Kinder- und Jugendpolitik ist auch Querschnittspolitik! 
Junge Menschen in wirtschafts- und fiskalpolitischen Instrumenten auf EU-Ebene mitdenken

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ zum Europäischen Semester[1]

Positionspapier als PDF

1    Das Europäische Semester

Das Europäische Semester bildet den Rahmen zur Abstimmung der Wirtschafts-, Fiskal-, Arbeits- und Sozialpolitik innerhalb der Europäischen Union (EU). Es wurde als Reaktion auf die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 eingeführt und zielt darauf ab, durch eine stärkere Steuerung und Koordination die Stabilität in der EU zu gewährleisten. Während dieses jährlich wiederkehrenden Prozesses, der sich über die ersten sechs Monate eines Jahres erstreckt, stimmen die EU-Mitgliedstaaten ihre Haushalts- und Wirtschaftspolitik mit den auf EU-Ebene vereinbarten Regeln ab. Die EU nutzt dazu die Offene Methode der Koordinierung (OMK), welche hauptsächlich in solchen Politikbereichen angewendet wird, in denen eine europäische Zusammenarbeit von den Mitgliedstaaten als ein Mehrwert gesehen wird, eine Harmonisierung der nationalen Politiken durch europäische Gesetzgebungskompetenz jedoch nicht stattfinden soll. Beispiele solcher Bereiche sind die Sozial-, Bildungs- und Jugendpolitik. 

Nachdem das Europäische Semester ursprünglich ein Rahmenwerk für die wirtschaftspolitische Steuerung war, wurde es inzwischen weiterentwickelt und umfasst auch andere relevante Politikbereiche. So bietet das Europäische Semester mit Blick auf Sozialpolitik etwa seit der Proklamation der Europäischen Säule sozialer Rechte im Jahr 2017 auch einen Rahmen, um die Bemühungen der Mitgliedstaaten zur Umsetzung der in dieser Säule verankerten Grundsätze und Rechte zu koordinieren und zu überwachen.[2] 2019 kündigte die Europäische Kommission an, dass zudem die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen[3] in das Europäische Semester aufgenommen werden würden.

Der Ablauf des Europäischen Semesters ist jährlich derselbe: Das Europäische Semester startet jeweils mit einem von der Europäischen Kommission im November des vorangegangenen Jahres veröffentlichten Herbstpaketes. Das Herbstpaket umfasst u. a. die Strategie für nachhaltiges Wachstum, in dem die EU-Kommission die politischen Prioritäten darlegt, denen die EU-Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Wirtschaftspolitik für das nächste Jahr Rechnung tragen sollten. Auf dieser Grundlage erarbeiten die Mitgliedstaaten im Frühling (Fortschritts-)Berichte zur Umsetzung, die Nationalen Reformprogramme. Offiziell endet ein Zyklus des Europäischen Semesters mit den länderspezifischen Empfehlungen, die in der Regel im Mai erscheinen. Dabei handelt es sich um individuelle Leitvorgaben für die einzelnen Mitgliedstaaten, die auf einer Überprüfung der wirtschaftlichen und sozialen Leistung jedes Mitgliedstaates vom Vorjahr und den in der Strategie für nachhaltiges Wachstum festgelegten EU-weiten Prioritäten basieren. Die länderspezifischen Empfehlungen werden von der EU-Kommission vorgelegt und abschließend vom EU-Rat für Wirtschaft und Finanzen im Juli angenommen. Danach folgt im zweiten Jahreshalbjahr die Umsetzungsphase in den Mitgliedstaaten.[4]

2    Die jugendpolitische Relevanz des Europäischen Semesters

Entwicklungen und Fortschritte in den verschiedenen Themenbereichen des Europäischen Semesters werden im Rahmen der OMK anhand von gemeinsam formulierten Indikatoren und Benchmarks, also Vergleichsmaßstäben, überprüft. Neben der finanziellen Förderung durch Programme ist dieses Benchmarking ein wichtiger politischer Hebel der EU, der im Europäischen Semester in den länderspezifischen Empfehlungen Ausdruck findet. Die länderspezifischen Empfehlungen bieten somit der Europäischen Kommission die Möglichkeit, die Umsetzung gemeinsamer Ziele auch in Politikbereichen, in denen die EU nur unterstützende Zuständigkeit hat, voranzubringen und Strukturreformen in den Mitgliedstaaten anzustoßen. Die Empfehlungen beziehen sich dabei auf eine Vielzahl von wirtschafts-, fiskal-, arbeits- und sozialpolitischen Themen, wie zum Beispiel Jugendarbeitslosigkeit oder Armutsbekämpfung. Das Europäische Semester hat daher auch eine kinder- und jugendpolitische Bedeutung.

Diese zeigt sich einerseits, indem das Europäische Semester Themen abdeckt, die von jungen Menschen als höchst relevant betrachtet werden (z. B. Klimawandel) und andererseits, indem Maßnahmen in Themenbereichen vorgeschlagen werden, die einen direkten Einfluss auf das Leben junger Menschen und ihren Entfaltungsraum haben (z. B. Ausbau digitaler Infrastruktur).

