„Systemfehler?! Junge Menschen am Übergang Schule-Beruf. Ein Blick von Seiten der Kinder- und Jugendhilfe“
Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ[1]
Abstract
Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ beschäftigte sich bereits in verschiedenen Kontexten mit dem Übergang von Schule zu Beruf. Die Corona-Pandemie hat dieses Thema erneut in den Fokus gerückt, da das bestehende Übergangssystem sich in der Krise fragil zeigte. Viele junge Menschen verloren den Anschluss, Übergangsprozesse funktionierten nicht wie sie sollten. In einer Zeit, in der aufgrund von Fachkräftemangel und Arbeitsmarktveränderungen, der Blick besonders auf junge Menschen gerichtet werden muss, ist dies gesamtgesellschaftlich besonders gravierend, da insbesondere benachteiligte junge Menschen mehr Unterstützung bräuchten, um ihre Chancen auf Ausbildung und Beschäftigung zu verbessern und ihre Potentiale einzubringen. Die AGJ diskutiert in diesem Positionspapier, wie Ausbildungsförderungsangebote gestaltet werden müssen, um zu einem kohärenten Übergangssystem zu kommen. Es werden konkrete Forderungen an diejenigen Akteur*innen im Übergangssystem abgeleitet, die sich mit Fragen eines verbesserten Übergangssystems beschäftigen und hier Entscheidungsträger*innen sind.
Inhalt
Vorbemerkung zu den Plänen eines Rechtskreiswechsels U25:
Einleitung
1. Der Blick der Jugendhilfe auf junge Menschen und dessen Einfluss auf ein jugendgerechtes Übergangssystem
2. Zentrale Aspekte und Fragen des Übergangssystems
a. Was muss hier passen? Junge Menschen und Instrumente im Übergangssystem.
b. Orientierung oder Entscheidung? Status Quo Berufsorientierung
c. Offene Türen für alle Jugendlichen? Zugänge in Ausbildung
d. It´s a Match?! Ein Problem der Passung.
e. Ausbildungsgarantie – ein ernstgemeintes Politikvorhaben!?
f. Ausschreibungspraktiken für Ausbildungsförderung. Auswahl nach Kompetenz oder Wirtschaftlichkeit?
g. Wer hat den Hut auf? Zusammenarbeit zwischen BA und Kinder- und Jugendhilfe
3. Abschließende Forderungen
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Vorbemerkung zu den Plänen eines Rechtskreiswechsels U25:
Der aktuelle Entwurf des Haushaltsfinanzierungsgesetzes[2] sieht im Artikel 4 und 5 vor, dass junge Menschen unter 25 Jahren im Bürgergeldbezug ab 2025 nicht mehr im SGB II, sondern im SGB III betreut werden. Junge Menschen unter 25 Jahren würden somit von dem Verantwortungsbereich der Jobcenter in die Zuständigkeit der Agenturen für Arbeit überführt werden.
Mit dem Haushaltsfinanzierungsgesetz wird ein Systemwechsel und damit eine tiefgreifende strukturelle Änderung für junge Menschen unter 25 Jahren ohne fachpolitischen Diskurs vollzogen. Dies passiert ohne eine wirkliche Auseinandersetzung darüber, wie eine Betreuung der unter 25-Jährigen in der Bundesagentur für Arbeit fachlich, personell und strukturell ab 2025 gewährleistet werden kann.
Der Zuständigkeitswechsel hat tiefgreifende Implikationen, z. B. auf den Weiterbestand und die Ausgestaltung der so wichtigen Jugendberufsagenturen, lokal vernetzte Beratungs- und Förderangebote oder niedrigschwellige Angebote für schwer erreichbare junge Menschen. Die AGJ spricht sich gegen den geplanten Zuständigkeitswechsel aus – vor allem ohne fachlichen Diskurs vorab. Sie sieht den Bestand der kommunal aufgebauten Netzwerke gefährdet, deren Bedeutung eigentlich anzuerkennen und auf deren weiteren Ausbau es eigentlich ankäme. Aus ihrer Sicht kann insbesondere auf die niedrigschwellige Ansprache der jungen Menschen mit Übergangsproblemen nicht verzichtet werden, für die es eine aufsuchende Arbeit braucht, auf die die Agenturen für Arbeit nicht ausgelegt sind.
Sollten diese Änderungen tatsächlich beschlossen werden, würden sich grundlegende Fragen neu stellen, die im nachfolgenden Papier diskutiert werden. Dennoch hat sich die AGJ entschieden dieses Papier zu veröffentlichen und das aktuelle System zu beleuchten.
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Einleitung
Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ hat sich in unterschiedlichen Kontexten bereits mit dem Übergang von Schule und Beruf beschäftigt. In der Corona-Pandemie wurde das Thema erneut ins öffentliche Problembewusstsein gerückt, weil sich das Übergangssystem, das junge Menschen am Übergang von der Schule in den Beruf begleitet und ihre Chancen auf eine betriebliche und schulische Ausbildung durch verschiedene Maßnahmen und Programme verbessern soll, als nicht krisensicher zeigte. In der Krise zogen sich viele junge Menschen aus den Hilfe- und Fördersystemen zurück, da die Angebotsformen offensichtlich nicht die notwendige Bindungskraft entfalten konnten. Es bleibt nicht nur die Frage, wo diese jungen Menschen verblieben sind und wie es ihnen geht. Die Kinder- und Jugendhilfe muss sich auch für die Frage interessieren, wie es in Zeiten des allgemeinen Fachkräftemangels und der Transformation von Arbeit gelingen kann, benachteiligte junge Menschen besser zu erreichen, ihnen wirksame Angebote zu unterbreiten und ihre Perspektive für die Einmündung in Ausbildung und Beschäftigung zu verbessern. Die Tatsache, dass junge Menschen auf dem Weg in die berufliche Qualifikation „verloren gehen“,
Ausbildungsinteressen verschieben oder ihre Ausbildungen verzögern, droht nicht nur in Pandemiezeiten, sondern z. B. auch in Wirtschaftskrisen. Eine solche Fehlentwicklung wird gefördert, solange das System vorrangig am Arbeitsmarkt orientiert ist, bei dem die Wünsche, Interessen und Bedarfe junger Menschen nicht die wichtigsten Orientierungspunkte sind und deshalb Ausbildungsstellenangebot, Förderangebote und Wünsche von Bewerber*innen nicht zusammenpassen. Dieses Problem der mangelnden Übereinstimmung zwischen Angebot und Nachfrage ist seit Jahren bekannt, führte aber bisher nicht zur Reform des Übergangssystems.
