Die Chance ergreifen!
Die European Youth Work Agenda in Deutschland umsetzen
Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ[1]
Abstract
Klimawandel, soziale Gerechtigkeit, digitaler Wandel, Krieg, Energiekrise und Corona-Pandemie sind nur einige der Themen, die junge Menschen heute bewegen – und das nicht nur in Deutschland, sondern europa- und weltweit. Eine adäquate Auseinandersetzung damit erfordert deshalb neben der nationalen eine internationale und transnationale Perspektive des Denkens und Handelns. Diesem Gedanken folgend hat das europäische Arbeitsfeld Youth Work (Kinder- und Jugendarbeit sowie Jugendsozialarbeit) über drei European Youth Work Conventions hinweg gemeinsam mit Vertreter*innen der EU, des Europarates und den Mitgliedstaaten beider Organisationen eine European Youth Work Agenda diskutiert und auf den Weg gebracht. Die European Youth Work Agenda bietet einen strategischen Rahmen für die Weiterentwicklung und Stärkung von Youth Work in Europa. Nach dem Start des Umsetzungsprozesses der Agenda im Dezember 2020 zieht das vorliegende Diskussionspapier eine Zwischenbilanz zum Umsetzungsstand in Deutschland.
Die AGJ hält die European Youth Work Agenda für eine Chance zur Stärkung von Youth Work in Deutschland und Europa. Sie kann Rückenwind für die bereits stattfindenden Aktivitäten in allen Bereichen des Arbeitsfeldes bedeuten und neue Impulse geben. Sie kann die unternommenen Anstrengungen sichtbarer machen und damit Anerkennung fördern, aber auch Leerstellen aufzeigen, an denen nicht nur Engagement durch einzelne Initiativen gefragt ist, sondern eine Verbesserung der strukturellen Rahmenbedingungen durch Politik und Verwaltung. Jedoch wird diese Chance, die die European Youth Work Agenda bietet, bislang in Deutschland kaum als Chance begriffen und nur unzureichend genutzt.
Im vorliegenden Diskussionspapier werden daher zunächst der Hintergrund und der Inhalt des Umsetzungsprozesses der Agenda – des sogenannten „Bonn-Prozesses“ – vorgestellt. Danach identifiziert die AGJ drei Aspekte und Fragestellungen, die in Deutschland häufig unterschiedlich interpretiert werden und so einem klaren Verständnis der Agenda im Weg stehen: Wieso ist der Begriff „Youth Work“ auch in Deutschland wichtig, welche Aktivitäten zählen zum Umsetzungsprozess, und handelt es sich um einen Top-down- oder einen Bottom-up-Prozess? Schließlich werden mit dem Ziel, die Umsetzung der Agenda zu unterstützen, Empfehlungen an alle an Youth Work beteiligten Akteur*innen in Deutschland, an die den Bonn-Prozess begleitenden Gremien sowie an die Jugendministerien von Bund und Ländern formuliert – verbunden mit dem Aufruf, im Rahmen des jeweils Möglichen einen Teil zum Erfolg der Umsetzung der European Youth Work Agenda beizutragen.
Inhaltsverzeichnis
1 Hintergrund und Idee der European Youth Work Agenda
2 Umsetzungsprozess zur European Youth Work Agenda: Der Bonn-Prozess
3 Umsetzung der European Youth Work Agenda in Deutschland
3.1 Unklarheiten im Verständnis der European Youth Work Agenda
3.1.1 Wieso im deutschen Diskurs den Begriff „Youth Work“ verwenden?
3.1.2 Welche Aktivitäten sind Teil des Umsetzungsprozesses?
3.1.3 Gestaltung des Umsetzungsprozesses: Top-down oder Bottom-up?
3.2 Empfehlungen für die Umsetzung der European Youth Work Agenda in Deutschland
3.2.1 Alle an Youth Work beteiligten Akteur*innen in Deutschland
3.2.2 Die Umsetzung unterstützende Gremien
3.2.3 Bundesjugendministerium und Jugendministerien der Länder
4 Fazit
1 Hintergrund und Idee der European Youth Work Agenda
Junge Menschen stehen europaweit vor komplexen Herausforderungen, zu deren Bewältigung und Gestaltung sie konkrete Unterstützung benötigen. Mehr qualitativ hochwertige und gesellschaftlich besser anerkannte Kinder- und Jugend(sozial)arbeit – hierfür wird in diesem Kontext der Begriff „Youth Work“ verwendet – kann einen Beitrag dazu leisten. Diesen Beitrag europaweit zu ermöglichen, dazu trägt die European Youth Work Agenda (EYWA) seit 2020 bei. Die Entwicklung und Verabschiedung der Agenda wurde begleitet von einem lange währenden Diskussionsprozess über drei European Youth Work Conventions[2] (EYWC) in den Jahren 2010, 2015 und 2020 hinweg. Im Ergebnis verständigten sich Vertreter*innen des europäischen Arbeitsfeldes der Kinder- und Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit sowie die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) und des Europarates auf ein gemeinsames Grundverständnis von Youth Work in ihrer wertzuschätzenden Vielfalt.
Mit der European Youth Work Agenda wurde erstmals auf europäischer Ebene eine gemeinsame politische und konzeptionelle Grundlage zur Stärkung des sehr vielseitigen Arbeitsfeldes Youth Work geschaffen: von der Jugendsozialarbeit über offene Jugendarbeit, Jugendbildung, Jugendverbandsarbeit, Jugendinitiativen und vergleichbare Aktivitäten. Die lange Genese der Agenda ist auch dem Umstand geschuldet, dass das Arbeitsfeld insgesamt in den europäischen Staaten durch sehr unterschiedliche Rahmenbedingungen geprägt ist. Zudem steht Youth Work in vielen europäischen Ländern u. a. durch Fachkräftemangel und chronische Unterfinanzierung der Strukturen unter Druck. Dieser Druck hat sich durch die Pandemie, die Einschränkungen zivilgesellschaftlicher Räume in einigen Ländern, den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die Energiekrise nochmals erhöht.
