Kinder- und jugendpolitisches Leitpapier zum 18. DJHT

 

Leitpapier als PDF

Weil es ums Ganze geht

Mit dem Motto zum 18. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag (DJHT) „Weil es ums Ganze geht – Demokratie durch Teilhabe verwirklichen!“ betont die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ die Bedeutung der Demokratie für die Kinder- und Jugendhilfe und ihre Adressat*innen. Demokratie als Lebens- und Gesellschaftsform ist für die AGJ und ihre Partner*innen nicht verhandelbar und notwendige Voraussetzung für die eigene Arbeit. Wir – die Vielfalt der Träger und der in der Kinder- und Jugendhilfe Tätigen – setzen uns gemeinsam dafür ein, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung gegen demokratiefeindliche Kräfte zu verteidigen und treten für Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und Vielfalt ein. Mehr als jedes andere politische System lebt Demokratie von Teilhabe, Beteiligung und Meinungsfreiheit. Über unterschiedliche Positionen und Konflikte lässt sich am besten respektvoll diskutieren.

Freiheit, Gleichheit und Solidarität sind zentrale Werte unserer demokratischen Gesellschaft. Sie sind jedoch gefährdet, u. a. durch das Erstarken (rechts)extremer und (rechts)populistischer Parteien und Strömungen. In den zahlreichen Krisen der letzten Jahre wurden außerdem viele Selbstverständlichkeiten infrage gestellt und gesellschaftliche Konflikte sowie soziale Ungleichheiten verstärkt. Dabei gehen diese Krisen auch an den Fachkräften in der Kinder- und Jugendhilfe nicht spurlos vorbei, was den Fachkräftemangel vielerorts noch verschärft.

Wir als Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ setzen unsere ganze Kraft daran, allen jungen Menschen und ihren Familien unabhängig von sozialer Klasse, Behinderung, natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit, Geschlecht, sexueller Orientierung oder auch Weltanschauung/Religion, Teilhabe zu ermöglichen und somit Teil einer demokratischen Gesellschaft zu sein. Die Kinder- und Jugendhilfe ist ein Demokratiemotor, wenn sie junge Menschen zur Teilhabe befähigt, Vielfalt fördert und zum Abbau sozialer Ungleichheiten beiträgt. 

Gesetzlich verankerte Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe ist es, die rund 22 Millionen Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in unserem Land so zu fördern, dass sie sich zu selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten entwickeln können. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, muss die Kinder- und Jugendhilfe auf die beste Ausgestaltung von Demokratie hinwirken und Versuchen ihrer Einschränkung oder gar Abschaffung entschieden entgegentreten. Wo die Träger der Kinder- und Jugendhilfe Demokratie stärken, profitiert die Gesellschaft als Ganzes.

Mit ihrem Motto zum 18. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag setzt die AGJ ein klares Zeichen für Demokratie und stellt die Wichtigkeit der Teilhabe und Beteiligung junger Menschen heraus. Dieses Papier soll dazu den jugendpolitischen Diskurs intensivieren, den kritischen Austausch zwischen Politik, Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe befördern und gemeinsam mit jungen Menschen Impulse für eine zukunftsfähige Kinder- und Jugendhilfe setzen.

Vielfalt ist Freiheit und mit Vielfalt wird Angst gemacht – Diversität ermöglichen

Freiheit als gelebte Vielfalt ist nur in einer demokratisch verfassten Gesellschaft möglich. In einer inklusiven und vielfältigen Gesellschaft haben Menschen die Möglichkeit, gleichberechtigt und unabhängig von Diversitätsmerkmalen teil-zuhaben. Gleichzeitig verunsichert gelebte Vielfalt einen Teil der Bevölkerung.