Das für alle jungen Menschen greifende Recht auf Bildung (UN-Kinderrechtskonvention, Artikel 28) beinhaltet die gesamtgesellschaftliche Verantwortung, dafür Sorge zu tragen, dass jeder junge Mensch, der es will, Zugang zu einer vollqualifizierenden Ausbildung hat. Die Umsetzung einer inklusiv ausgestalteten Ausbildungsgarantie könnte zum Erreichen dieses Ziels beitragen. Das aktuell greifende Übergangssystem hat hingegen zur Folge, dass es seit vielen Jahren in Deutschland einen hohen Anteil an jungen Menschen gibt, die dauerhaft ohne Ausbildung bleiben. Die Zahl junger Menschen ohne Berufsabschluss steigt seit Jahren kontinuierlich. Im Jahr 2021 hatten knapp 18 Prozent der Menschen zwischen 20 und 34 Jahren keinen Berufsabschluss. Demnach blieben 2,64 Millionen der jungen Menschen in dieser Altersgruppe in Deutschland ohne vollqualifizierende Ausbildungsabschlüsse. Damit geht ein höheres Risiko einher, von Erwerbslosigkeit betroffen zu sein. Der Anteil der sog. NEETs (Not in Education, Employment or Training) ist etwa von 5,8 Prozent im Jahr 2019 auf 7,0 in 2022 angestiegen.[3]
Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ diskutiert vor diesem Hintergrund in dem vorliegenden Positionspapier die Frage, wie Angebote der Ausbildungsförderung gestaltet sein müssen, um zu einem kohärenten Übergangssystem zu kommen. Es werden Forderungen an diejenigen Akteur*innen im Übergangssystem abgeleitet, die sich mit Fragen eines verbesserten Übergangssystems beschäftigen und hier Entscheidungsträger*innen sind.
1. Der Blick der Jugendhilfe auf junge Menschen und dessen Einfluss auf ein jugendgerechtes Übergangssystem
Die Kinder- und Jugendhilfe[4] stellt junge Menschen und ihre Familien in den Mittelpunkt. Mit niedrigschwelligen, bedarfsgerechten Angeboten sollen junge Menschen in ihrer Entwicklung gefördert und bei ihrem Aufwachsen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit begleitet werden. Benachteiligungen sollen abgebaut und förderliche Lebensbedingungen für die jungen Menschen und ihre Familien geschaffen werden. Dabei stehen Grundprinzipien wie die konsequente Partizipation, Ermöglichung von Selbstwirksamkeit und die Freiwilligkeit der Nutzung der Angebote im Mittelpunkt. Jugendhilfe zielt somit darauf ab, passende Angebote zur Persönlichkeits- und Kompetenzentwicklung sowie gleichberechtigten Teilhabe zu entwickeln, die inklusiv, transparent, verlässlich und niedrigschwellig sind. Sie nimmt das Recht auf Selbstbestimmung ernst, also die Möglichkeit der Adressat*innen, ihr Leben selbst zu steuern und ihre Autonomie zu wahren. Es ist grundlegend, dass sich junge Menschen für die Ziele und dazugehörige Maßnahmen entscheiden können (Wunsch- und Wahlrecht, § 5 SGB VIII). Darüber hinaus haben die Jugendhilfe und ihre Akteur*innen den Auftrag, die Interessen und Bedarfe junger Menschen zu vertreten und somit als Anwalt*Anwältin parteiisch für junge Menschen und ihre Familien einzutreten (§ 1 Abs. 3 Nr. 4 SGB VIII).
Es ist der Anspruch und Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere junge Menschen, die zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen und individueller Beeinträchtigungen in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind, im Rahmen der Jugendhilfe sozialpädagogische Hilfen anzubieten, die ihre schulische und berufliche Ausbildung, Eingliederung in die Arbeitswelt und ihre soziale Integration fördern (§ 13 Abs. 1 SGB VIII). Die Jugendhilfe kann geeignete sozialpädagogisch begleitete Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen anbieten, wenn dies nicht bereits von anderen Trägern/Organisationen getan wird. Dazu zählen auch die Begleitung und Förderung von jungen Menschen beim Übergang von der Schule in den Beruf. Unabhängig von der Umsetzung des § 13 SGB VIII trägt die Jugendhilfe für junge Menschen, die in Einrichtungen der Jugendhilfe oder Pflegefamilien aufwachsen oder diese verlassen haben (Careleaver*innen), eine besondere Verantwortung, der sie gerade auch in der fragilen Lebenssituation des Übergangs in Berufsausbildung gerecht werden muss.[5] Mit den Hilfen für junge Volljährige (§ 41 und 41a SGB VIII) ist sie für den Übergang in ein eigenständiges Leben sowie eine verbindliche Nachbetreuung nach Ende der Hilfegewährung zuständig.
Trotz der gesetzlichen Regelungen im SGB VIII werden unter anderem auf Grund fehlender Mittel immer weniger Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe am Übergang Schule-Beruf angeboten, die Verantwortung wird in erster Linie dem System der Arbeitsförderung und Grundsicherung (SGB III/II) zugeordnet. Somit ist es der öffentlichen Jugendhilfe immer weniger möglich den Blick auf die jungen Menschen und deren Bedürfnisse zu richten, vielmehr stehen wirtschaftliche Ausgangslagen oder eine bessere Passung aus Sicht des Ausbildungssystems in den Maßnahmen der Jobcenter bzw. der Bundesagentur für Arbeit im Vordergrund.[6] Die AGJ hat sich deshalb bereits 2020 intensiv mit der Jugendsozialarbeit in Verantwortung der Jugendhilfe im Rahmen eines Diskussionspapiers befasst.[7] Sie macht darin auf die Notwendigkeit verlässlicher Angebote der Jugendsozialarbeit aufmerksam und forderte für das Handlungsfeld bei den örtlichen Jugendhilfeträgern sowie kommunalen Schnittstellenpartner*innen eine vermehrte Aufmerksamkeit. Darüber hinaus verdeutlichte sie bereits damals den Bedarf einer rechtskreisübergreifenden Zusammenarbeit, um junge Menschen im Übergang passend zu begleiten, wozu u.a. funktionierende Jugendberufsagenturen[8] beitragen können.
Die rechtskreisübergreifende Zusammenarbeit ist umso wichtiger, da es derzeit 55 Förderprogramme auf Bundesebene, 245 auf Landesebene und 55 schulische Bildungsgänge der Länder[9] im Übergangssystem gibt. Es ist somit ein undurchsichtiger Förderdschungel sowie ein vielfältiges, aber auch schwer durchschaubares System entstanden. Eine strukturierte Planung ist in einem solch diversen, zerstückelten und breiten System schwierig, aber im Interesse der davon betroffenen jungen Menschen unbedingt notwendig. Entsprechend müssen die Lebenslagen junger Menschen zwischen Schule und Beruf jeweils regional erfasst werden und in Planungen einfließen.[10]
2. Zentrale Aspekte und Fragen des Übergangssystems
Im Folgenden werden zentrale Aspekte, offene Fragen und Herausforderungen des bestehenden Übergangssystems beschrieben und Perspektiven sowie Forderungen formuliert.
a. Was muss hier passen? Junge Menschen und Instrumente im Übergangssystem.
