Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Abschaffung der Kostenheranziehung von jungen Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe[1]

Stellungnahme als PDF

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ bedankt sich für die Möglichkeit, zum vorgelegten Referentenentwurf (Stand 1. Juni 2022) Stellung nehmen zu können. Sie begrüßt und unterstützt die Gesetzesinitative. Die Abschaffung der Kostenheranziehung junger Menschen bei stationären Leistungen entspricht einer langjährigen Forderung der Careleaver*innen [2], der sich die AGJ überzeugt anschloss [3].

„Es gibt keine Familie, die mich unterstützt. Ich muss alles frühzeitig planen – meinen Lebensweg gestalten, für den Führerschein, die Wohnungskaution usw. sparen.“[4]

Care Receiver*innen und Care Leaver*innen berichten, das es oftmals von dem jeweilig zuständigen Jugendamt abhänge, ob eine Kostenheranziehung praktiziert wird. Abgesehen von dem Verwaltungsaufwand dadurch, dass die Kostenbeteiligung von max. 25 % individuell geprüft und seitens des Jugendamtes im Einzelfall begründet werden muss, darf es auch im Sinne der Gleichberechtigung nicht sein, dass in Abhängigkeit der örtlichen Zuständigkeit unterschiedliche Verfahrensweisen angewendet werden. Gerade für Care Leaver*innen ist es mit Blick auf die Verselbstständigung besonders wichtig, dass Ansparmöglichkeiten zur materiellen Absicherung im Übergang geschaffen werden. Die Abschaffung der Kostenheranziehung gemäß § 94 Abs. 6 SGB VIII gibt den jungen Menschen diesen dringend benötigten Freiraum und befreit die öffentlichen Träger von einem nicht mehr im Verhältnis zu den Einnahmen stehenden Aufwand.

„Wir wollen Gleichberechtigung zwischen jungen Menschen – auch innerhalb der Jugendhilfe!“

Die AGJ fordert, dass weitere Anrechnungsregeln geprüft und angepasst werden. Jede Form von materieller Unterstützung und Einkommen im Kontext beruflicher Ausbildung oder Tätigkeit ist als Motivation und Stütze zur erfolgreichen Umsetzung des Überganges für Care Leaver*innen zu werten und entsprechend zu gewähren. Auch das SGB II kennt „Motivationshilfen“ für Erwerbsarbeit bei gleichzeitigen Leistungsbezug [5]. 

Insbesondere für junge Menschen in einer geförderten Ausbildung müssen die Anrechnungsregeln angepasst werden. Sowohl im Rahmen der Verbesserung des § 94 Abs. 6 SGB VIII durch das KJSG wie auch der o. g. Gesetzesinitiative wird übersehen, dass Förderleistungen der Bundesagentur für Arbeit als sog. zweckgleiche Leistungen nach § 93 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII verstanden und vollständig herangezogen werden können. Dazu gehört eine Berufsausbildung oder berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen einschließlich einer Grundausbildung (sog. Berufsausbildungsbeihilfe gem. § 51 SGB III, aber auch § 122 Abs. 1 Nr. 1 SGB III), eine individuelle betriebliche Qualifizierung im Rahmen der Unterstützten Beschäftigung nach § 55 SGB IX und Maßnahmen im Eingangsverfahren oder Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen oder bei einem anderen Leistungsanbieter nach § 60 SGB IX (§ 122 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGB III, dann sog. Ausbildungsgeld).