Vor diesem Hintergrund erarbeitet und veröffentlicht die europäische Kinderrechtsorganisation Eurochild seit 2015 jedes Jahr –  wie auch einige andere europäische Netzwerke, z. B. im Gesundheitsbereich – mithilfe seiner Mitgliedsorganisationen einen Schattenbericht zum Europäischen Semester[5] Darin wird der Blick auf die Folgen, die die im Europäischen Semester empfohlenen Maßnahmen und Leitlinien für Kinderrechte haben, gelenkt. Kinder – womit im europäischen Kontext Personen unter 18 Jahren gemeint sind – werden als Rechtsträger*innen verstanden und haben Anspruch auf bspw. Gesundheit, Bildung, Partizipation und Freizeit. Auf Basis dieses rechtebasierten Ansatzes werden in der Eurochild-Schattenberichterstattung sowohl Verletzungen von Kinderrechten als auch positive Entwicklungen hinsichtlich deren Umsetzung aufgezeigt. So konstatierte der Schattenbericht 2019 mit Blick auf Deutschland etwa erhebliche Defizite bei der Umsetzung von Kinder- und Jugendbeteiligungsmechanismen auf Bundesebene und wies darauf hin, dass die beabsichtigte Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz, die damals bereits in Deutschland diskutiert wurde, in keinem der Dokumente zum Europäischen Semester erwähnt wird. Gleichzeitig wurden aber die positiven Entwicklungen auf Landesebene hervorgehoben, wo in 15 von 16 Verfassungen Kinderrechte ausdrücklich anerkannt werden.[6]

3    Kommentierung relevanter Aspekte für die Kinder- und Jugendhilfe

Es ist aus zwei Gründen sinnvoll, das Europäische Semester als Teil der EU-Wirtschaftspolitik auch unter einem kinder- und jugendpolitischen Blickwinkel zu betrachten. Erstens ist Kinder- und Jugendpolitik Querschnitts- und Lebenslagenpolitik, d. h. Themen, die junge Menschen (direkt oder indirekt) betreffen, sind Teil von Kinder- und Jugendpolitik. Im Europäischen Semester gibt es einige Themenbereiche, die Auswirkungen auf Kinder, Jugendliche und ihre Familien haben, weshalb es kinder- und jugendpolitische Relevanz hat. Zweitens betont die EU, dass in Jugend investiert werden muss, denn nur so kann Europa wirtschaftlich wachsen. Vor diesem Hintergrund ist es verwunderlich, dass sich im Europäischen Semester, darunter auch im Länderbericht sowie in den länderspezifischen Empfehlungen zu Deutschland,[7] kaum explizite Referenzen zu Kinder- und Jugendpolitik finden lassen. Die AGJ ist deshalb grundsätzlich der Ansicht, dass kinder- und jugendpolitische Belange im Europäischen Semester nicht genügend berücksichtigt werden, sind doch die kinder- und jugend(hilfe)politischen Implikationen einiger Themenbereiche enorm. Vier dieser Themenbereiche, nämlich der Abbau von Ungleichheiten, sozialer Ausgrenzung und Armut; digitaler Wandel; (Aus-, Fort- und Weiter)Bildung; sowie ökologischer Wandel, nimmt die AGJ im Folgenden kritisch in den Blick. Zunächst werden für jeden der vier Themenbereiche die Aussagen des Länderberichtes und der länderspezifischen Empfehlungen zu Deutschland zusammengefasst. Anschließend werden, ausgehend von bestehenden AGJ-Positionierungen, aus fachpolitischer Sicht Empfehlungen für Maßnahmen in den jeweiligen Bereichen formuliert.

Abbau von Ungleichheiten, sozialer Ausgrenzung und Armut

Armutsbekämpfung ist eines der EU-Kernziele 2030 unter dem Aktionsplan zur Europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR). Insgesamt soll die Zahl der Menschen, die EU-weit von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht[8] sind, um mindestens 15 Millionen reduziert werden, davon mindestens 5 Millionen Kinder und Jugendliche. Um zur Erreichung dieses Kernzieles beizutragen, konstatiert der Länderbericht für Deutschland den Bedarf einer Verstärkung der sozialpolitischen Maßnahmen, um Menschen aus der Armut zu befreien. Zudem benennt der Bericht den Abbau von Ungleichheiten, sozialer Ausgrenzung und Armut als von entscheidender Bedeutung, um die Wirtschaft im Einklang mit der ESSR inklusiver zu gestalten. In Deutschland lägen Ungleichheiten bei Wohlstand und Einkommen sowie bei Armut trotz Erwerbstätigkeit über dem EU-Durchschnitt. Der Anteil der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Bevölkerung sei relativ hoch, insbesondere bei Kindern. Die pandemiebedingten Einschränkungen beim Schulbesuch wirkten sich darüber hinaus unverhältnismäßig stark auf benachteiligte Familien, Kinder und Jugendliche aus, wodurch die Gefahr einer Verschärfung der sozioökonomischen Ungleichheiten bestehe. Ferner hält der Länderbericht politisches Handeln mit Blick auf die Wohnimmobilienpreise für nötig, da bezahlbarer Wohnraum in Städten und insbesondere für Geringverdienende zu einer Herausforderung werde.

Die AGJ versteht den Abbau von Ungleichheiten und Armutsbekämpfung als übergeordnetes Ziel und deshalb als Rahmen für die Kommentierung der drei weiteren Themenbereiche Bildung, digitaler und ökologischer Wandel. Maßnahmen in diesen Bereichen haben auch Auswirkungen auf Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit. Diese Perspektive gründet auf dem Verständnis von Armut als nicht alleinige Unterversorgung mit materiellen, sondern auch kulturellen und sozialen Gütern (worunter bspw. Wohnqualität, Bildung und Teilhabe fallen). Damit liegt der Fokus auf Verwirklichungschancen[9] von Kindern und Jugendlichen, die durch Maßnahmen in allen Politikbereichen gefördert werden sollten. 