Vielfalt bedeutet die Anerkennung von Unterschieden und damit verbunden die freie Entfaltung aller. Dies setzt voraus, dass man Adressat*innengruppen identifiziert und Angebote inklusiv ausgestaltet. Die Kinder- und Jugendhilfe hat Kompetenzen in der Beteiligung unterschiedlicher Zielgruppen. Inklusion und Vielfalt sind für viele Träger Leitbegriffe. Die Kinder- und Jugendhilfe steht aber auch vor der Herausforderung, diesem Anspruch gerecht zu werden und die Anerkennung von Vielfalt und die Umsetzung von Inklusion in ihren Strukturen sowie in der täglichen pädagogischen Arbeit zu realisieren. Dazu schafft sie Räume, in denen verschiedene Gruppen miteinander interagieren und unterschiedliche Positionen aushandeln. So werden (Lern-)Prozesse angestoßen, die dann gesamtgesellschaftlich verankert werden können. Das inklusive Sozialgesetzbuch VIII (SGB VIII) wird dabei einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe leisten.

Um die Teilhabe und Beteiligung aller in der Kinder- und Jugendhilfe zu sichern und die verschiedenen Dimensionen von Vielfalt innerhalb der pluralistischen, demokratischen Gesellschaft zu fördern, braucht es Konzepte, verlässliche Standards, gut aufgestellte Strukturen, qualifiziertes Personal und eine demokratische Grundhaltung. Nur so kann die Kinder- und Jugendhilfe dazu beitragen, Vielfalt und Inklusion zu einer gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit werden zu lassen.

„Wir und die“?! – Menschen- und demokratiefeindlichen Einstellungen entgegentreten 

Die demokratische Gesellschaft in Deutschland steht aktuell unter Druck; besonders in Krisenzeiten können antidemokratische Einstellungen bis in die Mitte der Gesellschaft vordringen. Das verschärft sich dort, wo sich nur wenige engagieren, sich viele nicht gehört, nicht vertreten, nicht beteiligt fühlen oder sich von Falschinformationen täuschen lassen. Es werden Schuldige gesucht und um diese benennen zu können, werden Ungleichheiten herangezogen, wie beispielsweise soziale Klasse, Behinderung, natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit, Geschlecht, sexuelle Orientierung oder auch Weltanschauung/Religion. 

Die in der Kinder- und Jugendhilfe Tätigen werden zunehmend mit demokratiefeindlichen Einstellungen und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit – repräsentiert durch Teile ihrer Adressat*innen, ihrer Kolleg*innen und durch politische Akteure – konfrontiert und teilweise sogar bedroht. Dabei werden sie in ihrer professionellen Beziehungsarbeit und Haltung herausgefordert. Wie dennoch ein Diskurs auf Augenhöhe gelingen kann, ist immer wieder zu reflektieren. 

Es ist eine der Kernaufgaben der Kinder- und Jugendhilfe, junge Menschen zu politischem Handeln zu befähigen und gegenüber menschen- und demokratie-feindlichen Einstellungen eindeutig Stellung zu beziehen. Haupt- und ehrenamtlich Tätige müssen dafür kontinuierlich qualifiziert und gestärkt werden. Notwendig ist eine stärkere Verankerung politischer Bildung in den Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe. Darüber hinaus braucht es spezialisierte Angebote zivil-gesellschaftlicher Akteure zur Demokratieförderung, Antidiskriminierungsarbeit und Extremismusprävention.

Zwischen Willkommenskultur und Abschottung – Zuwanderung als Realität und Chance anerkennen

Fluchtmigration ist Ausdruck globaler Krisen. Anders als es Migrationsdebatten suggerieren, wandern nur wenige der weltweit Betroffenen nach Europa ein; die Freizügigkeit bei der Arbeitsplatzwahl und des Wohnsitzes innerhalb der Europäischen Union steht einer europäischen Abschottungspolitik nach außen gegenüber. 

Insbesondere im Jahr 2015 hat die Gesellschaft viel Engagement bei der Aufnahme geflüchteter Menschen gezeigt. Die Situation war und ist nach wie vor auch für die Kinder- und Jugendhilfe herausfordernd, aber die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden tragen entscheidend dazu bei, diese Situation konstruktiv zu bewältigen. In der Folge hat die Kinder- und Jugendhilfe weitere Kompetenzen aufgebaut. 