Ein stichprobenartiger Blick in die Praxis zeigt, dass der Umgang mit dieser Leistung durch die Träger der öffentlichen Jugendhilfe keineswegs einheitlich ist. Das bedingt schon die Tatsache, dass die Prüfung, ob es sich bei den angeführten Förderleistungen um mit der Kinder- und Jugendhilfe „zweckgleiche Leistungen“ handelt, nicht zu einheitlichen Ergebnissen führt. Zwar ist der unterhaltssichernde Charakter von Berufsausbildungsbeihilfe und Ausbildungsgeld unstrittig und ist dies nach § 39 Abs. 1 SGB VIII auch Inhalt der Annexleistungen der Kinder- und Jugendhilfe. Aber der Anlass für die Leistung unterscheidet sich: Während die Kinder- und Jugendhilfe den Unterhalt eines jungen Menschen sicherstellt, der außerhalb seines Elternhauses im Rahmen einer Hilfe zur Erziehung oder Eingliederungshilfe aufwächst, werden die benannten Leistungen der Bundesagentur als Ausbildungsförderung gewährt. Es gibt Träger der öffentlichen Jugendhilfe, die in ihrer Praxis daher höchstens teilweise Zweckidentität annehmen. Bei der Bedarfsbemessung der Leistungen nach SGB III wird in einer Einrichtung der Bundesagentur für Arbeit ein Betrag in Höhe von 119 EUR, im Haushalt der Eltern 454 EUR und in anderen Einrichtungen 723 EUR angenommen6, was bereits zeigt, wie breit die Spanne ist, innerhalb derer sich die öffentlichen Träger dabei bewegen. Überwiegend wird jedoch nur der unterhaltssichernde Charakter als solcher gesehen und der vollständige Einsatz verlangt. Wird dann noch die Anwendung des § 92 Abs. 5 SGB VIII (die Prüfung einer besonderen Härte oder Zweck- und Zielverfehlung durch die Heranziehung) ausgeschlossen – was ebenfalls überwiegend vertreten wird – bleibt aus dieser Sicht gar keine andere Möglichkeit als die vollständige Heranziehung. Dem folgt bislang auch die Rechtsprechung. Selbst Kritiker*innen der kompletten Abschaffung der Kostenheranziehung junger Menschen bei vollstationären Leistungen werden nicht leugnen können, dass diese zwar zahlenmäßig kleine, doch per se in einer besonders benachteiligten Lebenslage befindliche Gruppe junger Menschen eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung erfährt und bislang schlicht übersehen wurde.

Die AGJ unterstützt den Referentenentwurf ausdrücklich, fordert aber diesen so nachzubessern, dass auch diese bislang vollständig übersehene Gruppe junger Menschen Berücksichtigung findet – etwa indem

  •  (Var. 1) in den Rechtsgrundlagen nach SGB III zwischen unterhaltssichernden und motivierenden Leistungen unterschieden bzw. ein Betrag in gesetzgeberisch festzulegender Höhe als finanzielle Anerkennung für die Tätigkeit geleistet wird oder
  • (Var. 2) in § 93 Absatz 1 SGB VIII für junge Menschen in geförderter Ausbildung klargestellt wird, dass einhergehende finanzielle Leistungen bis zu einem Betrag in gesetzgeberisch festzulegender Höhe als nicht zweckgleich zu behandeln sind oder
  • (Var. 3) indem die Härtefallregelung des § 92 Abs. 5 S. 1 SGB VIII um den Hinweis ergänzt wird, dass eine Ziel- und Zweckverfehlung durch die Kostenbeteiligung anzunehmen ist, wenn jungen Menschen in beruflichen Fördermaßnahmen keine finanzielle Motivation belassen wird. 

Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema Leaving Care, besonders im Hinblick auf die Umsetzung der durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz verbindlicher gestalteten Vorgaben zur Übergangsgestaltung verabschiedete die AGJ zeitgleich zu dieser Stellungnahme das Positionspapier „Verantwortung tragen und Herausforderungen angehen! Leaving Care vor Ort verbindlich gestalten“.

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 30. Juni/1. Juli 2022

Fußnoten

[1] Ansprechperson für dieses Positionspapier in der AGJ ist die stellvertretende Geschäftsführerin: Angela Smessaert (angela.smessaert@agj.de). 
[2] Berliner Erklärung „Rechtsanspruch Leaving Care“ (2019).
[3] Vgl. z. B. Zusammenführende AGJ-Stellungnahme zu den beiden Sitzungen der Bundes-AG „SGB VIII: Mitreden -Mitgestalten“ mit den Themen Kinderschutz und Fremdunterbringung (2019), S. 18; AGJ-Stellungnahme zum KJSG-RefE (2020): Was lange währt, wird endlich gut: Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen, S. 11.
[4] Bei den im Papier verwendeten Zitaten, handelt es sich um Aussagen von Care Receiver*innen und Care Leaver*innen im Rahmen der AGJ-Transferkonferenz "Rechtsanspruch Leaving Care vor Ort verbindlich inklusiv gestalten" am 30./31.05.2022 im Tagungshotel Rossi in Berlin.
[5] Vgl. § 11 b SGB II.
[6] Vgl. z. B. unter www.bafoeg-aktuell.de/karriere/ausbildungsgeld.html.