Hinsichtlich der Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDGs) der Vereinten Nationen stellt der Länderbericht zwar fest, dass Deutschland bei den meisten Zielen Fortschritte zu verzeichnen habe. Allerdings habe es in wichtigen Bereichen keine Verbesserung gegeben. Deutschland müsse Maßnahmen ergreifen, um Ungleichheiten (SDG 10) zu verringern, die Qualität der Bildung (SDG 4) zu verbessern und Armut (SDG 1) zu bekämpfen. Vor diesem Hintergrund betont die AGJ die aus kinder- und jugendpolitischer Perspektive ungenügende Umsetzung der SDGs und weist auf die Diskrepanz zwischen Bekenntnissen zu den SDGs einerseits und deren tatsächlicher Umsetzung andererseits hin. Folglich fordert die AGJ die systematische Umsetzung aller Ziele für nachhaltige Entwicklung. Zur Armutsbekämpfung und zum Abbau von sozialer Ausgrenzung und Ungleichheiten unterstreicht die AGJ die Relevanz der Schaffung und Weiterentwicklung einer sozialen Infrastruktur. Als Teil dieser Infrastruktur leistet die Kinder- und Jugendhilfe einen zentralen Beitrag, um Präventionsketten einzurichten und armutsbetroffene Kinder, Jugendliche und Familien bei der Bewältigung der Folgen von Armut zu unterstützen. Es bedarf einer armutssensiblen und bedarfsorientierten Jugendhilfeplanung und eines Handlungskonzeptes, das Armutsbekämpfung als Querschnittsthema versteht und entsprechend eine ressortübergreifende Zusammenarbeit gewährleistet. Dieser kooperative Ansatz wird auch zur Umsetzung der Europäischen Garantie für Kinder[10] zur Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut vorausgesetzt. Im Rahmen einer entsprechenden Ratsempfehlung haben sich die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, den Zugang zu wesentlichen Diensten – darunter frühkindliche Betreuung, Bildung, Gesundheitsversorgung, Ernährung und Wohnraum – zu gewährleisten.[11] Gleichzeitig fordert die AGJ, die Schaffung bzw. Verbesserung der sozialen Infrastruktur gemeinsam mit monetären Leistungen zu denken und begrüßt daher das Vorhaben der Bundesregierung, eine Kindergrundsicherung einzuführen. Darüber hinaus bedarf es neben einer sozialen Infrastruktur und monetärer Unterstützung einer armutssensiblen Haltung von Fachkräften, Trägervertretungen und Entscheidungsträger*innen in Politik und Verwaltung.[12]

Digitaler Wandel[13]

Der Länderbericht und die länderspezifischen Empfehlungen zu Deutschland konstatieren, dass die Digitalisierung beim Ausbau digitaler Netze und digitaler öffentlicher Dienste nur langsam Fortschritte erziele. Der Ausbau reiche daher nicht aus, um den geplanten digitalen Wandel zu verwirklichen. Hinsichtlich der Versorgung mit Glasfasernetzen und Netzen mit sehr hoher Kapazität in ländlichen Gebieten liege Deutschland hinter anderen Ländern zurück. Der Investitionsbedarf sei auf lokaler Ebene besonders ausgeprägt, da hier nach Jahrzenten negativer Nettoinvestitionen Vieles aufgeholt werden müsse, um die Qualität der kommunalen Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Neben dem Mangel einer digitalen Infrastruktur – und der mangelhaften Rahmenbedingungen für entsprechende Investitionen – fehle es auch an der Ausbildung digitaler Kompetenzen. Daher bestehe erhebliches Potenzial für die Verbesserung der digitalen Kompetenzen der Bevölkerung, einschließlich der Lehrkräfte. 

Das Leben in der digitalen Welt ist für junge Menschen selbstverständlich. Doch ein ungenügender Ausbau der digitalen Infrastruktur wirkt sich auf zweifache Weise auf das Leben von Kindern und Jugendlichen aus und verstärkt Ungleichheiten: Einerseits gibt es so unzureichende Zugänge, Ausstattung und Nutzungsgelegenheiten (First Level Digital Divide). Andererseits fehlen dadurch wiederum Möglichkeiten, Medienkompetenz auszubilden (Second Level Digital Divide). Dies widerspricht dem Recht junger Menschen auf eine altersgerechte und diskriminierungsfreie soziale Teilhabe. 

Die AGJ konstatiert entsprechend, dass soziale Teilhabe auch bedeutet, dass alle jungen Menschen gleichberechtigten Zugang zu Medien sowie formaler und non-formaler (Medien)Bildung erhalten und in einer zunehmend digitalisierten Welt gefördert, beteiligt und geschützt werden. Die AGJ betont erstens, dass vor diesem Hintergrund ein Ausbau der digitalen Infrastruktur in Deutschland flächendeckend dringend geboten ist. Digitale Zugangs- und Gestaltungsgerechtigkeit müssen gewährleistet werden. Daher bedarf es insbesondere im ländlichen Raum besonderer Anstrengung und Investitionen, um die Versorgung mit stabilen und schnellen Internetverbindungen sicherzustellen und so zu verhindern, dass junge Menschen jenseits der Großstädte von ihren Peers und dem Rest der Welt getrennt werden. Zweitens unterstreicht die AGJ die Bedeutung einer Medienerziehung und bildung, die Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung begleitet und den kompetenten Umgang mit Medien gezielt fördert. Dies schließt die aktive Begleitung bei der Mediennutzung durch Eltern und Fachkräfte ein.[14] Drittens agiert auch die Kinder- und Jugendhilfe in der digitalen Welt und muss daher im Interesse ihrer Adressat*innen in die Lage versetzt werden, digitale Angebote zu schaffen oder weiterzuentwickeln. In diesem Kontext fordert die AGJ eine Digitalstrategie in Form eines Digitalpaktes für die Kinder- und Jugendhilfe, der diskriminierungsfreie Teilhabechancen sowie Kinder- und Jugendschutz im digitalen Raum gewährleistet und so einen Beitrag zum Abbau digitaler Benachteiligungen leistet. Diese Digitalstrategie sollte auf die Barrierefreiheit der Angebote abzielen, fachliche Standards setzen sowie Ausgrenzung in der digitalen Welt verhindern. Dazu bedarf es einer angemessenen Ausstattung der Kinder- und Jugendhilfe mit der erforderlichen Hard- und Software. Ferner muss die fachliche Qualität der Kinder- und Jugendhilfe angesichts der digitalen Transformation gesichert und ausgebaut werden. Dies erfordert auch eine entsprechende Qualifizierung der Fachkräfte mit Bezug auf die jeweiligen Erfordernisse in den unterschiedlichen Arbeitsfeldern.[15]