Vielfalt und Migration sind Gestaltungsaufgabe und Entwicklungschance für die Kinder- und Jugendhilfe. Wenn Migration abgelehnt und Migrant*innen Zielscheibe gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit werden, muss sich die Kinder- und Jugendhilfe einmischen. Sie muss selbst Hürden für den Zugang zu ihren Angeboten und Leistungen für junge Menschen und ihre Familien mit Migrations- und Fluchtgeschichte erkennen und abbauen. Unbegleitete minderjährige Geflüchtete und Familien mit Zuwanderungs- oder Fluchthintergrundgeschichte haben Anspruch auf die gleichen Standards und Zugänge zur Kinder- und Jugendhilfe wie alle anderen jungen Menschen.

Arm sein in einer reichen Gesellschaft – Armutsprävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Armut verhindert Teilhabe und gefährdet Demokratie. Steigende Kosten für Lebensmittel, Energie und Wohnen belasten viele Menschen und erzeugen auch bei Nicht-Betroffenen Ängste vor Armut und sozialer Ausgrenzung. Deutschland ist zwar insgesamt ein reiches Land, doch sind Vermögen sehr ungleich verteilt. So besitzen 50 Prozent der Bevölkerung gerade einmal 1,3 Prozent des deutschen Gesamtvermögens, wohingegen die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung über 67,3 Prozent des Vermögens besitzen.  

Die Kinder- und Jugendhilfe hat den gesetzlichen Auftrag, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen. Dabei muss sie sich kontinuierlich selbstkritisch hinter-fragen, um soziale Ungleichheiten in ihren Zugängen und der Ausstattung ihrer An-gebote nicht zu reproduzieren. Denn einerseits verstärken hochschwellige Zugänge die soziale Segregation; andererseits beeinträchtigen aber auch prekäre Räumlichkeiten von Jugendhilfeeinrichtungen das Selbstbild der Adressat*innen.

Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich sowie schwächer werdende soziale Netze verursachen Kosten. Trotz wachsender Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe reicht deshalb die bisherige Finanzierung ihrer Leistungen zur Bewältigung der Herausforderungen sozialer Ungleichheit und zusätzlicher Aufgaben nicht aus. 

Damit Benachteiligung abgebaut werden kann, brauchen die Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe eine präventive und strukturelle Armutsbekämpfung, die als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen wird, sowie eine gut ausgestattete Kindergrundsicherung zur Armutsprävention. Erst dann kann die Kinder- und Jugendhilfe der gesamten Bandbreite ihres gesetzlichen Auftrags gerecht werden und so zur Demokratieförderung beitragen. 

Einsamkeit entgegenwirken – Psychische Gesundheit stärken

Wenn soziale Beziehungen, wie beispielsweise in der Corona-Pandemie, nicht gelebt werden können, kann dies zu Einsamkeit führen, die die psychische Gesundheit junger Menschen beeinträchtigt. Fast die Hälfte der unter 27-Jährigen fühlt sich einsam, was auch demokratieferne Einstellungen fördern kann.

Die Kinder- und Jugendhilfe trägt durch niedrigschwellige Angebote und nicht-kommerzielle Räume, in denen Gemeinschaft und Selbstwirksamkeit erlebt werden können, dazu bei, Einsamkeit entgegenzuwirken. Sie fördert psychische Resilienz, unterstützt therapeutische Angebote und leistet einen Beitrag zum Aufbau langfristiger sozialer Beziehungen. 

Zur Umsetzung dieses Anspruchs sollten bestehende Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe dauerhaft gestärkt werden. Zudem ist eine engere Vernetzung mit dem Gesundheitssystem notwendig. Dadurch kann gesundes Aufwachsen junger Menschen besser gelingen und ihnen Beteiligung an der Demokratie ermöglicht werden.