Zurzeit scheint es sowohl in der EU als auch im gesamten geografischen Europa immer schwieriger zu werden, zu vielen politisch grundsätzlichen Fragen Konsens zu finden – sei es in den Bereichen der Energiewirtschaft, der finanziellen und ökonomischen Solidarität, der Migration, der Rechtsstaatlichkeit, des Demokratieverständnisses und der gesellschaftlichen Teilhabe. Vor diesem Hintergrund ist es im Gegensatz dazu bemerkenswert, dass einer gemeinsamen Ausgestaltung des Arbeitsfeldes Youth Work in Europa eine so große Bedeutung beigemessen wird. Für viele involvierte Akteur*innen bedeutet dies einen wesentlichen Schritt nach vorne und ist das Ergebnis einer seit vielen Jahrzehnten intensiv geführten Diskussion zur Sichtbarmachung, Anerkennung und Stärkung des Arbeitsfeldes auch auf der europäischen Ebene.
Der Begriff „Youth Work“ entstammt dem europäischen Diskurs und spiegelt das Bestreben wider, unter Anerkennung der Unterschiedlichkeit der verschiedenen Organisationsformen von Youth Work in den Mitgliedstaaten von EU und Europarat ein gemeinsames Verständnis dieses breiten Arbeitsfeldes zu entwickeln. Es schließt die Arbeit von, für und mit jungen Menschen ein, ist in den verschiedenen Staaten jedoch sehr unterschiedlich strukturiert und ausgestaltet. Im Kontext der deutschen Kinder- und Jugendhilfe umfasst dies strukturell weitestgehend die Arbeitsfelder Kinder- und Jugendarbeit sowie Jugendsozialarbeit nach §§11–13 SGB VIII.[3]
Nach der Verabschiedung der Empfehlung zu Youth Work durch den Europarat in 2017[4] und der Entschließung für die Festlegung einer European Youth Work Agenda durch den Rat der EU in 2020[5] startete im Dezember 2020 bei der 3. Youth Work Convention in Bonn die als Bonn-Prozess bezeichnete Umsetzung der Agenda. In der Abschlusserklärung der Convention mit dem Titel „Wegweiser für die Zukunft“ werden Leitlinien und Anregungen für die Umsetzung einer starken Agenda auf allen Ebenen – von der lokalen, regionalen und nationalen bis zur europäischen Ebene – und in allen Bereichen von Youth Work in Europa formuliert.[6] Diese Anregungen umfassen acht Themenstränge (siehe Kapitel 2).
Die Abschlusserklärung wurde von einer das weite Arbeitsfeld Youth Work repräsentierenden Gruppe erarbeitet und richtet sich an alle Akteur*innen auf allen Ebenen, die in den verschiedensten Rollen und Funktionen an Youth Work beteiligt sind.[7] Dazu zählen neben den jungen Menschen ehren-, neben- und hauptamtliche Fachkräfte, Forschende sowie Akteur*innen in Politik und Verwaltung, die den Rahmen für Youth Work setzen und ausgestalten. In Deutschland sind dies Vertreter*innen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), der für Jugend zuständigen Ministerien in den Bundesländern, der Landesjugendämter und Jugendämter sowie aller Träger, Institutionen und Organisationen aus dem Feld der Kinder- und Jugend(sozial)arbeit sowie der entsprechenden Hochschulausbildung und Forschung.
Damit bietet die European Youth Work Agenda einen hochrangigen politischen und strategischen Rahmen für die Stärkung von Jugendsozialarbeit, Jugendbildungsarbeit, Jugendverbandsarbeit, offener Jugendarbeit und anderen Formen von Jugendarbeit überall in Europa. Es ist die Aufforderung und die Aufgabe für alle Akteur*innen in diesem Arbeitsfeld, diesen Rahmen gemeinsam mit der EU, dem Europarat und den Mitgliedstaaten beider Organisationen zur Weiterentwicklung aller Facetten von Youth Work – von bedarfsorientierter Qualifizierung über die Vereinfachung von Förderabläufen und besserer finanzieller Ausstattung bis hin zur Sichtbarmachung des Arbeitsfeldes – zu nutzen.
2 Umsetzungsprozess zur European Youth Work Agenda: Der Bonn-Prozess
Der Bonn-Prozess ist ein europäischer und ein nationaler Prozess in den Mitgliedstaaten der EU und des Europarates zugleich. In Deutschland wurde zur Unterstützung der europäischen Umsetzung der Agenda nach der 3. European Youth Work Convention unter anderem ein „European Service Center for the Bonn Process“[8] bei der deutschen Nationalen Agentur für die Umsetzung der EU-Jugendförderprogramme JUGEND für Europa (JfE) eingerichtet. Das Service Center wirkt transnational an der Vernetzung der beteiligten Akteur*innen sowohl auf europäischer Ebene als auch zwischen den Mitgliedstaaten von EU und Europarat mit. Dabei ist wichtig zu wissen, dass das Service Center zwar in Deutschland ansässig ist, aber kein Mandat für Deutschland hat, sondern auf europäischer Ebene die Umsetzung der European Youth Work Agenda unterstützen soll.
Darüber hinaus wurde beim Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut/Technische Universität Dortmund (DJI/TU Dortmund) eine vom BMFSFJ geförderte „Transferstelle zur Ausgestaltung der European Youth Work Agenda in Deutschland“[9] eingerichtet, die den Umsetzungsprozess in Deutschland unterstützt. Sie soll das Wissen über Youth Work erweitern und einen Austausch der beteiligten Akteur*innen in Deutschland ermöglichen.