(Aus-, Fort- und Weiter-)Bildung[16]

Der Länderbericht stellt fest, dass Investitionen in das Bildungswesen insgesamt und in Aus-, Fort- und Weiterbildung im Speziellen von entscheidender Bedeutung sind, um das EU-Kernziel für die Erwachsenenbildung bis 2030 zu erreichen. Dieses sieht vor, dass sich jährlich mindestens 60 % aller Erwachsenen fortbilden. Der Mangel an Arbeits- und Fachkräften wird in einigen Sektoren als Problem genannt, u. a. Pflege, Baugewerbe, Informatik und Bildungswesen. Ferner warnt der Länderbericht, dass die Pandemie die Ungleichheiten beim Bildungsniveau verschärft habe. So seien Bildungsergebnisse noch stärker als zuvor durch den sozioökonomischen Status und den Migrationshintergrund beeinflusst. Die Verbesserung des Zugangs zu und der Qualität von frühkindlicher Betreuung, Bildung und Erziehung sowie das Angebot von Ganztagsschulen im Einklang mit der ESSR würde dazu beitragen, sowohl die Bildungsergebnisse der Schüler*innen als auch Vollzeitbeschäftigung von Frauen zu verbessern. Momentan liege Deutschland hinsichtlich der Inanspruchnahmequote bei frühkindlicher Betreuung, Bildung und Erziehung sowie bei Tertiärbildung hinter dem EU-Durchschnitt und den Zielen auf EU-Ebene zurück.

Die AGJ unterstützt die im Länderbericht konstatierte Relevanz von qualitativ hochwertigen Angeboten frühkindlicher Betreuung, Bildung und Erziehung sowie Ganztagsbetreuung, die dazu beitragen, die Erwerbstätigkeit von Eltern zu steigern.[17] Eine eingeschränkte Erwerbstätigkeit der Eltern ist häufig ein Grund für Familienarmut, die sich unmittelbar auf Kinder und Jugendliche auswirkt und oft zu einem Kreislauf der Armut wird. Zum Durchbrechen dieses Kreislaufes ist Bildung von zentraler Bedeutung. Bildung ist eine wichtige Voraussetzung für eine selbstbestimmte Lebensführung, gesellschaftliche Teilhabe und Entfaltungsmöglichkeiten. Aus diesem Grund sollte aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe die Perspektive auf frühkindliche Betreuungseinrichtungen als Bildungsorte, die die Entwicklung und Chancengleichheit junger Menschen befördern, der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsperspektive übergeordnet sein. Diese Perspektive kommt im Länderbericht zu kurz. Gleichzeitig gehört zur Wahrheit, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland unterschiedlich gute Chancen haben, ihre Potenziale zu entfalten. Trotz der Fortschritte beim Bildungsstand und bei der Bildungsbeteiligung ist es bisher nicht gelungen, den engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg nachhaltig aufzubrechen. Innerhalb und außerhalb der Schule muss daher ein Lernumfeld geschaffen werden, das Bildungserfolge befördert und Kinder so unabhängig von den Ressourcen des Elternhauses unterstützt. Dies ist ohne den Beitrag der Kinder- und Jugendhilfe, in der die Förderung von Persönlichkeitsentwicklung und Bildungsprozessen und in allen Handlungsfeldern im Vordergrund steht, nicht denkbar.

Für diese Anstrengungen werden Fachkräfte benötigt. Der im Länderbericht an vielen Stellen erwähnte Fachkräftemangel trifft allerdings auch die Kinder- und Jugendhilfe, zum Beispiel in der Kindertagesbetreuung, Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit sowie in den ambulanten und stationären Hilfen zur Erziehung. Die Gewährleistung schon bestehender Angebote und Leistungen – ganz zu schweigen von im Bereich der Armutsbekämpfung und -prävention anfallenden Mehraufgaben – ist entsprechend gefährdet. Über die Ergreifung vereinzelter Strategien der Fachkräftegewinnung allein kann dem wachsenden Fachkräftebedarf nicht mehr begegnet werden. Aus Sicht der AGJ ist es daher geboten, die Fachkräftegewinnung neu auszurichten und verstärkt die Kinder- und Jugendhilfe als Arbeitsfeld in die gesellschaftliche Wahrnehmung zu rücken. Um zu einer größeren Anerkennung beizutragen, bedarf es u. a. einer angemessenen finanziellen Ausstattung der Kinder- und Jugendhilfe sowie einer besseren Entlohnung der in diesem Bereich beschäftigten Fachkräfte. Zudem müssen die Arbeitsbedingungen in den Einrichtungen spürbar verbessert sowie eine ausreichende Anzahl an generalistisch ausgerichteten und kostenfreien Ausbildungs- und Studienplätzen für die Sozialen Berufe in der Kinder- und Jugendhilfe sichergestellt werden. Hierbei ist auch die Qualifizierung von Fach- und Hochschullehrenden in den Blick zu nehmen.[18] 

Ökologischer Wandel[19]