Goldstaub am Arbeitsmarkt, aber politisch machtlos? Es braucht einen neuen Generationenvertrag

In Zeiten des Fachkräftemangels sind junge Menschen Goldstaub am Arbeitsmarkt; sie können ihre Vorstellungen von guter Arbeit häufig durchsetzen. Gleichzeitig schwindet ihr politischer Einfluss aufgrund der demografischen Entwicklung. Dies kann zu Konflikten zwischen den Generationen führen, etwa, wenn es um politische Entscheidungen zur Ressourcennutzung geht. Junge Menschen entwickeln eigene Formen des politischen Engagements, auch jenseits der klassischen Beteiligungsstrukturen. Trotz und gerade angesichts multipler Krisen haben sie eigene Ideen zur Gestaltung der Gesellschaft und Weiter-entwicklung der Demokratie. Viele wenden sich jedoch auch von politischen Instanzen, etwa Regierungen und demokratischen Parteien, ab. 

Mit Blick auf den Sozialstaat ist ein generationales Ungleichgewicht erkennbar, beispielsweise bei rentenpolitischen Entscheidungen oder fehlenden Investitionen in Bildung. Vor diesem Hintergrund muss der Diskurs über Generationen-gerechtigkeit und den gesellschaftlichen Generationenvertrag weiter voran-getrieben werden. Es ist an der Zeit, die Debatte über die strukturelle Verankerung und Absicherung der Anliegen und Rechte der jungen Generation nicht mehr auf die lange Bank zu schieben. 

Aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe kann die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz die Position von jungen Menschen stärken und ihre gesellschaftliche Mitgestaltung sichern. Des Weiteren bedarf es, wie bei der Europawahl, einer Absenkung des Wahlalters auf allen politischen Ebenen auf 16 Jahre. Die Kinder- und Jugendhilfe steht an der Seite der jungen Menschen und setzt sich gemeinsam mit ihnen dafür ein, dass ihre Stimmen und Interessen in politischen Entscheidungsprozessen angemessen berücksichtigt werden. Es geht darum, Jungsein in einer alternden Gesellschaft zu ermöglichen.

Heiße Temperaturen, kühle Köpfe – Klimaneutralität umsetzen

Internationale und europäische Klimaziele sind einzuhalten. Insbesondere von jungen Menschen getragene Protestbewegungen wie „Fridays for Future“ fordern dringend dazu auf, zu handeln. Die Nichteinhaltung von Klimazielen und die Leugnung deutlich spürbarer Folgen des Klimawandels führen zu Frustration und Wut in der Gesellschaft. In einer wichtigen Entscheidung zum Klimaschutzgesetz aus dem Jahr 2021 betont das Bundesverfassungsgericht die Verantwortung des Staates, die natürlichen Lebensgrundlagen auch für junge Menschen zu schützen, sodass die Grundrechte wie Freiheit und Unversehrtheit ebenso für nachfolgende Generationen gelten können.

Die Kinder- und Jugendhilfe fördert die ökologischen Kinderrechte und schafft Bewusstsein für Klimaverantwortung in den Einrichtungen. Im Sinne der Generationengerechtigkeit ist sie aufgerufen, Kinder und Jugendliche zu stärken und ihnen eine Basis für eine wirkliche Beteiligung an einer Klimapolitik zu ermöglichen, die ihre Zukunft sichert.

Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe sollten dabei als Anwält*innen der jungen Menschen wirken und die Klimakrise und deren Folgen für nachwachsende Generationen immer wieder in den Fokus rücken. Mit gezielten Programmen und Angeboten sowie durch eine nachhaltige Ausrichtung der Einrichtungen selbst (Infrastruktur und Handlungsweisen jenseits des pädagogischen Konzepts) können Kindern und Jugendlichen ökologische Werte vermittelt werden und die Kinder- und Jugendhilfe selbst klimagerecht werden. 

Zwischen Chancen und Risiken – Digitale Lebenswelten begleiten

Digitale Medien bieten jungen Menschen neue Entfaltungs- und Partizipations-möglichkeiten und die Chance einer stärkeren demokratischen Teilhabe. Kinder und Jugendliche unterscheiden kaum zwischen analogen und digitalen Räumen; ihre Lebenswelten sind hybrid. Klassische journalistische Medien haben an Bedeutung verloren und wurden vor allem bei der jüngeren Generation durch soziale Medien ersetzt. Dies birgt auch Risiken: Algorithmen steuern das Nutzungsverhalten, sammeln und verwenden persönliche Daten, manche streuen Fake-News und verbreiten Hate Speech – informierte und selbstbestimmte Meinungsbildung setzt Medienbildung voraus.