Problembeschreibung/Herausforderung:
Ein gutes Übergangssystem muss sich daran messen lassen, ob es seinem Namen gerecht wird und systematisch angelegt ist. Das derzeitige System ist mit seinen vielen Förderprogrammen auf Bundes- und Landesebene zu wenig transparent. Zudem sind die bestehenden Instrumente oft nicht passend für die individuellen Herausforderungen und Bedarfe junger Menschen. Es gilt die Frage zu stellen, wer diese Instrumente entwickelt und mit welcher Logik. Denn während sich die Bundesagentur für Arbeit (BA) auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes sowie die Verwertbarkeit junger Menschen am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt konzentriert, orientiert sich die Kinder- und Jugendhilfe an der Lebenswelt junger Menschen und verfolgt deren Persönlichkeitsentwicklung, Lebensbewältigung sowie Teilhabe. Dennoch werden für sozial benachteiligte und individuell beeinträchtigte Jugendliche meist ausschließlich die Förderinstrumente gemäß SGBII und III erbracht. Damit erfolgen die Hilfen weniger nach den häufig komplexeren Bedarfen der Jugendlichen. Sie richten sich hingegen stark an dem Ziel aus, eine Beendigung der Hilfebedürftigkeit bzw. Integration in den Arbeitsmarkt zu erreichen. Die Maßnahmen auf der Grundlage des SGB II und SGB III exkludieren einen Teil der von ihnen adressierten Zielgruppe. Teils mindern sie die Motivation junger Menschen zusätzlich oder rufen sogenannte "Creaming-Effekte"[11] hervor, wobei es gerade für diejenigen mit schlechteren Voraussetzungen zu wenig Angebote gibt.
Perspektiven und Forderungen:
Instrumente des SGB II, III und SGB VIII für benachteiligte junge Menschen sind besser aufeinander abzustimmen und inklusiv zu gestalten. Sie sind stärker auf die besonderen Belange dieser Zielgruppe und die Gewährleistung ganzheitlicher Unterstützungsangebote für diese auszurichten. Insbesondere Schule, Agenturen für Arbeit bzw. Träger der Grundsicherung und die Träger der Kinder- und Jugendhilfe müssen unter Berücksichtigung der jeweiligen Kompetenz- und Zuständigkeitsbereiche enger kooperieren und gemeinsam Verantwortung übernehmen. Dabei sollten alle Instrumente im SGB II, III und SGB VIII, aber auch des SGB IX und ggf. weiterer Rehabilitationsträger, besser aufeinander abgestimmt, Verfahrensweisen optimiert und Übergänge zwischen den Zuständigkeitsbereichen harmonisiert werden, so dass ganzheitliche und passgenaue Angebote für jeden einzelnen förderbedürftigen jungen Menschen entwickelt werden können. Dabei müssen sich die Angebote an den Bedarfen der jungen Menschen orientieren und nicht umgekehrt die Jugendlichen an den Rahmenbedingungen der Förderangebote.
Ergänzend sollten begleitende Coaching-Angebote, sozialpädagogische Begleitung durch die Jugendsozialarbeit sowie aufsuchende Angebote etabliert und ausgebaut werden. Diese Begleitung junger Menschen erfolgt auf der Basis kontinuierlicher, verlässlicher Beziehungsarbeit und ist mit befristeter Projektarbeit unvereinbar.
Die AGJ trägt die Forderung von Akteur*innen[12] aus dem Feld der Jugendsozialarbeit mit, dass Instrumente der Ausbildungsvorbereitung und Ausbildungsbegleitung verbessert werden müssen. Eine zentrale Forderung ist etwa im Bereich der Assistierten Ausbildung (AsA flex), die Stundenkontingente für die sozialpädagogische Begleitung durch feste Personalschlüssel zu ersetzen, um die Auszubildenden kontinuierlich und zugleich flexibel begleiten zu können. Dies würde ebenso Ressourcen eröffnen, um Betriebe stärker im Rahmen des Ausbildungsmanagement unterstützen zu können und somit zur Attraktivität und Bekanntheit des Förderinstrumentes beizutragen. Diese Änderung würde zudem den hohen administrativen Aufwand des Förderinstrumentes reduzieren.
b. Orientierung oder Entscheidung? Status Quo Berufsorientierung
Problembeschreibung/Herausforderung:
Die wachsende Komplexität und Unübersichtlichkeit der Bildungs- und Ausbildungswege sowie der Wandel in der Arbeitswelt erschweren die persönliche Orientierung und Entscheidung in der Phase der Berufsorientierung für junge Menschen zunehmend. Der Markt ist dynamisch und unterliegt einem Transformationsprozess, in dem sich auch Berufsbilder und Ausbildungswege ändern. Der Fokus auf nachhaltige, grüne Berufe[13] sowie die digitalen Entwicklungen (z. B. Künstliche Intelligenz etc.) verändern Branchen und Berufe. So hat z. B. bei den neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen in der Rangliste der ausbildungsstärksten Berufen der*die "Kaufmann/Kauffrau für E-Commerce" den größten Zugewinn gemacht.[14] Trotz dieser, aus Sicht junger Menschen zu begrüßenden Entwicklungen, kommt es nach Einschätzung der AGJ jedoch bisher nicht hinreichend zu einer Veränderung der Berufsorientierung und ihrer Angebote und Phasen. Maßnahmen der Berufsorientierung streben immer noch zu schnell nach einer Entscheidung für einen Weg und die eigentlich vier Phasen[15] der Berufsorientierung werden oftmals stark auf die vierte Phase der Entscheidungsfindung reduziert. In einer immer komplexer werdenden Welt brauchen junge Menschen jedoch Zeit und Reflexionsräume, um sich zu orientieren, Möglichkeiten auszuloten und sich auszuprobieren. Neben den allgemeinen Herausforderungen hat insbesondere die Corona-Zeit mit Schulschließungen, ausgefallenen Informationsveranstaltungen, Messen, Praktikumsplätzen etc. die Berufsorientierung teils verhindert bzw. sehr verzögert und negativ beeinflusst, was auch durch virtuelle Angebote nicht zu kompensieren war.