Deutschland hat sich ehrgeizige Klimaziele gesetzt, um die zu erreichen es laut dem Länderbericht eine Beschleunigung der wirtschaftlichen Transformation bedarf. Eine Intensivierung der Klimaschutzmaßnahmen und die Nutzung erneuerbarer Energien seien zudem von entscheidender Bedeutung, um die hohe Abhängigkeit Deutschlands und der EU von importierten fossilen Brennstoffen zu verringern. Um mehr Strom aus erneuerbaren Energien beziehen zu können, seien weitere Anstrengungen beim Ausbau des Stromnetzes, der Einführung einer dezentralen Energieversorgung und der Verringerung von Investitionsengpässen erforderlich. Die Maßnahmen für den derzeitigen Ausbau von Stromnetzen reichten nicht aus, um den geplanten ökologischen Wandel zu verwirklichen. Insbesondere in ländlichen Gegenden gebe es großen Investitionsbedarf. Darüber hinaus untergrüben umweltschädliche Subventionen, Steuerermäßigungen und Steuerbefreiungen die Ziele der ökologischen Nachhaltigkeit und stünden der Dekarbonisierung, der Energieeffizienz und der Nutzung erneuerbarer Energien entgegen. Gleichzeitig würden dem ökologischen Wandel zuträgliche Steuerbemessungsgrundlagen nach wie vor nicht ausreichend genutzt. Vor allem die Einnahmen aus Umweltsteuern seien vergleichsweise niedrig und der Anteil der Umweltsteuern im Bereich Umweltverschmutzung und Ressourcennutzung besonders gering. Es ergäben sich in Deutschland weiterhin Belastungen für die biologische Vielfalt durch insbesondere die Landwirtschaft. Voraussichtlich würden die Verpflichtungen zur Reduktion von Stickoxiden und Feinstaub ab 2030 nicht eingehalten. Die Dekarbonisierung des Verkehrssektors müsse vorangetrieben werden, u. a. durch eine Nutzungssteigerung nachhaltiger öffentlicher Verkehrsmittel, deren Qualität zu diesem Zweck verbessert werden müsse. 

Die soziale Dimension des ökologischen Wandels könne zu einer großen Herausforderung werden. Dazu zähle die Sicherstellung des Zugangs zu grundlegenden Verkehrs- und Energiedienstleistungen. Die Energiearmut in Deutschland liege über dem EU-Durchschnitt und betreffe insbesondere einkommensschwache Bevölkerungsgruppen. Während Geringverdienende finanziell am stärksten vom ökologischen Wandel betroffen seien, sei ihr CO2-Fußabdruck geringer als der von Besserverdienenden. Die Gewährleistung eines gerechten Übergangs sei daher zentral.

Aus Sicht der AGJ kommt hinzu, dass die Belastungen als Folge von Umweltproblemen ungleich verteilt sind.[20] Dies gilt nicht nur global betrachtet, sondern mit Blick auf Gesundheit auch für Deutschland. Sozioökonomische Faktoren und das soziale Umfeld beeinflussen die Lebensstile, Wohnbedingungen, verfügbare Ressourcen und somit auch die damit verbundenen Gesundheitsrisiken der Menschen. Der soziale Status entscheidet, ob und in welchem Umfang jemand durch Umweltschadstoffe belastet ist.[21] In diesem Zusammenhang macht die AGJ auf die Relevanz von ökologischen Kinderrechten[22] aufmerksam und fordert deren konsequente Umsetzung. Die Auswirkungen der Klimakrise betreffen Kinder und Jugendliche in besonderem Ausmaß, da die Umweltzerstörung ihr Leben noch für Jahrzehnte beeinflussen wird und ihre Gesundheit und Entwicklungsmöglichkeiten gefährdet.[23] In diesem Kontext sind Umwelt- und Klimaschutz zu den wichtigsten Themen für junge Menschen geworden. Sie setzen sich oft aktiv für den Schutz des Klimas, den rücksichtsvollen Umgang mit der Umwelt und die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen ein. 

Der Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe, junge Menschen zu fördern, zu beteiligen und eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen, deckt sich mit den ökologischen Kinderrechten. Dies impliziert, dass die Kinder- und Jugendhilfe stellvertretend für junge Menschen bei Umweltthemen eintreten muss, insbesondere dort, wo Kinder und Jugendliche selbst keinen Zugang haben. Daher fordert die AGJ erstens, dass Fachkräfte und Ehrenamtliche in der Kinder- und Jugendhilfe die Relevanz und Aktualität der Klimakrise und der Umweltzerstörung erkennen und sich mit deren Folgen auseinandersetzen. Zweitens muss sich die Kinder- und Jugendhilfe des Themas Nachhaltigkeit in all seinen Dimensionen annehmen und Vorbild sein. Es reicht nicht, Kindern und Jugendlichen das Prinzip der Nachhaltigkeit zu erklären. Stattdessen sollten die Akteur*innen der Kinder- und Jugendhilfe nachhaltige Prinzipien so umfänglich wie möglich umsetzen und sich fragen, wie eine nachhaltige Transformation in Handlungsempfehlungen, Leitlinien, Konzepten und Diskursen innerhalb ihres Arbeits- und Handlungsfeldes implementiert werden kann (Whole Institution Approach). Drittens kann die Kinder- und Jugendhilfe dieser Aufgabe nicht zufriedenstellend nachkommen, wenn nicht auch Politik und Wirtschaft die Belange junger Menschen hinsichtlich des ökologischen Wandels berücksichtigen. Dies bedeutet auch, Kinder und Jugendliche in entsprechende Diskussionen und Entscheidungen miteinzubeziehen, zum Beispiel auf der europäischen Ebene mit Blick auf die Umsetzung des European Green Deal und in Deutschland hinsichtlich der Entscheidungsfindung um die Aufrechterhaltung konventioneller Energieerzeugung und des Ausbaus erneuerbarer Energien. 