Die Kinder- und Jugendhilfe muss alle digitalen Entwicklungen im Sinne ihrer Adressat*innen mitgestalten. Trotz Digitalisierung vieler Angebote während der Coronapandemie fehlen den Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe aber oft der Bezug zu den digitalen Lebenswelten junger Menschen und die notwendigen Ressourcen, um die entsprechenden Entwicklungen nachzuvollziehen. Um die Digitalisierung der Jugendhilfestrukturen voranzutreiben, braucht es deswegen für die gesamte Kinder- und Jugendhilfe eine gemeinsame Digitalstrategie von Bund, Ländern und Kommunen. Dabei müssen die Rechte junger Menschen im Mittelpunkt stehen und ihre Beteiligung gesichert werden. Notwendig ist darüber hinaus auch die angemessene Ausstattung der Träger mit Hard- und Software sowie die entsprechende Qualifizierung der Fachkräfte. 

Gleichzeitig gibt es Herausforderungen beim Daten- sowie Kinder- und Jugendschutz. Diese können nicht individuell und auch nicht allein durch medienpädagogische Angebote gelöst werden. Es braucht hierfür weitere transnationale regulatorische Lösungen und den politischen Willen, diese auch durchzusetzen. 

Nicht nur gefühlt ungleich vereint – Kinder- und Jugendhilfe gemeinsam auf Augenhöhe gestalten

Deutschland ist von ungleichen Erfahrungen in Ost und West geprägt. Während für die Menschen in den westlichen Bundesländern nach 1989/90 im Zuge des Transformationsprozesses bestehende Erfahrungen nicht in Frage gestellt wurden, erlebten viele in den östlichen Bundesländern nach der Freude über die erkämpfte Freiheit eine Entwertung ihrer eigenen Leistungen, zum Teil auch ihrer Person. Dies führte bei nicht wenigen zu doppelter Desillusionierung: Enttäuschung über den Verlust des Alten und die Nichterfüllung der Erwartungen an das Neue. Diese Erfahrungen wirken in die junge Generation hinein. Dem Wunsch nach Demokratie stand und steht für manche der Eindruck der Fremdbestimmung in der Demokratie gegenüber. Oft wird übersehen, was unter diesen herausfordernden Bedingungen bereits erreicht wurde.

Auch die Kinder- und Jugendhilfe durchlief einen radikalen Transformations-prozess. Ein unter den Bedingungen der „Kinder- und Jugendhilfe West“ erarbeitetes Kinder- und Jugendhilfegesetz wurde im Osten von heute auf morgen gültig, ohne ausreichende Beteiligung von Fachkräften und Bürger*innen. Der Aufbau neuer Strukturen fiel dabei mit einem radikalen gesellschaftlichen Strukturwandel/-abbau zusammen. 

Die Kinder- und Jugendhilfe kann nur als Ganzes gemeinsam verantwortet und demokratisch gestaltet werden – mit wechselseitiger Anerkennung und Wertschätzung. Es ist wichtig, die spezifischen regionalen Gegebenheiten in Ost- und Westdeutschland zu erforschen und den Transformationsprozess aufzu-arbeiten, um diese Erkenntnisse in die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe einfließen lassen zu können. Die regional durchaus unterschiedlichen Herausforderungen in der Kinder- und Jugendhilfe lassen sich insgesamt nur bewältigen, wenn aus den Fehlern des Einigungsprozesses gelernt und an die positiven Erfahrungen und den gemeinsamen Gestaltungswillen angeknüpft wird.

Demokratie und Vielfalt – mehr Europa in der Kinder- und Jugendhilfe

Europa bietet Chancen zur gemeinsamen Bewältigung vielfältiger Krisen. Für viele Menschen in Deutschland ist Europa jedoch weit weg von der eigenen Lebensrealität und die EU wird von manchen als bevormundend und bürokratisch empfunden. 