Aufgrund von verschobenen oder abgesagten Ausbildungen, einem ausgefallenen Auslandsaufenthalt oder Studienbeginn im Online-Format wurden für viele junge Menschen Freiwilligendienste zu einer sinnstiftenden Alternative. Freiwilligendienste, die eine gute Möglichkeit geben, sich zu orientieren, werden jedes Jahr von rund 100.000 insbesondere jungen Menschen genutzt. Leider wird politisch derzeit jedoch nicht der Abbau nach wie vor bestehender Hürden (etwa den z. B. nicht passgenaue Informationen und die unzureichende Betreuung und Unterstützung während eines Freiwilligendienstes) betrieben. Vielmehr droht durch die aktuellen haushalterischen Entscheidungen eine Kürzung des Kinder- und Jugendhilfeplans (KJP) mit massiven Einsparungen im Bereich der Freiwilligendienste.[16] Die Schwierigkeiten des Zugangs junger Menschen zu Freiwilligendiensten werden damit verschärft. Freiwilligendienste sind jedoch ein wichtiges Erfahrungsfeld für soziales und zivilgesellschaftliches Engagement. Dies verdient Anerkennung und die Teilnahme an einem Freiwilligendienst darf nicht aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen junger Menschen aus einkommensschwachen Familien scheitern.
Benachteiligte junge Menschen werden voraussichtlich noch länger in der Berufsorientierungsphase gehalten, die Schere der ungleichen Chancenverteilung bei der Berufsorientierung klafft weiter auseinander. Denn neben finanziellen Hürden und mangelnden Informationen fehlt insbesondere bei Auslandseinsätzen das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten und das Selbstvertrauen bei den Adressat*innen der Jugendsozialarbeit, um sich für einen solchen Dienst zu entscheiden und durch die notwendigen Bewerbungsverfahren zu gehen. So sind insbesondere Auslandsaufenthalte wie weltwärts oftmals faktisch überwiegend jungen Menschen aus Akademiker*innen-Haushalten vorbehalten und werden deutlich seltener von anderen jungen Menschen genutzt.[17]
In der Phase der Berufsorientierung sind auch die Erwartungen von z. B. Eltern an die schnelle und aus ihrer Sicht richtige Orientierung ihrer Kinder in Richtung Ausbildung, Studium etc. für junge Menschen herausfordernd. Gleichzeitig haben Eltern auf die Berufswahl ihrer Kinder nach wie vor den stärksten Einfluss und nehmen auch eine wichtige Vorbildfunktion wahr. Bei ggf. entstehenden oder über dieses Thema zusätzlich angefachten innerfamiliären Konflikten bestehen weitere sozialpädagogische Beratungsbedarfe, zu denen die Jugendhilfe über Angebote und einen weitreichenden Erfahrungsschatz verfügt.
Perspektiven und Forderungen:
Berufsorientierung sollte früh beginnen und Möglichkeiten des Ausprobierens, Entdeckens und Verwerfens einschließen sowie Selbsterfahrungen junger Menschen ermöglichen und keine fremdbestimmte Phase sein. Daher sollte Berufsorientierung allen vier Phasen, also Vorbereitungsphase, Orientierungsphase, Reflexionsphase und Entscheidungsphase Rechnung tragen. Dies beinhaltet auch, dass junge Menschen sich umentscheiden können, wenn eine Entscheidung vorschnell oder nicht richtig war. Dafür sind mehr dialogische Formate notwendig. Berufsorientierung müsste z. B. an Schule früher und mehr nach abgestimmten und passenden Berufsorientierungskonzepten, z. B. auch mit externen Bildungsträgern und Trägern der Jugendsozialarbeit, entwickelt werden, Praktikumsplätze geschaffen und Kooperationen ausgebaut werden. Die AGJ teilt die fachliche Forderung, die Verantwortung für die Berufsorientierung von der BA in die Hände der Träger der Jugendsozialarbeit zu legen. Sie ist überzeugt, dass hier für junge Menschen die Expertise vorhanden ist, um geeignete Räume zu schaffen, damit junge Menschen sich ausprobieren, Erfahrungen und auch Fehler machen können, für sich Perspektiven entwickeln, Neues zu lernen und auf dieser Grundlage tragfähige Berufswahlentscheidungen zu treffen.
Die Möglichkeiten für Praktika, Freiwilligendienste und Auslandsaufenthalte sollten verbessert statt abgebaut werden. Insbesondere für junge Menschen, die bisher wenig in diesen Angeboten vertreten sind, sind niedrigschwellige Informationen und Zugänge zu schaffen. Dafür müssen Hürden (finanziell, strukturell) für die Teilnahme an z. B. Auslandsaufenthalten und (unbezahlten) Praktika identifiziert, junge Menschen befragt und Instrumente und Angebote angepasst und verbessert werden.
c. Offene Türen für alle Jugendlichen? Zugänge in Ausbildung
Problembeschreibung/Herausforderung:
Insbesondere junge Menschen ohne Schulabschluss oder mit einem Hauptschulabschluss haben in Deutschland oft auch keinen Berufsabschluss. Laut Berufsbildungsbericht 2023[18] waren 74,1 Prozent der jungen Menschen ohne Schulabschluss 2021 von Ausbildungslosigkeit betroffen. Im Vergleich waren dies 2020 64,4 Prozent[19]. Die Übergangsquote von Personen mit Hauptschulabschluss in die duale Ausbildung hat in Relation zum jeweiligen Hauptschulabgänger*innenjahrgang zwischen 2012 und 2021 von 88,6 Prozent auf 68,0 Prozent abgenommen[20]. Personen mit maximal Hauptschulabschluss sind auch besonders häufig von Ausbildungsabbrüchen betroffen[21] und machen den Großteil der NEETs aus[22].
Weitere Exklusionsrisiken bzgl. einer Berufsausbildung stellen Armut, weibliches Geschlecht, Behinderung und Migrations- oder Fluchthintergrund dar. Bei jungen Menschen mit diesen Merkmalen zeigen sich vergleichsweise schlechtere Eingliederungsquoten in Ausbildung. Ein niedriger oder fehlender Schulabschluss der Eltern ist ebenfalls ein Risikofaktor. Wird der niedrige Schulabschluss mit dem Geschlecht kombiniert, zeigt sich, dass mehr als jede vierte Frau mit oder ohne Hauptschulabschluss vier Jahre nach Verlassen der Schule noch ohne Berufsabschluss ist und sich auch nicht (mehr) in Ausbildung befindet.[23] Ein weiteres Exklusionsrisiko stellt ein Migrationshintergrund dar.[24] Auch junge Menschen mit Behinderungen erfahren berufliche Ausgrenzung. Von den in 2017 in Deutschland neu abgeschlossenen 515.679 Ausbildungsverträgen wurden 8.259 (1,6 Prozent) in Berufen für Menschen mit Behinderungen auf der Basis von Ausbildungsregelungen nach § 66 BBiG abgeschlossen.[25]
Hinzu kommen problematische Entwicklungen infolge der Corona-Pandemie. Verschiedene repräsentative Studien belegen, dass eine nicht unerhebliche Zahl junger Menschen Zukunftsängste entwickelt bzw. den Mut verloren hat, ihren beruflichen Weg in Angriff zu nehmen. Nicht wenige haben sich zurückgezogen und zeigen psychische Beeinträchtigungen bis hin zu depressiven Erkrankungen. Dies belegen auch die Praxiserfahrungen aus der Jugendsozialarbeit.