4    Bewertung des Europäischen Semesters aus kinder- und jugendpolitischer Perspektive 

Die diesem Kapitel vorausgegangene Kommentierung ausgewählter Aspekte macht die Auswirkungen der Entscheidungen, die im Rahmen des Europäischen Semesters getroffen werden, für das Leben junger Menschen deutlich. Doch diese Auswirkungen werden kaum explizit im Länderbericht und den länderspezifischen Empfehlungen aufgezeigt. So wird etwa Armutsbekämpfung als entscheidendes Ziel ausgemacht, um die Wirtschaft inklusiver zu gestalten. Doch die Auswirkungen von Armut auf Kinder und Jugendliche sowie der Kreislauf der Armut, der sich häufig aus Familienarmut ergibt und der auch wirtschaftspolitische Auswirkungen hat, findet keine Erwähnung. Ähnliches gilt für die drei weiteren Themenbereiche. Mit Blick auf den digitalen Wandel fokussieren sich die Dokumente zum Europäischen Semester auf den Ausbau digitaler Infrastruktur – ein Bereich, der außerordentliche Relevanz für junge Menschen, vor allem im ländlichen Raum, hat. Doch die Auswirkungen eines ungleichen Zugangs zu digitalen Medien und dadurch zu Möglichkeiten zur Entwicklung von Medienkompetenzen bleiben unterbelichtet, obgleich dieser Zugang ein großer Baustein sozialer Teilhabe ist und in der heutigen digitalen Welt aller Voraussicht nach lebenslange Auswirkungen, insbesondere auch auf den Bildungs- und Berufsweg junger Menschen, und damit auch auf den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes, haben wird. Hinsichtlich des ökologischen Wandels wird die Gestaltung eines sozial gerechten Übergangs in den Berichten zu Deutschland zurecht als große Herausforderung betont. Doch dass die Auswirkungen der Klimakrise neben armutsbetroffenen Menschen vor allem junge Menschen treffen, bleibt unerwähnt, genauso wie die Notwendigkeit der Umsetzung ökologischer Kinderrechte. Auch im Bereich der (Aus-, Fort- und Weiter-)Bildung steht – gemäß einem der EU-Kernziele 2030 unter der ESSR – die Erwachsenenbildung im Zentrum. Kaum eingegangen wird aber auf die Rolle, die Bildung im Kontext der (Start-)Chancengleichheit von Kindern und Jugendlichen spielt. Ebenso wird der Mangel an Fachkräften in der Kinder- und Jugendhilfe nicht erwähnt, auch nicht in Anbetracht der besonderen Bedeutung, die der Kinder- und Jugendhilfe in (post)pandemischen Zeiten zukommt, um soziales Miteinander und Bildungsprozesse zu fördern, (Lern)Ungleichheiten auszugleichen, Gemeinschaft zu leben, Freiräume zu schaffen und junge Menschen bei der Bewältigung der Folgen der Pandemie zu unterstützen. 

Wenngleich den Auswirkungen von wirtschafts-, fiskal- und arbeitspolitischen Maßnahmen auf junge Menschen in den Dokumenten zum Europäischen Semester keine große Bedeutung zuzukommen scheint, so werden im Länderbericht durchaus viele Aspekte, die aus Perspektive der Kinder- und Jugendhilfe relevant sind, thematisiert. Im Gegensatz dazu stehen die länderspezifischen Empfehlungen, in denen für Kinder und Jugendliche relevante Themen fast komplett unerwähnt bleiben. Armutsbekämpfung etwa ist kein Teil der an Deutschland ausgesprochenen Empfehlungen für die Jahre 2022 und 2023, obwohl der Länderbericht Defizite in diesem Bereich konstatiert. Insgesamt finden sich keine Empfehlungen mit Blick auf junge Menschen und kaum Bezüge zu Kinder- und Jugendpolitik. Dies ist zumindest verwunderlich vor dem Hintergrund, dass die junge Generation die Zukunft Europas ist, auch die Zukunft der europäischen Wirtschaft. Entsprechend steht in einem Weißbuch Jugend der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2001, dass Investitionen in die Jugend der Schlüssel zur erfolgreichen Umsetzung des politischen Zieles sind, Europa zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.[24]

Kinder- und Jugendpolitik sollte implizit und explizit als Politik für, von und mit jungen Menschen gedacht werden. Sie wird nicht nur im Jugendsektor (bspw. dem Jugendminister*innenrat der EU und der entsprechenden Generaldirektion der Europäischen Kommission) entwickelt und umgesetzt, sondern von denjenigen Akteuren, die Politik machen, die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche hat. Dies trifft auch auf das Europäische Semester zu. Für eine ganzheitlich ausgerichtete Kinder- und Jugendpolitik ist es folglich unabdingbar, dass die Verantwortungs- und Entscheidungsträger*innen im Europäischen Semester ihre Empfehlungen querschnittlich ebenso als Kinder- und Jugendpolitik betrachten. 

Die AGJ fordert daher, das Europäische Semester auch als Kinder- und Jugendpolitik zu begreifen, mehr Bezüge zu Kinder- und Jugendpolitik und der EU-Jugendstrategie sowie in den einzelnen Länderberichten und Empfehlungen auch Bezüge zu nationalen Jugendstrategien herzustellen. 

In Folge dessen stellt sich die Frage, welche Bedeutung das Europäische Semester und die darin enthaltenen Maßnahmen und Empfehlungen mit Blick auf junge Menschen haben und wie die Relevanz des Prozesses für junge Menschen stärker sichtbar gemacht werden kann. Dazu müssen Mechanismen entwickelt werden, um das Bewusstsein für die Auswirkungen der im Rahmen des Europäischen Semesters getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen auf das Leben von Kindern und Jugendlichen zu stärken und die kinder- und jugendpolitischen Konsequenzen aufzuzeigen.

Die AGJ fordert entsprechend, mehr Informationen zu den Auswirkungen der Politik in den einzelnen Themenbereichen des Europäischen Semesters auf Kinder und Jugendliche in die Länderberichte und länderspezifischen Empfehlungen aufzunehmen. Ein Beispiel, wie eine solche Gesetzesfolgenabschätzung aussehen kann, bietet der Jugend-Check[25] auf Bundesebene.  

Mit dem „dualen Ansatz“ erhebt die EU-Jugendstrategie den Anspruch, nicht nur Entwicklungen im Jugendsektor voranzubringen, sondern gleichzeitig die Interessen junger Menschen in anderen Politikfeldern zu vertreten bzw. sich dafür einzusetzen, dass diese dort berücksichtigt werden. Viele der im Europäischen Semester behandelten Themenbereiche berühren das Leben junger Menschen, sie haben aber kein Mitspracherecht zu ebendiesen. 