Grundsätzlich aber gilt: Die Idee der European Youth Work Agenda ist, dass sie von allen Akteur*innen im Feld Youth Work ausgestaltet und umgesetzt wird. Zu diesem Zweck werden sowohl in der Abschlusserklärung der 3. European Youth Work Convention, die den Start des Bonn-Prozesses markiert, als auch in einem Impulspapier zum „Ausbau von Youth Work in ganz Europa“[10] acht thematische Stränge vorgestellt. Es werden zwar weder explizite Regeln für die genaue Ausgestaltung des Prozesses aufgestellt noch genaue Inhalte vorgegeben, doch können die acht Themenstränge mit möglichen Maßnahmen und Aktivitäten als Handlungsanregungen gelesen werden. Diese überlappen sich teilweise, weil verschiedene Ebenen, Akteur*innen und Felder angesprochen sind. Im Folgenden werden die acht Themenstränge, ausgehend von der Reihenfolge und den vorgeschlagenen Inhalten im umfangreichen Impulspapier, vorgestellt.
- Themenstrang 1 – Umsetzung der European Youth Work Agenda als strategischer Rahmen für die Weiterentwicklung von Youth Work in Europa:
Im Themenstrang 1 geht es vor allem darum, die politischen Rahmenbedingungen des Bonn-Prozesses auf europäischer Ebene zu definieren. Eines der Hauptthemen ist die Zusammenarbeit von EU und Europarat im Kontext des Bonn-Prozesses. Während dieser Themenstrang die europäische Ebene fokussiert, enthält er auch die zentrale Aufforderung, sicherzustellen, dass sich die European Youth Work Agenda durch einen integrierenden Ansatz auszeichnet, der alle an Youth Work beteiligten Akteur*innen einbezieht und ihnen ausreichend Informationen, Möglichkeiten, Raum und Ausstattung zur Ausgestaltung der Agenda zur Verfügung stellt. - Themenstrang 2 – Etablierung von Youth Work als wesentlicher Bestandteil von Jugendpolitiken:
Themenstrang 2 beschäftigt sich mit jugendpolitischen Fragestellungen. Es geht hier unter anderem darum, wie ein Angebot von Youth Work auf allen Ebenen – von der lokalen bis zur europäischen – etabliert werden kann und gute Rahmenbedingungen für Youth Work geschaffen werden können. Zudem setzt sich Themenstrang 2 mit der Frage auseinander, wie sichergestellt werden kann, dass Youth Work zu einem festen Bestandteil von Jugendpolitiken wird. Darüber hinaus geht es um den Schutz der Rechte junger Menschen und die Bereitstellung und Nutzung einer besseren wissenschaftlichen Datenlage über junge Menschen und ihre Interessen im Rahmen evidenzbasierter Jugendpolitik. - Themenstrang 3 – Sicherstellung und Ausbau des Youth Work Angebots:
Themenstrang 3 setzt sich mit der Frage auseinander, wie möglichst viele junge Menschen von einem qualitativ hochwertigen Youth-Work-Angebot erreicht werden können. Dies bezieht sich auf die Rahmenbedingungen von Youth Work, wie z. B. Finanzierung und Personalausstattung. Außerdem geht es um die Frage, wie Youth Work von der Kooperation mit anderen Akteur*innen z. B. aus dem Sozial-, Gesundheits-, Bildungs, Kultur- oder Sportbereich profitieren könnte und andersherum. - Themenstrang 4 – Stärkung eines gemeinsamen Grundverständnisses von Youth Work durch eine intensivierte Zusammenarbeit aller an Youth Work beteiligten Akteur*innen und darüber hinaus:
Themenstrang 4 gilt der Frage, wie die Zusammenarbeit bzw. die Vernetzung im Bereich Youth Work systematisch unterstützt und befördert werden kann. Wo können Kooperationen geschaffen oder im Sinne des Wissenstransfers gute Methoden, Ideen und Konzepte innerhalb der Youth-Work-Landschaft und darüber hinaus ausgetauscht werden? Können bspw. Konzepte der Jugendsozialarbeit auch in der verbandlichen Jugendarbeit Anwendung finden? - Themenstrang 5 – Weiterentwicklung der Qualität von Youth Work:
Themenstrang 5 adressiert die Weiterentwicklung von qualitativ hochwertiger Youth Work. Wie können Aus-, Fort- und Weiterbildung von Youth Worker*innen im Haupt- und Ehrenamt gelingen? Welche finanziellen und organisatorischen Ressourcen, Gesetze, Unterstützungssysteme, Leitlinien etc. werden zur Weiterentwicklung und Förderung von Youth Work benötigt? Wie kann sich Youth Work stärker als ein sichtbares und anerkanntes Praxisfeld entwickeln und darstellen? Hierbei geht es erneut um den Austausch von guten Konzepten und Ansätzen in diesem Bereich.
Zudem geht es um eine Stärkung und europaweite Vernetzung von Forschung und Wissenschaft zu Youth Work. - Themenstrang 6 – Unterstützung von Innovation in der Praxis von Youth Work und Bewältigung aktueller Herausforderungen:
Themenstrang 6 geht der Frage nach, wie einerseits die Krisenfähigkeit und andererseits die Innovationsfähigkeit von Youth Work gesteigert werden kann. Können bspw. Trendforschung und Krisenanalyse eine Unterstützung sein? Wie können im vollgepackten Alltag von Youth Worker*innen Kapazitäten geschaffen werden, um sich mit aktuellen Trends, Herausforderungen und Innovationen auseinanderzusetzen und sich entsprechend fortzubilden? Wie können die dafür benötigten zeitlichen und finanziellen Ressourcen bereitgestellt werden? Wie kann Youth Work einen Beitrag zu den gegenwärtigen Transformationsprozessen (Digitalisierung, Nachhaltigkeit etc.) leisten? - Themenstrang 7 – Verbesserung der Sichtbarkeit und Anerkennung von Youth Work:
Im Themenstrang 7 stehen Möglichkeiten zur Steigerung von Sichtbarkeit und Anerkennung von Youth Work im Zentrum. Ein Teilaspekt davon ist z. B. die Fragestellung, wie die durch Youth Work erworbenen Qualifikationen und Teilqualifikationen von Ehrenamtlichen entsprechende Anerkennung finden können. Vorrangig geht es um Mittel und Wege, um Youth Work und seine positiven Effekte in den Kontexten von Politik und Gesellschaft sichtbarer zu machen und Dritten den Wert dieser ehren- und hauptamtlichen Arbeit zu verdeutlichen. - Themenstrang 8 – Gewährleistung einer starken Rolle für Youth Work angesichts aktueller und künftiger Herausforderungen:
Themenstrang 8 beleuchtet, wie sich Youth Work angesichts multipler Krisen weiterentwickeln kann bzw. mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen auch weiterentwickeln muss. Wie können junge Menschen auch und insbesondere in Krisensituationen adäquat unterstützt werden und wie kann es gelingen, dass Politik und Verwaltung die Anliegen junger Menschen noch stärker als bisher berücksichtigen? In diesem Kontext geht es u. a. um digitalen bzw. hybriden Youth Work und die notwendigen Rahmenbedingungen hierfür.