Europäische Förderprogramme im Jugendbereich leisten einen besonderen Beitrag zum Kennen- und Schätzenlernen von Europa. Für Bildungsangebote, die Europa erfahrbar machen, fehlen in der Kinder- und Jugendarbeit aber oft die Ressourcen. Insbesondere benachteiligte Menschen haben häufig keinen Zugang zu europäischen Angeboten. 

Europäischer Austausch soll zu einer stärkeren Selbstverständlichkeit in der Kinder- und Jugendhilfe werden. Dafür muss der Zugang zu europäischen Angeboten allen jungen Menschen und Fachkräften ermöglicht und infrastrukturell mit entsprechenden Ressourcen abgesichert werden. Dadurch erhalten sie zusätzliche Chancen, das Arbeitsfeld kann sich weiterentwickeln und es wird ein Beitrag geleistet zu Demokratie und Vielfalt in Europa. 

Investition, nicht Subvention – Bedarfsgerechte Ausstattung der Kinder- und Jugendhilfe sichert die Zukunft der Gesellschaft

Für das Jahr 2022 wurden für die Kinder- und Jugendhilfe Ausgaben in Höhe von 65,8 Mrd. Euro ausgewiesen (davon: 45,3 Mrd. Euro für die Kindertages-betreuung; 14,9 Mrd. Euro für die Hilfen zur Erziehung; 3,1 Mrd. Euro für die Kinder- und Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit; 2,5 Mrd. Euro für sonstige Aufgaben). Das ist viel, macht aber pro Tag nur acht Euro pro jungem Menschen für sämtliche Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, inklusive der Bezahlung der dort Beschäftigten, aus. Dennoch taucht immer häufiger die Frage auf, ob wir uns in Zukunft eine Kinder- und Jugendhilfe, wie sie heute existiert, leisten können und wollen.

Eine solche Frage impliziert eine veraltete Vorstellung von Kinder- und Jugendhilfe als Subvention in bedürftige junge Menschen und ihre Familie. Doch darin erschöpft sich ihr Beitrag zum Wohlstand des Landes nicht. Durch ihre Leistungen trägt die Kinder- und Jugendhilfe zur Bildung und Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen bei, die wiederum perspektivisch als Fachkräfte unverzichtbar sind. Die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe schaffen außerdem Voraussetzungen zur Teilhabe am Arbeitsmarkt durch die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit. Die Kinder- und Jugendhilfe ist mit rund 1.175.000 Beschäftigten eine wichtige Branche des Arbeitsmarktes und auch ein wichtiger Standortfaktor. Sie ist eine der Voraussetzungen für die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft.

Bedarfsgerechte Investitionen in die Kinder- und Jugendhilfe sowie in andere Bereiche, die sich um Belange junger Menschen kümmern, sind Investitionen in die Zukunft der Gesellschaft. Eine Gesellschaft kann auf Dauer nur mit bestmöglicher Förderung der nachwachsenden Generationen demokratisch gestaltet werden. Dies muss politisch oberste Priorität haben. 

Demokratie durch Teilhabe verwirklichen!

Die Kinder- und Jugendhilfe ist eine entscheidende Akteurin, um die Rechte aller jungen Menschen in unserem Land auf ein gutes Aufwachsen und gleiche Chancen durchzusetzen. Sie fungiert dabei als Anwältin von Kindern und Jugendlichen. Ihre Werte basieren auf dem Grundgesetz und der UN-Kinderrechtskonvention sowie dem SGB VIII. Konkret bedeutet dies auch, Kindern und Jugendlichen die Mitgestaltung und Beteiligung an unserer Demokratie zu ermöglichen: Sie haben ein Recht auf soziale und politische Teilhabe und den Schutz vor Diskriminierung. Die Verwirklichung der Rechte von jungen Menschen ist nur in einer demokratischen Gesellschaft möglich. Die Gestaltung und die Verteidigung der Demokratie sind deshalb konstitutiv für die Kinder- und Jugendhilfe. Sie ist Demokratiemotor!

 

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, den 05./06.12.2024