Die AGJ fordert, konkrete Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche in das Europäische Semester zu integrieren und ihnen so Mitsprache zu Politik, die direkte Auswirkungen auf ihr Leben hat, zu ermöglichen. Dies könnte in den Mitgliedstaaten bei der Erstellung der Nationalen Reformprogramme geschehen und auf europäischer Ebene bei der Erstellung der von der Europäischen Kommission entwickelten länderspezifischen Empfehlungen.

Das Europäische Semester gründet durch die Offene Methode der Koordinierung (OMK) auf gemeinsam formulierte Indikatoren und Benchmarks. Benchmarking ist ein wichtiger politischer Hebel der EU zur Umsetzung gemeinsamer Ziele in Politikbereichen, die in den Kompetenzbereich der EU-Mitgliedstaaten fallen. Würde Kinder- und Jugendbeteiligung in das Europäische Semester aufgenommen, so wäre auch ein Benchmarking zu Partizipation möglich. 

Aus Sicht der AGJ bedarf es daher nicht nur eines Mechanismus zur Kinder- und Jugendbeteiligung, sondern auch Überlegungen dazu, wie Partizipation Teil des Benchmarkings in der OMK werden kann. Als Beispiel dafür kann der Vorschlag für ein überarbeitetes Dashboard der EU-Jugendindikatoren[26] dienen, in das Indikatoren zur Messung von Partizipation aufgenommen wurden.

Des Weiteren kann die finanzielle Programmförderung der EU über das Benchmarking hinaus dazu dienen, Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Politikgestaltung sowohl in den Mitgliedstaaten als auch auf europäischer Ebene zu fördern. Es müssen daher auch EU-Finanzmittel eingesetzt werden können, um Partizipationsprozesse zu entwickeln und zu erproben. Dies wäre etwa über die Förderprogramme des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Rahmen des Europäischen Sozialfonds Plus (ESF Plus) denkbar, über den in der Förderperiode 2021–2027 u. a. ein Programm zur Stärkung der Teilhabe älterer Menschen gefördert wird.

Die AGJ regt folglich an, Förderprogramme wie bspw. den ESF Plus zur Stärkung von Beteiligungsprozessen zu nutzen, um mit jungen Menschen zu Politikgestaltung in den Austausch treten zu können. Als mögliches Beispiel kann der Beteiligungsprozess zur Gestaltung der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe dienen.

5    Fazit

Mit den Themen Abbau von Ungleichheiten, sozialer Ausgrenzung und Armut; digitaler Wandel; (Aus-, Fort- und Weiter-)Bildung; sowie ökologischer Wandel beinhaltet das Europäische Semester wichtige Themen, die kinder- jugendpolitische Bedeutung haben. Nichtsdestotrotz wird das Europäische Semester sowohl auf europäischer Ebene als in Deutschland bisher kaum als kinder- und jugendpolitisches Instrument wahrgenommen. Dieses Positionspapier zeigt, dass es dafür sowohl für Akteur*innen der Kinder- und Jugendhilfe als auch für Akteur*innen anderer Politikfelder einen dringenden Bedarf gibt.

Das Europäische Semester hat als Instrument der Wirtschafts- und Fiskalpolitik begonnen. Es hat jedoch darüber hinaus das Potenzial, ein gutes und wichtiges Instrument der Kinder- und Jugendpolitik zu werden, wenn es entsprechend weiterentwickelt wird. Diese Chance muss von allen Akteur*innen genutzt werden.

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ 
Berlin, den 22./23.09.2022