Im Kontext von wachsender Jugendarmut, von Nachhaltigkeit und mentaler Gesundheit wird zudem die Frage aufgeworfen, welchen Beitrag Youth Work zur Vorbeugung von Krisen leisten kann, z. B. mit Blick auf demographische Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit. Gleichzeitig sind im Kontext der Resilienz zum Umgang mit kommenden Krisen immer eine ausreichende personelle und finanzielle Ausstattung des Arbeitsfeldes sowie die Qualität von Youth Work zentral.
Vor dem Hintergrund dieser breit angelegten Themen begreift die AGJ die European Youth Work Agenda als eine Chance für die infrastrukturelle Absicherung und konzeptionell-theoretische Weiterentwicklung von Youth Work in Deutschland und Europa. Sie kann Rückenwind bedeuten für alle bereits stattfindenden Aktivitäten in allen Teilbereichen von Youth Work, neue Impulse geben, die unternommenen Anstrengungen sichtbarer machen und damit Anerkennung fördern. Gleichzeitig kann sie aber auch Leerstellen aufzeigen, an denen nicht nur Engagement durch einzelne Initiativen gefragt, sondern eine Verbesserung der strukturellen Rahmenbedingungen nötig ist.
Doch in der Auseinandersetzung mit der European Youth Work Agenda und dem Bonn-Prozess ergeben sich auch immer wieder strukturelle und inhaltliche Fragen, deren Ungeklärtheit die Umsetzung der Agenda hemmen. Diese Aspekte werden im nächsten Kapitel näher beleuchtet.
3 Umsetzung der European Youth Work Agenda in Deutschland
Die AGJ formulierte bereits vor dem Start des Bonn-Prozesses im Jahr 2020 in ihrem Positionspapier „Die European Youth Work Agenda für qualitativ hochwertige Youth Work – in Europa und in Deutschland“[11] eine Reihe von Gelingensbedingungen für eine erfolgreiche Umsetzung der European Youth Work Agenda in Deutschland und Europa. Nun, mehr als zwei Jahre nach Start des Bonn-Prozesses, wird deutlich, dass das Potenzial der Agenda bisher nicht ausgeschöpft wird. Dieses Kapitel widmet sich den möglichen Gründen hierfür mit Blick auf die Umsetzung in Deutschland.
Im Folgenden werden zunächst grundlegende Aspekte zum Verständnis der European Youth Work Agenda thematisiert, hinsichtlich derer in Diskussionen häufig verschiedene Annahmen zutage treten und zu denen aus Sicht der AGJ eine Klärung nötig ist. Danach werden mögliche Gründe einer bislang unzureichenden Bekanntheit und Umsetzung der European Youth Work Agenda in Deutschland herausgearbeitet und daraus Empfehlungen abgeleitet.
3.1 Unklarheiten im Verständnis der European Youth Work Agenda
Überall in Europa sind junge Menschen mit demografisch ungerechten Mehrheitsverhältnissen konfrontiert, weil sie gegenüber den älteren Bevölkerungsgruppen deutlich in der Unterzahl sind. Gleichzeitig sehen sie sich enormen Unwägbarkeiten, Veränderungen und Herausforderungen gegenüber, etwa bezüglich der Themen Klimawandel, soziale Gerechtigkeit, digitaler Wandel, Krieg, Energiekrise und Corona-Pandemie. Diese Herausforderungen sind nicht ausschließlich in nationalen Kontexten zu bewältigen, sondern sind transnationaler Natur. Vor dem Hintergrund des grenzüberschreitenden Charakters der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen des Aufwachsens ist es richtig und wichtig, Gemeinsamkeiten zu unterstreichen und jungen Menschen auf europäischer Ebene durch die European Youth Work Agenda Gehör zu verschaffen – Youth Work in Deutschland wirkt in diesem Sinne europäisch. Derzeit wird die Chance der European Youth Work Agenda, das Arbeitsfeld Youth Work und auch die Interessenvertretung junger Menschen zu stärken, in Deutschland jedoch kaum wahrgenommen. Stattdessen ist die European Youth Work Agenda häufig nicht einmal bekannt und wird von Akteur*innen als unverständlich beschrieben.
Die AGJ versteht unter der European Youth Work Agenda die Abschlusserklärung der 3. European Youth Work Convention „Wegweiser für die Zukunft“. Den anschließenden Bonn-Prozess begreift sie entsprechend als solche Aktivitäten, Maßnahmen und Programme, die im Geiste dieses Dokumentes und den darin genannten Themensträngen (siehe Kapitel 2) als Beiträge zur Umsetzung und Weiterentwicklung der European Youth Work Agenda verstanden werden können. Die Abschlusserklärung ist zwar nicht offiziell von den Mitgliedstaaten der EU und des Europarates verabschiedet und entsprechend politisch legitimiert, dafür aber von der europäischen Praxis mitentwickelt. Sie entspricht damit dem Anspruch der Agenda und der AGJ, alle Akteur*innen miteinzubeziehen.[12]
Im Folgenden werden einige für die Umsetzung der European Youth Work Agenda relevante Aspekte, die in der (deutschen) Fachöffentlichkeit teils unterschieden verstanden und interpretiert werden, diskutiert.