Laut Berufsbildungsbericht 2023 sind von 422.400 bei der Berufsberatung gemeldeten Ausbildungsplatzbewerber*innen im Jahr 2022 74.673 Personen unbekannt verblieben.[26] Diese jungen Menschen drohen unbemerkt aus dem Bildungssystem herauszufallen. Die Gefahr, dauerhaft in Armut zu geraten, ist beträchtlich.
Perspektiven und Forderungen:
Aufsuchende und rechtskreisunabhängige, niedrigschwellige Angebote der Jugendsozialarbeit im Sozialraum sind auszubauen und abzusichern. Gerade für junge Menschen mit den o.g. Exklusionsrisiken, aber auch für die Gruppe der sog. Careleaver*innen sind diese Angebote notwendig, um ihnen Mut für die Entwicklung neuer Lebensperspektiven zu geben und sie wieder an das Hilfesystem zurück zu führen und zu empowern.
Für alle jungen Menschen am Übergang von der Schule in den Beruf ist eine gesicherte Infrastruktur der Jugendsozialarbeit mit tragfähigem und langfristigem Beziehungsangebot erforderlich. Die AGJ hat bereits mehrfach auf die bedenkliche Tendenz aufmerksam gemacht, dass sich die Kommunen als Träger der Kinder- und Jugendhilfe unter Verweis auf das (vermeintlich ausreichende) Angebot nach SGB II und SGB III aus ihrer Verantwortung zurückziehen. So geht die Grundlage für ein kontinuierliches, nachhaltiges Unterstützungsangebot auf dem Weg in die Ausbildung, auch im Falle von notwendiger Krisenintervention, z.B. bei drohenden Ausbildungsabbrüchen, verloren.
Als Motor rechtskreisübergreifender Arbeit ist auch eine Stärkung der Jugendberufsagenturen erforderlich, die jungen Menschen Unterstützungswege und Hilfen aus einer Hand anbieten. Dabei muss die Jugendhilfe in jeder Jugendberufsagentur systematisch verankert sein und ihre sozialpädagogische Kompetenz einbringen.
d. It´s a Match?! Ein Problem der Passung.
Problembeschreibung/Herausforderung:
Zunehmend gelingt es vielen Unternehmen in Deutschland nicht ihre Ausbildungsplätze zu besetzen. Und immer noch finden nicht alle ausbildungsinteressierten Jugendlichen eine Ausbildungsstelle. Denn das richtige Matching bleibt schwierig. Die Zahl unversorgter Bewerber*innen beläuft sich derzeit auf 22.700 Personen.[27] Die „Passungsproblematik“ ist in den Branchen und Regionen jedoch unterschiedlich virulent.
Gründe für ein „Mismatching“ von Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsstellenmarkt liegen in der Berufsorientierung, der Qualifikation der Bewerber*innen und den Strategien und Einstellungen der Betriebe sowie der freien bzw. begrenzten Plätze in bestimmten Branchen.
Erschwerend hinzu kommt, dass die Anzahl der Betriebe, die sich an der beruflichen Ausbildung junger Menschen beteiligen, in den letzten Jahren weiter sinkt.[28]
Perspektiven und Forderungen:
Das Ausbildungssystem ist in starkem Maße einer Wirtschaftslogik unterworfen und nicht an den Bedarfen der jungen Menschen orientiert. Dies führt zur „Passungsproblematik“, weil Ausbildungsberufe, in denen es freie Stellen gibt, nicht unbedingt Berufe sind, die ein gesellschaftlich hohes Ansehen genießen und für junge Menschen attraktiv sind. Unterschiedliche Berufszweige setzen daher zunehmend auf Imagekampagnen, um Bewerber*innen in ihre Ausbildungsberufe zu ziehen. Hier würde generell ein Überhang an Ausbildungsplätzen hilfreich sein.[29]
Es gilt, die Qualität der Ausbildung zu verbessern. Der Ausbildungsreport 2023 des DGB[30] kommt zu dem Ergebnis, dass nur 59,8 Prozent der befragten Auszubildenden eine Ausbildung in ihrem Betrieb weiterempfehlen würden. Als Gründe werden genannt: unzureichende Betreuung und Präsenz der Ausbilder*innen, regelmäßige, teils nicht vergütete Überstunden, ausbildungsfremde Tätigkeiten, fehlende Mitbestimmungsmöglichkeiten und Beschäftigungsperspektiven nach der Ausbildung sowie Über- bzw. Unterforderung.
Noch zu wenig öffnen sich Unternehmen auch für Ausbildungsplatzbewerber*innen, die weniger gute Voraussetzungen mitbringen. Bedarfe und Wünsche der Bewerber*innen werden zu wenig gesehen. Unterstützungsmöglichkeiten, etwa die assistierte Ausbildung werden zu wenig genutzt.
Hier kann eine Anerkennung und Anrechnung informellen und non-formalen Lernens Ausbildungswege erleichtern und Menschen und ihre Erfahrungen wertschätzen. Dies sollten Ausbildungsbetriebe und Branchen prüfen.
Generell müssen sich auch Bildungsstrukturen und -konzepte in den allgemeinbildenden Schulen verändern, damit weniger junge Menschen ohne Schulabschluss die Schule verlassen und somit oftmals nicht einmal über eine Qualifikation für eine Ausbildung verfügen. Auch die Schule ist hier in starker Verantwortung junge Menschen dementsprechend zu fördern und zu begleiten und unterstützen. Eine systematische Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe wird seit vielen Jahren Seitens der Jugendhilfe eingefordert, ist aber längst noch nicht überall umgesetzt.
e. Ausbildungsgarantie – ein ernstgemeintes Politikvorhaben!?
Problembeschreibung/Herausforderung:
Vor dem Hintergrund, dass in Deutschland der Zugang zur Teilhabe am Beschäftigungsmarkt in besonderer Weise vom Erwerb beruflicher Zertifikate abhängt, ist sicherzustellen, dass niemandem ein vollqualifizierender Berufsabschluss erschwert oder verwehrt wird.
Hierzulande bleibt neben der schulischen Ausbildung vor allem die duale Ausbildung die wichtigste Säule der Berufsqualifizierung. Doch eine Vielzahl der scheiternden Ausbildungssuchen beruhen auf per se schlechteren Bildungschancen.[31] Während zudem die an Auszubildende angelegten Kriterien in den letzten Jahrzehnten stiegen, wurden die an die Ausbildungsbetriebe gestellten Anforderungen sukzessive abgesenkt.[32] Auch, um die beschriebenen Passungsprobleme zu beheben, ist gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ein gesetzlicher Perspektivwechsel erforderlich, welcher die Verantwortungszuschreibung umkehrt und nicht mehr länger jungen Menschen eine fehlende „Ausbildungsreife“ unterstellt, sondern die Verantwortung der Gesellschaft und der Ausbildungsbetriebe in den Fokus rückt. Die aktuelle Bundesregierung setzt mit dem Koalitionsvertrag sowie dem Gesetz zur Stärkung der Aus- und Weiterbildungsförderung[33] das Vorhaben um, „eine Ausbildungsgarantie, die allen Jugendlichen einen Zugang zu einer vollqualifizierenden Berufsausbildung ermöglicht“ einzuführen.[34] Es kommt jedoch entscheidend auf die Ausgestaltung einer solchen Garantie an, wenn dies für junge Menschen zu einer anrechtsbasierten Stärkung beruflicher Teilhabe führen soll.