Fussnoten

[1] Ansprechperson für dieses Positionspapier in der AGJ ist die zuständige Referentin des Arbeitsfeldes II „Kinder- und Jugend(hilfe)politik in Europa“: Hanna Schlegel (hanna.schlegel@agj.de).
[2] Die Grundsätze der Europäischen Säule sozialer Rechte sind in die drei Kapitel „Chancengleichheit und gleichberechtigter Zugang zum Arbeitsmarkt“, „Faire Arbeitsbedingungen“ und „Sozialschutz und Inklusion“ unterteilt. Der Fokus liegt damit auf Beschäftigung, Weiterbildung und Armutsbekämpfung, was sich in den drei EU-Kernzielen bis 2030 widerspiegelt. Siehe: Die Europäische Säule sozialer Rechte in 20 Grundsätzen | EU-Kommission (europa.eu); Aktionsplan zur Europäischen Säule sozialer Rechte | EU-Kommission (europa.eu). 
[3] THE 17 GOALS | Sustainable Development (un.org).
[4] Zur Übersicht zu den Abläufen im Europäischen Semester siehe: Europäisches Semester: Wer macht was? - Consilium (europa.eu).
[5] Aufgrund der Corona-Pandemie wurde seitens der EU der gewöhnliche Ablauf des Europäischen Semesters im Jahr 2021 zugunsten der Aufbau- und Resilienzfazilität ausgesetzt. Daher entfiel auch der Schattenbericht von Eurochild. Für das Jahr 2022 wurde der Prozess wiederaufgenommen. Der diesjährige Schattenbericht fokussiert sich auf Armut und soziale Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen. Er soll im Dezember 2022 veröffentlicht werden.
[6] Eurochild: New opportunities for investing in children. 2019 Eurochild report on the European Semester (2019), S. 50.
[7] Europäische Kommission: Länderbericht Deutschland 2022 (2022); Rat der EU: Empfehlung zum nationalen Reformprogramm Deutschlands 2022 mit einer Stellungnahme des Rates zum Stabilitätsprogramm Deutschlands 2022 (2022).
[8] Der von Eurostat verwendete AROPE-Indikator (Abkürzung für „At risk of poverty or social exclusion“) gilt als Hauptindikator für die Messung der Armuts- oder Ausgrenzungsbedrohung in Europa. Der AROPE-Indikator setzt sich aus verschiedenen Kennwerten, etwa Armutsrisiko, materielle und soziale Deprivation sowie Beschäftigungsumfang, zusammen. Siehe: Glossary: At risk of poverty or social exclusion (AROPE) - Statistics Explained (europa.eu).
[9] Der Verwirklichungschancenansatz in der Armuts- und Reichtumsberichterstattung gründet auf dem „capability approach“ von Amartya Sen, auf den sich die AGJ bereits im Positionspapier „Armut nicht vererben – Bildungschancen verwirklichen – soziale Ungleichheit abbauen!“ (2017) bezog. Danach sind Verwirklichungschancen definiert als „die Möglichkeiten oder umfassenden Fähigkeiten von Menschen, ein Leben führen zu können, für das sie sich mit guten Gründen entscheiden konnten, und das die Grundlagen der Selbstachtung nicht in Frage stellt“. Siehe: Amartya Sen: „Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft“ (München: Carl Hanser Verlag, 2000), S. 9.
[10] Die EU-Kinderrechtsstrategie und die Europäische Kindergarantie | EU-Kommission (europa.eu).
[11] Rat der Europäischen Union: Empfehlung zur Einführung einer Europäischen Garantie für Kinder (2021). Für die Umsetzung in den EU-Mitgliedstaaten haben sich diese verpflichtet, Nationale Aktionspläne für den Zeitraum bis 2030 vorzulegen. Der deutsche Nationale Aktionsplan „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ soll vsl. Ende 2022 vorgestellt werden.
[12] Positionierungen der AGJ zum Thema Armut: Armut nicht vererben – Bildungschancen verwirklichen – soziale Ungleichheit abbauen! Fünfter Armuts- und Reichtumsbericht: Konsequenzen und Herausforderungen für die Kinder- und Jugendhilfe (2017); Kinderarmut und Familienpolitik in Deutschland – eine fachpolitische Einordnung (2015).
[13] Zum digitalen Wandel siehe insbesondere: Europäische Kommission: Länderbericht Deutschland 2022 (2022), S. 40, Anhang 8.
[14] Diskussionspapier der AGJ zum Thema Digitalisierung: Digitale Lebenswelten. Kinder kompetent begleiten! (2016.)
[15] Siehe auch: Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ: Deutscher Kinder- und Jugend(hilfe)MONITOR 2021 (2021); Zwischenruf vom Bundesjugendkuratorium: „Digitalität von Kindheit und Jugend: Digitalpakt Kinder- und Jugendhilfe“ (2021).
[16] Zu Bildung und Kompetenzen siehe insbesondere: Europäische Kommission: Länderbericht Deutschland 2022 (2022), S. 52, Anhang 13.
[17] Zum Thema Kindertagesbetreuung siehe folgende Positionierungen der AGJ: Qualitätsentwicklung nach dem „Gute-Kita-Gesetz“? Rückblick und zukünftige Entwicklungspotentiale (2021); Zugänge zur Kindertagesbetreuung. Eine Betrachtung aus kinderrechtlicher Perspektive (2018). Zudem zum Thema Ganztag: Guter Ganztag?! Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter mit Qualität verbinden (2020); Kind- und jugendgerechte Ganztagsbildung (2019).
[18] Zum Thema Fachkräfte siehe folgende Positionierungen der AGJ: Gesellschaftliche Anerkennung und Aufwertung der Sozialen Berufe in der Kinder- und Jugendhilfe – Fachkräfte gewinnen, Qualität erhalten und verbessern! (2019); Dem wachsenden Fachkräftebedarf richtig begegnen! Entwicklung einer Gesamtstrategie zur Personalentwicklung mit verantwortungsvollem Weitblick (2018).
[19] Zum ökologischen Wandel siehe insbesondere: Europäische Kommission: Länderbericht Deutschland 2022 (2022), S. 32, Anhang 5 und S. 36, Anhang 6.
[20] Siehe  folgendes AGJ-Diskussionspapier: How dare you? Die Verantwortung der Kinder- und Jugendhilfe für die Umsetzung ökologischer Kinderrechte (2020).
[21] Umwelt, Gesundheit und soziale Lage | Umweltbundesamt.
[22] Ökologische Kinderrechte sind Kinderrechte mit Bezug zu Umwelt und Entwicklungsbedingungen. Sie lassen sich aus der UN-Kinderrechtskonvention ableiten, in der viele Rechte einen Bezug zu Umwelt und zu einem gesunden Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen haben. Siehe: UN-Kinderrechtskonvention | UNICEF.
[23] In Deutschland wurde im Zuge des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes zu den Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz konstatiert, dass das Klimaschutzgesetz von 2019 unvereinbar sei mit den Grundrechten der jungen Generation. Damit wurde Generationengerechtigkeit als zentrales Motiv für effektiven Klimaschutz anerkannt; BVerfG, 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, 1 BvR 288/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 78/20, BVerfGE 157, 30 ff.
[24] Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Weißbuch Neuer Schwung für die Jugend (2001), S. 6.
[25] Der Jugend-Check. Ein sogenannter EU „Youth Test“ als Instrument zur Gesetzesfolgenabschätzung und Jugendbeteiligung auf EU-Ebene war auch eine der Maßnahmen unter Vorschlag 47 – Europäische Jugendfragen im Abschlussdokument zur Konferenz zur Zukunft Europas (Mai 2022).
[26] Das Dashboard der EU-Jugendindikatoren wurde 2011 entwickelt und ist eine Sammlung von Indikatoren aus europäischen Erhebungen, die Daten über junge Menschen enthalten, z. B. zur Jugendarbeitslosenquote, der Nutzung des Internets, Lebenszufriedenheit und zum Gesundheitszustand. Ein Vorschlag zur Überarbeitung des Dashboards wurde 2021 von der Europäischen Kommission veröffentlicht: Proposal for an updated dashboard of EU youth indicators (2021).