3.1.1 Wieso im deutschen Diskurs den Begriff „Youth Work“ verwenden?
„Youth Work“ ist ein breiter Begriff, der nicht der wörtlichen deutschen Übersetzung „Jugendarbeit“ entspricht und deshalb leicht zu Irritationen führen kann. Stattdessen umfasst er alle außerunterrichtlichen bzw. nichtschulischen Aktivitäten von, mit und für junge(n) Menschen im weitesten Sinn. Dieser im Kontext der European Youth Work Agenda verwendete Begriff trifft in Deutschland auf ein ausdifferenziertes und rechtlich definiertes Arbeitsfeld. Gerade vor diesem Hintergrund erscheint es wichtig, die Potenziale einer neuen Terminologie, die sich im Kontext europaweiter Gegebenheiten formuliert, stärker in den Blick zu nehmen. Dies ermöglicht im besten Fall einen gemeinsamen Diskurs mit dem Ziel einer kohärenten Entwicklung von Jugendpolitik sowie der Vernetzung und des Voneinander-Lernens in Europa, ohne jedoch die nationalen Besonderheiten auflösen zu wollen. Die Verwendung des Begriffes „Youth Work“ zielt also durch die Anknüpfung an einen europäischen Diskurs mit besonderen Rahmenbedingungen auf mehr „Gewicht“ im Sinne einer Bereicherung des deutschen Diskurses und auf die Chance, das Arbeitsfeld Youth Work europaweit vor allem gemeinsam und gehaltvoll weiterzuentwickeln.
Um Klarheit über die Zielgruppe herzustellen und auf Kontextbedingungen zu verweisen, sollten deswegen die im europäischen Diskurs etablierten Begriffe wie „Youth Work“ und „Community of Practice“ (für alle an Youth Work beteiligten Akteur*innen auf allen Ebenen) auch im deutschen Diskurs über die European Youth Work Agenda Verwendung finden.
3.1.2 Welche Aktivitäten sind Teil des Umsetzungsprozesses?
Im deutschen Diskurs über die European Youth Work Agenda und den Bonn-Prozess finden sich verschiedene Interpretationen zur Frage, was zum Umsetzungsprozess der Agenda – also dem Bonn-Prozess – zählt: Sind nur Aktivitäten, die explizit im Rahmen des Bonn-Prozesses und damit im Zuge der Ausgestaltung und Umsetzung der Agenda geschehen, Teil des Umsetzungsprozesses oder ist implizit jede Maßnahme oder Aktivität, die inhaltlich mit den Themen der European Youth Work Agenda in Verbindung steht, die sich also etwa um die Weiterentwicklung und Sichtbarkeit von Youth Work bemüht, Teil des Bonn-Prozesses? Durch diese Unklarheit um die Reichweite des Begriffes „Bonn-Prozess“, also die zu ihm zählenden Aktivitäten, wird die dringend nötige inhaltliche Auseinandersetzung mit der European Youth Work Agenda unnötig erschwert.
3.1.3 Gestaltung des Umsetzungsprozesses: Top-down oder Bottom-up?
Die Entwicklung der European Youth Work Agenda geht, wie schon der Name sagt, auf einen Austausch auf europäischer Ebene im europäischen Arbeitsfeld der Kinder- und Jugend(sozial)arbeit zurück. Vor dem Hintergrund dieses Ursprunges auf europäischer Ebene kann fälschlicherweise der Eindruck eines Top-down-Prozesses entstehen. Dieser Eindruck stellt aus Sicht der AGJ ein Problem dar.
Auf der europäischen Ebene konnte Youth Work durch die European Youth Work Agenda auf die allgemeine politische Agenda gesetzt und zu einem politischen Handlungsfeld gemacht werden.[13] Zudem können die EU, der Europarat sowie die unter dem Begriff „Youth Partnership“ bekannte Zusammenarbeit von Europäischer Kommission und Europarat im Bereich Jugend Lücken im europäischen Youth-Work-Gefüge ausmachen und diese durch entsprechende Aktivitäten füllen. Für die Umsetzung in den Mitgliedstaaten von EU und Europarat ist eine Steuerung von der europäischer Ebene aus jedoch nicht das Ziel. Denn dies könnte den verschiedenen Bedürfnissen und Rahmenbedingungen für Youth Work in den verschiedenen Ländern nicht gerecht werden und deshalb nicht funktionieren.
Abgesehen von den diversen Ausgangs- und Bedürfnislagen in den europäischen Ländern muss auch der Realität ins Auge gesehen werden, dass das Arbeitsfeld Youth Work angesichts einer herausfordernden Finanzierungslage und eines Fachkräftemangels bei gleichzeitig stetig zu bewältigenden Herausforderungen unter großer Spannung steht. Exemplarisch sei die durch Youth Work geleistete Unterstützung junger Menschen im Kontext der Corona-Pandemie und des Krieges in der Ukraine genannt, die personelle und finanzielle Ressourcen bindet – nicht ausschließlich, aber insbesondere auf der kommunalen Ebene. Dadurch wird die Kapazität der Kinder- und Jugendhilfe auf kommunaler Ebene zur Auseinandersetzung mit neuen, zusätzlichen Initiativen stark eingeschränkt, obwohl es doch gerade auf diesen Ebenen vor Ort den Gestaltungsraum und -bedarf gäbe, um Youth Work zur unmittelbaren Unterstützung junger Menschen weiterzuentwickeln und zu stärken.
Vor diesem Hintergrund hängt der Erfolg der European Youth Work Agenda aus Sicht der AGJ maßgeblich davon ab, ob es gelingt, ihre Umsetzung im Sinne eines Bottom-up-Prozesses stärker individuell ausgehend von den Bedürfnissen und Interessen der Youth Worker*innen auf der kommunalen Ebene zu denken und sich an den aktuellen Themen des Arbeitsfeldes zu orientieren. Dasselbe gilt für die Interessen, Belange und Lebenslagen junger Menschen. Ohne die Berücksichtigung und Involvierung dieser beiden Zielgruppen bleibt die European Youth Work Agenda abstrakt, top-down und von der Lebensrealität von Youth Work im Alltag losgelöst.