Perspektiven und Forderungen:
Im Interesse junger Menschen aber auch der Wirtschaft muss das Angebot an Ausbildungsmöglichkeiten den heutigen marktgesetzlichen Risiken entzogen werden und jedem*r Ausbildungsinteressierten eine geeignete Stelle garantiert werden. Die primäre Orientierung der dualen Ausbildung an den Bedarfen der Betriebe und deren Fachkräftebedarf ist aus Sicht der AGJ zu hinterfragen. Werden ihre Interessen und Bedarfe negiert, kann die Motivation der jungen Menschen nicht nachhaltig gelingen. Gleichzeitig muss das Ausbildungssystem dabei inklusiv ausgestaltet werden, sodass junge Menschen unabhängig von ihren individuellen Voraussetzungen eine Ausbildung nicht nur beginnen, sondern auch erfolgreich abschließen können. Dazu zählen
- ein Überhang an Ausbildungsangeboten zur Sicherung der Berufswahlfreiheit, der auch ein Angebot an außerbetrieblicher Ausbildung beinhaltet,
- eine bedarfsgerechte sozialpädagogische Begleitung zur Bewältigung lebensweltlicher Probleme,
- eine flexible Ausgestaltung von Ausbildungsdauer und -inhalten, etwa durch die Option modularisierter, auch erwerbsbegleitender Berufsqualifizierung, welche non-formal erworbene berufliche Fähigkeiten und Kompetenzen berücksichtigt,
- kontinuierliche Qualitätssicherung des inklusiven Ausbildungssystems durch Festlegung und Wahrung geeigneter Standards,
- sowie ein Ausbau der materiellen Unterstützung zur Überwindung sozialer und räumlicher Mobilitätsbarrieren – etwa im Bereich der Berufsausbildungsbeihilfe.
Insgesamt würde eine solche, inklusiv und demnach ausreichend ausgestattete Ausbildungsgarantie einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung gesellschaftlicher Teilhabe Benachteiligter sowie zur Fachkräftesicherung in Deutschland leisten.
f. Ausschreibungspraktiken für Ausbildungsförderung. Auswahl nach Kompetenz oder Wirtschaftlichkeit?
Problembeschreibung/Herausforderung:
Ein Problem der perspektivischen Inklusion junger Menschen in Ausbildung und Erwerbstätigkeit ergibt sich aus der Praxis der Ausschreibung von Maßnahmen als Arbeitsmarktdienstleistungen durch die Bundesagentur für Arbeit (BA). Mittlerweile wird zentral eine einzige Leistungsbeschreibung mit bundesweiter Geltung unabhängig von möglichen Unterschieden in der Zielgruppe und regionalen Besonderheiten für den Vergabeprozess erstellt. Viele junge Menschen mit komplexem Förderbedarf können durch diese Angebote nicht erfolgreich gefördert und somit in den Ausbildungs- bzw. Arbeitsmarkt integriert werden.
Die Träger sind gezwungen, anfallende Kosten von Aufgaben, die nicht im Spektrum der Leistungsbeschreibung enthalten sind, aber aus fachlicher Sicht dennoch erbracht werden (müssen), in ihr Angebot einzupreisen. Dies birgt jedoch die Gefahr, dass sie im Preis zu hoch sind und aus dem Bewerbungsverfahren ausscheiden. Dies gilt vor allem für Träger, die ihrer sozialen Verantwortung nachkommen und ihre Mitarbeitenden tariflich entlohnen und sich nicht ausschließlich an dem Mindestlohn für Weiterbildung orientieren. Gerade Träger und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, die nachweislich über langjährige Expertise verfügen und die Zielgruppe sowie ihre Bedarfe kennen, erhalten überwiegend keinen Zuschlag für die Durchführung von Leistungen. Und dies obwohl vielerorts die Arbeitsagenturen bestehende Kooperationen gerne fortgeführt hätten.
Hingegen zeigen die Erfahrungen aus der Praxis, dass oft vor Ort nicht bekannte Anbieter den Zuschlag erhalten, die kaum über erforderliche Kooperationsbeziehungen im Netzwerk der örtlichen Jugendhilfe verfügen.
Diese Bedingungen haben teils dazu geführt, dass sich unter dem Mantel des vorgeblich fairen Wettbewerbs Dumping-Preise zulasten von Qualität und damit zulasten der betroffenen jungen Menschen durchsetzen konnten. Die AGJ fordert (entsprechend den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit) die BA auf, den zu erwartenden Ertrag einer Maßnahme in die Abwägung des Preises einzubeziehen.
Die Kriterien Erfolg und Durchführungsqualität müssen eine stärkere Bewertung erfahren. Zudem regt die AGJ eine gemeinsame Auseinandersetzung über Qualitätskriterien für Angebote der Ausbildungsförderung an.
Perspektiven und Forderungen:
Im Ausschreibungs- und Vergabeprozess von Maßnahmen der Ausbildungsförderung muss aus Sicht der AGJ das Vorhalten von bewährten Kooperationsbeziehungen eines der wichtigsten Bewertungskriterien sein. Diese sind maßgeblich, um insbesondere benachteiligten jungen Menschen einen Zugang in die Maßnahmen zu verschaffen und ggf. weitere stützende Angebote für diese zu aktivieren.
