauf abgestellt wird, dass das zweite Elternteil nicht allein durch seine Berufstätigkeit daran gehindert sein kann, die entfallene Betreuung zu übernehmen, sondern hierfür auch beispielsweise das Kümmern um den erkrankten bzw. die erkrankte Partner*in oder ein anderes Familienmitglied in Betracht kommt. Wie bereits im Themenbereich Inklusion angesprochen, erlaubt die Konstruktion des § 28a SGB VIII-E bedauerlicherweise jedoch nicht, hierunter auch die dringend erforderlichen entlastenden Unterstützungsleistungen für Eltern von Kindern mit Behinderung zu fassen, da in diesen Fällen es tatsächlich an einem erzieherischen Bedarf fehlt und gerade keine akute Notsituation, sondern ein belastender Dauerzustand gegeben ist.
Die AGJ findet es richtig, dass im Finanzierungsrecht eine deutlich stärkere Betonung auf Qualitätsaspekte gelegt wird (§§ 77, 78b Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII-E). Leider wird versäumt, das Finanzierungsrecht insgesamt übersichtlicher zu strukturieren oder zumindest die beiden Varianten der Vereinbarungen nach § 77 SGB VIII klar hervorzuarbeiten. Die AGJ fordert schon länger eine solche Differenzierung innerhalb der Norm, da in der Praxis – sogar bei Jurist*innen – immer wieder aus dem Blick gerät, dass es einerseits die Vereinbarungen nach § 77 SGB VIII mit Wirkung innerhalb der Rechtsbeziehung des jugendhilferechtlichen Dreiecks sowie Vereinbarungen nach § 77 SGB VIII im zweiseitigen Finanzierungsverhältnis geben kann. Letztere werden teils als vermeintlich modernere Alternative zur Zuwendung nach § 74 SGB VIII abgeschlossen, wobei aber übersehen wird, dass sich in diesem eng begrenzten Bereich der zweiseitigen Finanzierungsverhältnisse nach § 77 SGB VIII bei entsprechender Vertragsgestaltung auch der Anwendungsbereich des Vergaberechts öffnet. Die AGJ hat bereits an anderer Stelle vorgeschlagen, den europarechtlichen Spielraum für inhaltliche Vorgaben zur Trägerauswahl ebenfalls in eine differenzierte Fassung der Norm aufzunehmen und möchte auf diese Möglichkeit an dieser Stelle erneut hinweisen.
Die ausdrückliche Hervorhebung der Möglichkeit unterschiedliche Hilfearten zur kombinieren (§ 27 Abs. 2 S. 3 SGB VIII-E) begrüßt die AGJ. Sie bedankt sich für die schnelle Korrektur des redaktionellen Fehlers der Streichung des S. 2 und damit auch für das Festhalten der Ausrichtung der Hilfe am Einzelfallbedarf.
5. Mehr Beteiligung von jungen Menschen, Eltern und Familien
Wie eingangs betont, hält die AGJ den Titel des KJSG-RefE 2020 für vollkommen gerechtfertigt und begrüßt die unterschiedlichen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen, aber auch der Eltern.
Die AGJ befürwortet sehr, dass durch die Schaffung einer eigenen Norm zur Selbstvertretung (§ 4a SGB VIII) ein deutliches Signal der Anerkennung gesetzt wird. Hierdurch wird die Subjektstellung der Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe nochmals deutlich hervorgehoben. Die Legaldefinition in Abs.1 macht gleichzeitig deutlich, dass Selbstvertretung sich nicht auf einen engen Kreis besonders anerkannter Zusammenschlüsse oder auch allein eine Befassung derer mit dem Aufgabenbereich des SGB VIII begrenzt ist. Hierin sieht die AGJ eine Chance, dass einerseits auch allgemeinpolitisches Engagement junger Menschen jenseits der etablierten Strukturen unterstützt werden kann und andererseits auch eine Auseinandersetzung mit für die Träger der Kinder- und Jugendhilfe unbequemen Selbstvertretungsorganisationen erfolgt. Die AGJ erachtet es als sinnvoll, dass die allgemeine Zusammenarbeitspflicht für öffentliche und freie Träger an unterschiedlichen Stellen im Gesetz nochmals aufgegriffen und konkretisiert wird (§§ 4a Abs. 2, 45 Abs. 2 Nr. 4, 71 Abs. 2 und 6, 78 S. 3, 83 Abs. 3 SGB VIII-E), die konkrete Ausformung jedoch zumeist dem Landesgesetzgeber bzw. den Trägern von Einrichtungen überlassen bleibt. Die AGJ begrüßt die Schärfung der sich bereits jetzt aus § 4 SGB VIII ergebenden Förderverpflichtung, möchte aber auch Bedenkenträgern entgegentreten, weil diese Förderverpflichtung selbstverständlich wie bisher nach Maßgabe des § 74 SGB VIII bzw. ggf. auch § 77 SGB VIII umzusetzen ist und damit keineswegs ins Uferlose reicht.