3.2 Empfehlungen für die Umsetzung der European Youth Work Agenda in Deutschland
Die AGJ ist der Ansicht, dass einige Rahmenbedingungen für die Umsetzung der European Youth Work Agenda gemeinsam durch die Jugendministerien von Bund und Ländern gesetzt werden sollten. Doch grundsätzlich gilt, dass die Ausgestaltung des Umsetzungsprozesses der European Youth Work Agenda in der Verantwortung all derer liegt, die auf die ein oder andere Weise mit dem Arbeitsfeld Youth Work verbunden sind – Verantwortungs- und Entscheidungsträger*innen in Politik und Verwaltung genauso wie Vertreter*innen der Wissenschaft, Fachkräfte aus der Praxis und junge Menschen selbst.
Die grundsätzlichen Probleme erkennt die AGJ darin, dass der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland entweder die European Youth Work Agenda unbekannt oder unverständlich ist und/oder die Vorteile, die die Agenda für sie haben kann, nicht (ausreichend) klar sind. Den Gründen dafür wird im Folgenden nachgegangen; ebenso werden Empfehlungen formuliert, die sich daraus für die verschiedenen Akteur*innen ableiten.
3.2.1 Alle an Youth Work beteiligten Akteur*innen in Deutschland
Die Verantwortungsübernahme für die European Youth Work Agenda und den Umsetzungsprozess, wie sie in der Abschlusserklärung der 3. European Youth Work Convention vorgesehen ist, ist bisher in nur sehr begrenztem Umfang zu beobachten. In Deutschland ist im fachlichen Diskurs zwar ein starkes Bedürfnis nach der Weiterentwicklung von Jugend(sozial)arbeit zu spüren. Impulsgebend für diese Weiterentwicklung sind u. a. Debatten um die Klimakrise, um Digitalisierung, um Diversität und soziale Gerechtigkeit. Diese Debatten werden jedoch größtenteils geführt, ohne eine Verbindung zur European Youth Work Agenda und ihren Potenzialen herzustellen. In der Konsequenz fehlt es dem Umsetzungsprozess der Agenda an Dynamik. Dem ist dringend entgegenzuwirken, denn die Agenda zielt auf die Stärkung eines gesamtgesellschaftlich höchst relevanten Arbeitsfeldes ab, das schon vor der Corona-Pandemie, dem Krieg in der Ukraine und der Energiekrise unter großer Anspannung stand und das ein belastbareres Fundament dringend nötig hat.
Vor diesem Hintergrund plädiert die AGJ an alle Akteur*innen auf allen Ebenen, die in den verschiedensten Rollen an Youth Work beteiligt sind, die Umsetzung der European Youth Work Agenda als gemeinsame Aufgabe zu begreifen, zu deren Gelingen alle ihren Teil beitragen können. Davon sollten sich Entscheidungsträger*innen in der Politik und Verwaltung genauso angesprochen fühlen wie Fachkräfte der Kinder- und Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit, Projektträger, Trainer*innen, Wissenschaftler*innen, lokale Gemeinschaften und Kommunalverwaltungen, Institutionen und Organisationen der Kinder- und Jugend(sozial)arbeit sowie Jugendverbände, Jugendorganisationen und junge Menschen selbst. Die Breite und Vielfalt der Themen, die laut der Abschlusserklärung Teil der European Youth Work Agenda sind, stellen dabei eine Chance dar, da potenziell sehr verschiedene Maßnahmen und Aktivitäten möglich sind. Die Agenda kann so als Rückenwind für Themen, Bedürfnisse und Interessen deutscher Akteur*innen dienen, diese sowohl in Europa als auch in Deutschland zu diskutieren und entsprechende Handlungsstrategien zu entwickeln bzw. zu stärken.
Die AGJ empfiehlt entsprechend:
- Alle an Youth Work beteiligten Akteur*innen sollten gemeinsam den begrifflichen Umfang des als Bonn-Prozess bekannten Umsetzungsprozesses der European Youth Work Agenda aushandeln (siehe Kapitel 3.1.2). Dies trüge nach Ansicht der AGJ dazu bei, sowohl ein besseres Verständnis der European Youth Work Agenda als auch ihre Umsetzung zu fördern.
- Alle an Youth Work beteiligten Akteur*innen sollten gemeinsam Verantwortung übernehmen für die Umsetzung der European Youth Work Agenda. Diese Verantwortungsübernahme sollte auf dem Verständnis fußen, dass der Umsetzungsprozess von dialogischer Aushandlung, von Austausch und Wissenstransfer geprägt sein und entsprechend Bedarfe von allen Ebenen aufnehmen sollte. Die Agenda bietet angesichts der Themenfülle einen Rahmen, in dem alle Akteur*innen mit ihrer Expertise, ihren Themen, Bedarfen und Herausforderungen Platz finden.
3.2.2 Die Umsetzung unterstützende Gremien
Die Umsetzung der European Youth Work Agenda wird durch viele Akteur*innen und einige strategische Gremien sowohl auf europäischer Ebene als auch in den Mitgliedstaaten der EU und des Europarates unterstützt. In Deutschland spielt in diesem Kontext JUGEND für Europa (JfE) – die Nationale Agentur für die EU-Jugendprogramme Erasmus+ Jugend und Europäisches Solidaritätskorps (ESK) – eine Rolle in der Verwaltung finanzieller Mittel aus den EU-Jugendförderprogrammen. Des Weiteren ist insbesondere die – bereits erwähnte – „Transferstelle zur Ausgestaltung der European Youth Work Agenda in Deutschland“ beim Forschungsverbund DJI/TU Dortmund von Bedeutung. Sie ist in Deutschland die einzige offiziell benannte Unterstützungsstruktur und spielt damit eine große Rolle im Umsetzungsprozess.