Nur unter Einbeziehung sozialpädagogischer Arbeit lassen sich motivierende Angebote für die jungen Menschen entwickeln und zeitnahe Reaktionen auf Krisen sicherstellen. Beziehungsarbeit durch kontinuierliche Bezugspersonen ist hierfür die zentrale Voraussetzung. Die Angebote müssen also die Bedarfe vor Ort im Blick haben und in regionale Netzwerke eingebunden sein. Zur Erleichterung von Fördermaßnahmen in gemeinsamer Zuständigkeit von Jugendämtern und Jobcentern sind die Möglichkeiten zur freihändigen Vergabe auf Basis der sog. „vorteilhaften Gelegenheit“ in viel stärkerem Maße zu nutzen als bisher.
g. Wer hat den Hut auf? Zusammenarbeit zwischen BA und Kinder- und Jugendhilfe
Problembeschreibung/Herausforderung:
Das Leistungsangebot im Übergang Schule-Beruf wird von Angeboten des SGB II und III dominiert. Dies ist unter anderem begründet durch den verhältnismäßig geringen Anteil, der aus originären Mitteln der Jugendhilfe zur Verfügung gestellt wird, wirkt sich aber letztlich wiederum zu einer verringerten Möglichkeit der fachlichen Steuerung durch die Jugendhilfe aus. In der Regel sind die Leistungen des SGB II und III zur Integration in Ausbildung und Arbeit vorrangig gegenüber der Jugendsozialarbeit. Mit der Einführung des § 16h SGB II im Jahr 2017 und dem § 16k SGB II im Jahr 2023 sind Leistungen zur Förderung schwer erreichbarer junger Menschen und einer ganzheitlichen Betreuung geschaffen worden, in dem die Jugendsozialarbeit grundsätzlich Vorrang bei der Leistungserbringung hat, der SGB II-Träger aber bei Nicht-Leistung selber Angebote für eine begrenzte Zielgruppe anbieten kann. Wesentlich ist auch, dass sich in diesem Arbeitsbereich an der Schnittstelle zwischen Schule und Beruf eine spezialisierte Trägerlandschaft entwickelt hat, die über die Kinder- und Jugendhilfe hinaus in die Bereiche der Sozialhilfe, Schule und Arbeitsförderung hineinreicht.
Im Alltag gestaltet sich die rechtskreisübergreifende Kooperation an der Schnittstelle der Systeme des SGB VIII / II / III oftmals schwierig, da insbesondere im System der Arbeitsverwaltung wenige Möglichkeiten zu flexiblen kooperativen Lösungen verblieben sind. Deren Angebote werden seit der sog. Instrumentenreform der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen des SGB II und III im Jahr 2012 stark formalisiert erbracht. Der umfassend lebensweltbezogene Ansatz der Jugendsozialarbeit steht hierzu im Widerspruch. Eine rechtskreisübergreifende Kooperation gelingt in der Praxis vor allem dort, wo die Rechtskreise SGB II, III und VIII eng und verbindlich unter einem Dach zusammenarbeiten. Dies ist z. B. in Jugendberufsagenturen der Fall, in denen alle relevanten Sozialleistungsträger kooperativ und eng miteinander wirken und „Hilfen aus einer Hand“ anbieten. Ein weiterer wichtiger Kooperationspartner am Übergang Schule-Beruf für die Jugendhilfe ist die Schule, die auch ihren Beitrag leisten muss, damit junge Menschen gut auf den Übergang vorbereitet sind. Dazu gehören v. a. schulische Bildung und der Erwerb lebensweltlichen Kompetenzen.
Perspektiven und Forderungen:
Damit die Leistungen unmittelbarer an den Interessen der jungen Menschen orientiert erbracht werden können, ist durch die Bundesregierung zu gewährleisten, dass auch in den Angeboten in den Bereichen SGB II und III die individuellen Bedarfe benachteiligter junger Menschen stärker beachtet werden. Darüber hinaus können gemeinsame Standards und Leitlinien, die eine Verständigung über die jeweiligen Aufgabenbereiche, Arbeitsweisen und Kooperationen abbilden, bedarfsgerechte Angebote stützen.
Dabei ist wichtig, auch nach der Etablierung von Kooperationsstrukturen weitere Anstrengungen zu unternehmen, um die Qualität der Kooperation – auch unter Einbezug der Reha-Fachabteilung – zu verbessern und eine jugendgerechte Ausgestaltung der Angebote für Jugendliche und junge Erwachsene (weiter-) zu entwickeln. Jugendliche in schwierigen Lebenslagen sollten von den gemeinsamen rechtskreisübergreifenden Planungen und Beratungen besonders profitieren.
Jugendberufsagenturen sind qualitativ weiter zu entwickeln. Aus Sicht der AGJ sollte die Jugendhilfe in dem Rechtskreisgefüge der Jugendberufsagenturen eine zentrale Rolle spielen, da sie aufgrund ihrer Lebensweltorientierung Kenntnisse von den Bedarfen der jungen Menschen hat und diese der derzeit zu dominanten Leistungsanforderung des SGB II und III gegenüber stellen kann. Entsprechend des Ansatzes der Jugendberufsagenturen ist unter Berücksichtigung regionaler Gegebenheiten auf ein Zusammenspiel der unterschiedlichen Angebote und Maßnahmen der Sozialleistungsträger hinzuwirken. „One-Stop-Shops“[35] können für junge Menschen entstehen, wenn Jugendberufsagenturen dezentral und niedrigschwellig arbeiten und junge Menschen hier an einem Ort alle wichtigen Informationen und Ansprechpersonen sowie Vermittlung von Angeboten finden. Auch die verbindliche Einbeziehung der Schule muss hier gewährleistet sein, um alle relevanten Akteur*innen an einen Tisch zu bringen.
3. Abschließende Forderungen
Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ macht neben den bereits genannten Perspektiven und Forderungen deutlich, dass es dringend ein kohärentes System am Übergang Schule-Beruf braucht. Solange das Übergangssystem ein System ist, welches durch das (Nicht-)Agieren eines Partners ins Wanken geraten kann, kann nicht von einem funktionierenden und kohärenten Übergangssystem gesprochen werden. Hierunter leiden vor allem diejenigen jungen Menschen, denen es an verlässlichen Ansprechpersonen, passgenauen Angeboten und Perspektiven fehlt.
Mit den Jugendberufsagenturen liegt eine Lösung vor, die an einigen Orten gut erprobt und wirksam ist. Es braucht daher jugendgerechte Jugendberufsagenturen, von denen junge Menschen Hilfen aus einer Hand erhalten und alle Partner gemeinsam unter einem Dach arbeiten, um die jungen Menschen bestmöglich zu begleiten.
Zu guter Letzt funktioniert das System nur mit einer auskömmlichen Finanzierung, die die Angebote, die Träger und somit auch die jungen Menschen und ihren weiteren Lebensweg absichert. Der Rückbau der kommunalen Jugendberufshilfeangebote ist kontraindiziert. Überfällig ist vielmehr eine Gesamtstrategie am Übergang Schule-Beruf, welche unter Beteiligung der jungen Menschen und erfahrener Träger erarbeitet wird und eine Überprüfung der Maßnahmen bei Bund, Ländern und Kommunen beinhaltet.
Insbesondere in Krisenzeiten wie während der Corona-Pandemie oder der Finanz- und Wirtschaftskrise vor einigen Jahren zeigt sich deutlich: das Übergangssystem ist brüchig und fragil. Daher gilt es für alle Akteur*innen am Übergang verlässliche Strukturen zu schaffen, so dass junge Menschen durchweg sichere Angebote und Orte mit Ansprechpersonen haben, um nicht in krisenhaften Zeiten alleingelassen zu sein oder aus dem Hilfesystem herauszufallen. Diese Orte für junge Menschen zu schaffen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der sich Jugendhilfe, Schule, Bundesagentur für Arbeit, Jobcenter und letztlich die Wirtschaft und die Ausbildungsstätten gemeinsam stellen müssen. Es gilt gemeinsam dagegen anzukämpfen, dass es junge Menschen ohne Anschlussperspektive und Aussicht auf berufliche Teilhabe gibt.
Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, den 21./22.09.2023
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[1] Ansprechperson für dieses Positionspapier in der AGJ ist die Referentin des Arbeitsfeldes V „Jugend, Bildung, Jugendpolitik“ Eva-Lotta Bueren (eva-lotta.bueren@agj.de).
[2] www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Gesetzestexte/Gesetze_Gesetzesvorhaben/ Abteilungen/Abteilung_II/20_Legislaturperiode/2023-08-18-Haushaltsfinanzierungsgesetz/1-Regierungsentwurf.pdf?__blob=publicationFile&v=4.
[3] BIBB Datenreport 2023: www.bibb.de/dokumente/pdf/Datenreport-2023_Vorversion_10052023.pdf.
[4] Im Weiteren wird nur der Begriff „Jugendhilfe“ verwendet, da die Adressatengruppe am Übergang Schule – Beruf älter als 15 Jahre ist.
[5] Siehe hierzu auch AGJ (2022): Verantwortung tragen und Herausforderungen angehen! Leaving Care vor Ort verbindlich gestalten, AGJ-Positionspapier. Weblink: www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2022/Positionspapier_Leaving_Care.pdf.
[6] Münder, J./Hofmann, A, (2017): Jugendberufshilfe zwischen SGB III, SGB III und SGB VIII. Hans-Böckler-Stiftung: Düsseldorf.
[7] AGJ (2020): Jugendsozialarbeit in Verantwortung der Kinder- und Jugendhilfe. Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ. Abrufbar unter: www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2020/Jugendsozialarbeit_in_Verantwortung_der_Kinder-_und_Jugendhilfe.pdf.
[8] Siehe unter anderem AGJ (2015): Jugendliche und junge Erwachsene brauchen ganzheitliche Förderung und Unterstützung auf dem Weg in den Beruf – Anforderungen an wirksame und nachhaltige Jugendberufsagenturen. Weblink: www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2015/Jugendberufsagenturen.pdf.
[9] Fachstelle „überaus“ des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB): Abrufbar unter: t1p.de/tjftl sowie t1p.de/fcs3g. [abgerufen am 18.07.2023].
[10] Siehe auch AGJ: Papier 2020.
[11] Creaming-Effekte bedeuten die Bevorzugung „einfacher“ Fälle und die Benachteiligung von als „schwieriger“ wahrgenommenen Fällen.
[12] Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit: Eckpunktpapier des Kooperationsverbundes Jugendsozialarbeit zur Ausbildungsgarantie. Abrufbar unter: jugendsozialarbeit.de/wp-content/uploads/2022/12/Beschluss-KV-zur-Ausbildungsgarantie.pdf.
[14] www.bibb.de/de/newsletter/pressemitteilung_153053.htm.
[15] Vorbereitungsphase, Orientierungsphase, Reflexionsphase und Entscheidungsphase. Beispielsweise beschreibt Bastian Pelka drei Orientierungsphasen: 1. einen Frage-Antwort-Dialog in vertrauter Umgebung, 2. fachbezogene Informationssuche/Beratung und 3. die fach-, berufs- u. betriebsbezogene Informationssuche/Beratung, wobei diese Phasen nicht notwendigerweise linear, sondern durchaus iterativ ablaufen können. Vgl. ders. (2010). Jugendliche als Experten ihrer beruflichen Orientierung. SuB, 33 (Heft 1), 112-116.
[16] Siehe hierzu: fwd-staerken.de sowie gemeinsamer Aufruf gegen die Kompensationsmöglichkeit innerhalb des KJP: www.agj.de/fileadmin/files/230713_Aufruf_an_BT_zum_Kinder-_und_Jugendplan_des_Bundes_final_akt..pdf.
[18] www.bmbf.de/SharedDocs/Downloads/de/2023/berufsbildungsbericht-2023-kabinettfassung.pdf , S. 97.
[19] BMBF 2023, S.97 sowie BMBF 2022, S.95.
[20] Dohmen et al. 2022, S.46.
[21] Euler / Seeber 2023, S.14.
[22] Dohmen et al. 2023, S.27.
[23] Eckelt, Marcus / Burkard, Claudia (2022): Nachschulische Bildung in Deutschland. Zentrale Ergebnisse und bildungspolitische Einordnung. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.). Gütersloh.
[24] 2020 haben 77 Prozent der Jugendlichen mit deutscher Staatsangehörigkeit, die in das Berufsbildungssystem mündeten, eine Ausbildung aufgenommen, während es unter den Jugendlichen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit nur 54 Prozent waren. Vgl. Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung 2022, S.168 f.
[25] Menschen mit Behinderungen können und sollen laut Berufsbildungsbericht 2023 vorrangig Verträge in staatlich anerkannten Ausbildungsberufen abschließen. Wie vielen dies tatsächlich gelingt, ist jedoch unklar, da die für den Ausbildungsmarkt relevanten Statistiken kein personenbezogenes Merkmal zu einer vorliegenden Behinderung erfassen. Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2023): Berufsbildungsbericht 2023 - Kabinettfassung. Bonn/Berlin. S. 69 f.
[26] Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2023): Berufsbildungsbericht 2023 - Kabinettfassung. Bonn/Berlin. S. 80.
[28] www.bmbf.de/SharedDocs/Downloads/de/2023/berufsbildungsbericht-2023-kabinettfassung.pdf;
[29] Regional müsste ein Überhang von 12,5 % Ausbildungsplätzen vorliegen, um die Voraussetzungen für die im Grundgesetz verbriefte Freiheit der Berufswahl einzulösen. BVerfGE BVF 3/77, S.10. Dieser Anteil wir derzeit nur in einigen Regionen Süd- und Ostdeutschlands erreicht: BiBB (2023): Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2023. BiBB: Bonn, S. 19.
[31] Enggruber, R. et al. (2021): Übergang zwischen Schule und Beruf neu denken: Für ein inklusives Ausbildungssystem aus menschenrechtlicher Perspektive. Paritätischer Gesamtverband: Berlin.
[32] Ulmer, P./Jablonka, P. (2007): Mehr Ausbildungsbetriebe – mehr Ausbildungsplätze – weniger Qualität?
Die Aussetzung der Ausbilder-Eignungsverordnung (AEVO) und ihre Folgen. BiBB Report 3/07: Bonn.
[33] www.recht.bund.de/bgbl/1/2023/191/VO.html.
[34] SPD/Grüne/FDP (2021): Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag 2021-2025, Berlin.
35 Verschiedene Dienstleistungen unter einem Dach.