Als einen ganz besonderen Verdienst des KJSG-RefE 2020 betrachtet die AGJ die gesetzliche Implementierung von Ombudsstellen (§ 9a SGB VIII), welche in der Praxis erfolgreich für das Handlungsfeld der Hilfen zur Erziehung entwickelt wurden und die hier Leistungsberechtigte in Anerkennung einer bestehenden strukturellen Machtasymmetrie bei der Durchsetzung von Rechtsansprüchen und Verfahrensrechten unterstützen. Die AGJ begrüßt ausdrücklich, dass die nun vorgeschlagene Norm die Erfahrungen im Bundesnetzwerk Ombudschaft aufgreift, wonach eine Struktur auf Landesebene mit an dem Bedarf ausgerichteten Regionalstellen zweckmäßig ist. Die vorgeschlagene objektivrechtliche Verpflichtung der Länder zum Aufbau einer solchen Infrastruktur sieht die AGJ als abgewogene Entscheidung zwischen Forderungen nach einer rein appellativ wirkenden Fakultativregelung und der Forderung nach einem Anspruch auf ombudschaftliche Beratung aller Adressat*innen. Eindringlich warnt die AGJ jedoch davor, den spezifischen und durch ein Fachkonzept unterlegten Auftrag der Ombudsstellen zu verwässern. Sowohl über die alternative Errichtung von „vergleichbaren Stellen“ sowie die Erweiterung des Auftrags auf „allgemeine Beratung“ wird der spezifische Charakter aufgeweicht. Auch glaubt die AGJ, dass die Praxis eine noch deutlichere Betonung des Wesensmerkmals der Unabhängigkeit sowie der Jugendamts- und Leistungserbringerexternen Errichtung braucht, um Fehlentwicklungen vorzubeugen. Hinzukommt, dass Ombudsstellen in der Kinder- und Jugendhilfe bislang nur im Handlungsfeld der hilfeplan(analog)gewährten Einzelfallhilfen etabliert sind und das hierfür entwickelte Konzept sich nicht einfach auf das breite Feld der gesamten Kinder- und Jugendhilfe übertragen lässt, hierauf durch die Bezugnahme auf § 2 SGB VIII in der Norm aber abgestellt wird. Die AGJ findet es sinnvoll, dass den Adressat*innen auch beispielsweise bei der Durchsetzung ihres Rechts auf Kindertagesbetreuung ombudschaftliche Hilfe zur Seite gestellt wird. Sie warnt jedoch nachdrücklich davor, beide Beratungsbereiche in der gleichen Ombudsstelle anzusiedeln, da diese ganz andere Rechtskenntnisse und Beratungskompetenzen erfordern.
Die Einführung des eigenständigen Beratungsanspruchs für Kinder- und Jugendliche auch ohne Kenntnis der Personensorgeberechtigte (§ 8 Abs. 3 S. 1 SGB VIII-E) hält die AGJ für sehr gelungen. Sie begrüßt auch die spezialgesetzliche Hervorhebung des sich bereits aus § 14 SGB I ergebenden allgemeinen Beratungsauftrags. Wie bereits im Themenbereich Inklusion dargestellt, findet es die AGJ besonders gut, dass dieser Auftrag an verschiedenen Stellen des Gesetzes durch die Vorgabe zur wahrnehmbarer Gestaltung von Beratung und Beteiligung ergänzt wird (§§ 8 Abs. 4, 36 Abs. 1 S. 2, 42 Abs. 2 S. 1 SGB VIII-E).