Grundsätzlich begrüßt die AGJ die Einrichtung der zur Unterstützung der Umsetzung der European Youth Work Agenda wirkenden Gremien. Allerdings zeigt sich, dass die verschiedenen Anlaufstellen Verwirrung stiften und die Zuständigkeiten, das Zusammenspiel und die damit einhergehende Verzahnung häufig unklar ist. Dies gilt insbesondere für Personen, die sich informieren wollen, aber noch kein tiefgehendes Verständnis der European Youth Work Agenda, ihrer Inhalte, Strukturen und Prozesse mitbringen. Aus Sicht der AGJ wäre eine deutliche Kommunikation zum Angebot und der Arbeitsteilung daher hilfreich. Hinsichtlich der Transferstelle wäre es wünschenswert, dass sie Entwicklungen auf den verschiedenen Ebenen in Deutschland sichtbar macht, Menschen vernetzt und den Austausch untereinander anregt.
Die AGJ empfiehlt entsprechend:
- Die die Umsetzung unterstützenden Gremien sollten ihre Aufgaben, ihre Zusammenarbeit sowie die Grenzen ihres Mandates gegenüber den jeweiligen Zielgruppen klar kommunizieren.
- Die die Umsetzung unterstützenden Gremien sollten den Transfer von Wissen und Themen sowohl bottom-up als auch top-down befördern. Die Ausgestaltung des Umsetzungsprozesses sollte sich an den Themen, Herausforderungen und Bedürfnissen von sowohl jungen Menschen selbst als auch Youth Worker*innen insbesondere auf der kommunalen Ebene orientieren.
3.2.3 Bundesjugendministerium und Jugendministerien der Länder
Einer der Gründe für eine bislang unzureichende Bekanntmachung und Umsetzung der European Youth Work Agenda ist nach Ansicht der AGJ die Kommunikation. Weder wurden Begrifflichkeiten konsequent genutzt (siehe Kapitel 3.1.1) und der Umfang des Umsetzungsprozesses klar definiert (siehe Kapitel 3.1.2) noch wurde das Prinzip eines Bottom-up-Prozesses, der die European Youth Work Agenda aus Sicht der AGJ sein kann und muss, ausreichend vermittelt oder gar umgesetzt (siehe Kapitel 3.1.3).
Ferner fällt auf, dass der Umsetzungsprozess der European Youth Work Agenda in Deutschland bzw. insgesamt das Thema Youth Work nicht in politische Strategien eingebettet ist. Im Zentrum der Weiterentwicklung der Jugendstrategie der Bundesregierung in Deutschland beispielsweise steht aktuell das Thema Beteiligung junger Menschen durch einen entsprechenden Nationalen Aktionsplan. Die Ausweitung der Jugendstrategie – oder die Jugendstrategien der Länder – auf andere Bereiche wie etwa Youth Work findet dagegen zurzeit nicht statt. Es ließe sich argumentieren, dass breiter angelegte Jugendstrategien, die die Umsetzung der European Youth Work Agenda miteinbeziehen oder mindestens Schwerpunktthemen für die Weiterentwicklung von Youth Work festlegen, zu einem Sichtbarkeits- und Umsetzungsschub der Agenda beitragen würden.
Als Konsequenz dieser beiden Aspekte – fehlende oder unzureichende Kommunikation sowie fehlende Einbettung der European Youth Work Agenda in politische Strategien – konnten gerade die für die Weiterentwicklung und Stärkung so wichtigen Youth-Work-Akteur*innen auf kommunaler Ebene kaum erreicht werden. Der Umsetzungsprozess der European Youth Work Agenda ist daher bisher hauptsächlich ein Prozess auf Bundesebene, obwohl er gerade kein Top-down-Prozess sein will, sondern – wie bereits herausgearbeitet – ein Aufgreifen und Identifizieren der Kontexte, Akteur*innen und Strukturen erfordert, die ihn vor Ort leben und gestalten.
Die Möglichkeit, dies zu ändern, fällt den rahmensetzenden Akteur*innen zu, in Deutschland also insbesondere dem BMFSFJ und den für das Thema Youth Work zuständigen Ministerien der Bundesländer. Denn während die inhaltliche Ausgestaltung in den Händen aller Akteur*innen im Bereich Youth Work liegt, sind es insbesondere die Jugendministerien in den Mitgliedstaaten, die den strategischen Rahmen setzen und einen deutlichen Umsetzungsimpuls geben müssen, da es dazu ausreichend (personeller und finanzieller) Ressourcen sowie politischen Willens bedarf.[14] Um dieser Rahmensetzung nachkommen zu können, bedarf es viel Kommunikation, Vernetzung und letztlich Einigkeit sowie eines koordinierten Vorgehens der beteiligten Akteur*innen – eine durchaus herausfordernde Aufgabe angesichts der geteilten Verantwortungen und Zuständigkeiten im deutschen föderalen System.
Die AGJ empfiehlt entsprechend:
- Das BMFSFJ und die zuständigen Länderministerien sollten querschnittliche Verantwortung übernehmen: Die European Youth Work Agenda adressiert alle politischen Ebenen und betrifft ressortübergreifend sehr unterschiedlichen Themen.
- Das BMFSFJ und die zuständigen Länderministerien sollten deutlich machen, was der spezifische Beitrag der European Youth Work Agenda zur Weiterentwicklung von Youth Work in Deutschland gegenüber den bisherigen Bemühungen zur Stärkung, Anerkennung und Sichtbarmachung des Arbeitsfeldes ist.
- Das BMFSFJ und die zuständigen Länderministerien sollten die Einbettung der European Youth Work Agenda in eine politische Strategie – etwa in die Jugendstrategien der Bundesregierung und der Länder – bzw. die Nutzung dieser Strategien für die Weiterentwicklung von Youth Work erwägen.