6. Sonstige Neuregelungen
Es finden sich verschiedene Regelungsvorschläge im KJSG-RefE 2020, die den genannten fünf Themenbereichen nicht zugeordnet werden können, auf die die AGJ aber dennoch zumindest kurz eingehen möchte.
Richtig findet die AGJ gerade auch in Anbetracht des Digitalisierungsschubs in Folge von Corona, dass die Verpflichtung für eine hinreichende Grundausstattung zu sorgen, sich auf auch digitale Geräte erstreckt (§ 79 Abs. 3 SGB VIII-E). Sowohl für die öffentliche wie auch die freie Jugendhilfe ist unübersehbar geworden, dass eine hinreichende Ausstattung keineswegs flächendenkend gegeben ist und dringender Verbesserungsbedarf besteht.
Die AGJ sieht in den Ergänzungen der Vorgaben zur Kindertagespflege in erster Linie Klarstellungen (§§ 22 Abs. 1, 23 SGB VIII-E), wenn auch wünschenswert wäre, wenn sich diese Klarstellungen zudem auf das Erfordernis von Gewaltschutzkonzepten beziehen würden. Die AGJ begrüßt dagegen ausdrücklich die Differenzierung zur örtlichen Zuständigkeit für die Pflegeerlaubniserteilung und hält es für zweckmäßig, wenn künftig der örtliche Träger für die Erteilung einer Tagespflegeerlaubnis zuständig ist, in dessen Bereich die Tagespflegetätigkeit ausgeübt wird und nur die Zuständigkeit für die Vollzeitpflege sich am gewöhnlichen Aufenthaltsort/Wohnort der antragstellenden Person bemisst (§ 87a Abs. 1 SGB VIII-E).
Sehr alarmiert hat die AGJ wahrgenommen, dass im KJSG-RefE 2020 weiterhin der Vorschlag enthalten ist, die Übersendung von Hilfeplänen in bestimmten familiengerichtlichen Verfahren per se verpflichtend oder nach Aufforderung verpflichtend vorzusehen (§ 50 Abs. 2 SGB VIII-E). Die AGJ warnt hiervor nachdrücklich, weil diese Vorgabe keineswegs die bestehenden Kommunikations- und Informationsdefizite zwischen Jugendamt und Familiengerichten zu beseitigen hilft. Vielmehr würde im Schein einer vollständigen Informationsübermittlung durch bürokratisches Übersenden die zwingende Notwendigkeit übergangen, dass eigentlich eine zielgerichtete Weitergabe und entsprechend der fachbehördlichen Expertise aufgearbeitete Darstellung der vom Familiengericht für seine Entscheidungsfindung benötigten Informationen benötigt wird. Der Vorschlag gefährdet zudem den am Beteiligungsprozess in der Kinder- und Jugendhilfe ausgerichteten Charakter der Hilfepläne. Die Praxis würde sich zwangsläufig, in der Befürchtung vertrauliche und intime Informationen weiterleiten zu müssen, bei der Dokumentation des Hilfeplans umstellen. Zu befürchten ist außerdem, dass auch auf Seiten der Adressat*innen der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zu den Fachkräften negativ beeinflusst wird. Die AGJ möchte daran erinnern, dass auch im Dialogprozess Mitreden-Mitgestalten die zunächst starken schriftlichen Voten für eine Übersendung der vollständigen Hilfepläne mancher Teilnehmenden nach der Diskussion hierzu mündlich zurückgenommen wurden. Sie beruhten auf der Fehleinschätzung, der Hilfeplan entspreche eher einem zusammenfassenden Arztbrief als der vollständigen Dokumentation des Entwicklungsverlaufs und des Beteiligungs- und Aushandlungsprozesses innerhalb der Hilfebeziehung. Die AGJ fordert nachdrücklich diesen Vorschlag zu korrigieren. Für sinnvoll würde die AGJ allerdings erachten, wenn Jugendämter zukünftig gesetzlich aufgefordert wären, im Falle eines teilweisen oder vollständigen Sorgerechtsentzugs regelmäßig über die Arbeit mit der Herkunftsfamilie sowie deren Beziehung zum Kind oder Jugendlichen berichten zu müssen.
Zu den Ergänzungen der Vorgaben zum behördenübergreifenden Zusammenwirken in JGG-Verfahren (§ 52 Abs. 1 SGB VIII-E, § 37a JGG-E) möchte die AGJ einbringen, dass sie es grundsätzlich für sinnvoll hält, bei einer gesetzlichen Verpflichtung zu Kooperation zwischen einer solchen mit Einzelfallbezug sowie einer fallübergreifend strukturell ausgerichteten Zusammenarbeit zu unterscheiden. Die AGJ bedauert, dass die noch im Dialogprozess Mitreden-Mitgestalten enthaltene Verpflichtung, dass diese Kooperation „im Rahmen der datenschutzrechtlichen Vorgaben“ zu erfolgen hat, im KJSG-RefE2020 entfallen ist. Es wird eine Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen den jugendlichen Beschuldigten und der Jugendgerichtshilfe befürchtet, wenn in Einzelfallbesprechungen (vermeintlich oder tatsächlich) alles Wissen weitergegeben werden muss.
Die AGJ hat keine Hinweise zu Änderungsvorschlagen zur schriftlichen Auskunft aus dem Sorgeregister (§§ 58a, 87c Abs.6 SGB VIII-E).
Sie bittet zu guter Letzt hinsichtlich der Änderungen zur Jugendhilfestatistik (§§ 98, 99, 100, 102, 103 SGB VIII-E) eventuell erfolgende Hinweise des Deutschen Jugendinstituts und der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik aufzugreifen. Auch wenn die Jugendhilfestatistik natürlich nicht die u. a. im Dialogprozess Mitreden-Mitgestalten ganz deutlich gewordenen Lücken der Eingliederungshilfestatistik schließen kann, regt die AGJ an, ob nicht zumindest auch eine Erfassung von parallel bezogenen Pflegedienstleistungen sowie bei anerkannter Schwerbehinderungen erfolgen kann.
Abschließende Anmerkungen
Für Rückfragen und zur Diskussion steht die AGJ gerne zur Verfügung.
Diese Stellungnahme wurde innerhalb der vorgegebenen engen Anhörungsfrist unter Einbeziehung der Mitglieder des Fachausschuss I, VI und der AGJ-Gesamt-AG SGB VIII verfasst. In der AGJ-Gesamt-AG SGB VIII arbeiten alle AGJ-Vertreter*innen sowie deren Stellvertretungen des Dialogprozesses Mitreden-Mitgestalten mit den Mitgliedern des Vorstandes zusammen, die seit 2015 die Reform des SGB VIII begleiten und u. a. die entsprechenden AGJ-Empfehlungen erarbeiteten. Dem AGJ-Vorstand konnte aufgrund der zeitlichen Vorgabe die Stellungnahme nicht zur Beschlussfassung vorgelegt werden. Das gewählte Verfahren wurde vorher jedoch in diesem beschlossen. Die Vorlage der Stellungnahme wird im Rahmen der nächsten AGJ-Vorstandssitzung am 03./04. Dezember 2020 nachgeholt.
Geschäftsführender Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 12. Oktober 2020
Der AGJ-Vorstand bestätigte am 3./4. Dezember 2020 die vom AGJ-Geschäftsführenden Vorstand am 12. Oktober 2020 beschlossene AGJ-Stellungnahme „Was lange währt, wird endlich gut: Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen“.
<hr />
[1] Ansprechperson für diese Stellungnahme in der AGJ ist die stellvertretende Geschäftsführerin: Angela Smessaert (angela.smessaert@agj.de).