4 Fazit
Die AGJ versteht das vorliegende Diskussionspapier vor allem als Möglichkeit, die European Youth Work Agenda einer breiten Fachöffentlichkeit in Deutschland bekannter und auf die damit verbundene Chance für die deutsche Kinder- und Jugendhilfe aufmerksam zu machen. Klimawandel, Fragen der sozialen Gerechtigkeit, Frieden, Digitalisierung und vieles mehr sind transnationale Themen, die junge Menschen überall in Europa und weltweit bewegen (vgl. die European Youth Goals15). Um junge Menschen in diesen Themen angemessen zu unterstützen und ihre Stimme hörbar zu machen, ist es sinnvoll, ihre Belange in eine breitere Bewegung einzuordnen, die sich für mehr qualitativ hochwertige und gesellschaftlich anerkannte Youth Work einsetzt. Dies bedeutet durch Sichtbarmachung, Vernetzung und den Austausch von Erfahrungen und bewährten Praktiken europaweit Rückenwind für ein Arbeitsfeld, das unter Druck steht, und dessen Relevanz in Zeiten von Krisen stetig weiter zunimmt.
Allen Akteur*innen, die in den unterschiedlichsten Funktionen und Handlungsfeldern an Youth Work beteiligt sind, kommen in der Umsetzung der European Youth Work Agenda unterschiedliche Rollen zu, in denen sie ihren jeweils eigenen Beitrag zum Erfolg der Agenda leisten können. Wenn sich alle angesprochen fühlen und zur Umsetzung beitragen, kann es der European Youth Work Agenda gelingen, im Kleinen auf die wertvolle Vielfältigkeit von Youth Work in den Ländern Europas aufmerksam zu machen und so im Großen eine europaweite Weiterentwicklung und Stärkung des Arbeitsfeldes herbeizuführen. Diese Chance sollte nicht verpasst werden.
Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 02. März 2023
Fußnoten
[1] Ansprechperson für dieses Diskussionspapier in der AGJ ist die zuständige Referentin des Arbeitsfeldes II „Kinder- und Jugend(hilfe)politik in Europa“: Hanna Schlegel (hanna.schlegel@agj.de).
[2] Die European Youth Work Conventions sind eine zentrale Plattform für das europäische Arbeitsfeld Youth Work, um neueste Entwicklungen in der Jugend(sozial)arbeitspraxis und Jugendpolitik in Europa zu diskutieren. Alle fünf Jahre findet eine Convention statt. Die 3. European Youth Work Convention wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ausgerichtet, da sie im Dezember 2020 zu einem Zeitpunkt stattfand, als Deutschland sowohl die EU-Ratspräsidentschaft als auch de8n Vorsitz im Ministerkomitee des Europarates innehatte.
[3) Vgl. dazu das Diskussionspapier der AGJ „Die europäischen Dimensionen in der Kinder- und Jugendhilfe – Relevanz und Potential europäischer Politik für die Kinder- und Jugendhilfe“ (2015).
[4] Council of Europe: Recommendation CM/Rec(2017)4 of the Committee of Ministers to member States on youth work and explanatory memorandum (2017).
[5 Rat der Europäischen Union: „Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zu dem Rahmen für die Festlegung einer Europäischen Jugendarbeitsagenda“ (2020).
[6] JUGEND für Europa, Bundesministerium für Frauen, Senioren, Familie und Jugend: „Wegweiser für die Zukunft: Die Abschlusserklärung der 3. European Youth Work Convention“ (2020).
[7] Im europäischen Diskurs wird diese Gruppe der an Youth Work beteiligten Akteur*innen als „Community of Practice“ (CoP) bezeichnet. Siehe: Rat der Europäischen Union: „Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zu dem Rahmen für die Festlegung einer Europäischen Jugendarbeitsagenda“ (2020), 7, Anlage 2.
[8] European Service Center for the Bonn Process - Bonn Process (bonn-process.net).
[9] Startseite - Transferstelle EYWA (transferstelle-eywa.de).
[10] JUGEND für Europa, Bundesministerium für Frauen, Senioren, Familie und Jugend: „Ausbau von Youth Work in ganz Europa: Impulspapier für die Realisierung der Europäischen Jugendarbeitsagenda“ (2020).
[11] Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ: „Die European Youth Work Agenda für qualitativ hochwertige Youth Work – in Europa und in Deutschland“ (2020).
[12] Sowohl der Europarat als auch die EU haben eigene politische Dokumente verabschiedet, die für die jeweiligen Institutionen als Referenzdokumente für die European Youth Work Agenda dienen und das politische Bekenntnis zu Youth Work bestätigen. Dies sind einerseits die „Empfehlung CM/Rec (2017)4 des Ministerkomitees des Europarates an die Mitgliedstaaten zur Jugendarbeit“ aus dem Jahr 2017 und die „Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zu dem Rahmen für die Festlegung einer Europäischen Jugendarbeitsagenda“ der EU aus 2020. Die Inhalte beider Dokumente sind als politische Referenz-dokumente in die Abschlusserklärung der 3. European Youth Work Convention eingeflossen.
[13] So finden sich im Arbeitsplan 2023 für Erasmus+ erstmals Referenzen zur European Youth Work Agenda, wodurch sämtliche Aktivitäten im Bereich Youth Work in der Programmumsetzung gestärkt werden. Ferner bildet Youth Work einen querschnittlichen Arbeitsbereich in der Jugendbereich-Strategie 2030 des Europarates.
[14] Entsprechend zeigen die Ergebnisse einer Studie im Auftrag des Youth Partnership zum Umsetzungsstand der European Youth Work Agenda in 2022, dass 13 der insgesamt 17 genannten regionalen oder nationalen Prozesse durch das jeweilige regionale oder nationale Jugendministerium oder eine Regierungsstelle initiiert wurden. Siehe: Hofmann-van de Poll, Frederike/Kovacic, Marko: „One year into the Bonn Process – a preliminary analysis“ (2023).
[15] Youth Goals - Youth Goals (youth-goals.eu).