Deutscher Kinder- und Jugendhilfepreis 2022 verliehen
Ausgezeichnete Arbeiten sind Vorbild und Innovationsmotor für die Kinder- und Jugendhilfe
Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ hat am 30.06.2022 die Preisträger*innen des Deutschen Kinder- und Jugendhilfepreises 2022 – Hermine-Albers-Preis – in Berlin gewürdigt. Der Preis wurde dieses Jahr in den drei Kategorien Praxis, Theorie- und Wissenschaft sowie Medien vergeben. Ermittelt wurden die diesjährigen Preisträger*innen von einer elfköpfigen Jury unter Vorsitz von Prof. Dr. Nadia Kutscher aus insgesamt 177 eingereichten Bewerbungen.
Mit einer Anerkennung ausgezeichnet wurde in der Kategorie Praxispreis die Evangelische Stiftung Overdyck für die Arbeit „Digitalisierung in den Hilfen zur Erziehung – Digital Empowerment. Ein Praxisbericht“. Der Medienpreis ging an Nikolas Fischer für das Hörfunkfeature „Das Gefühl der Geborgenheit. Eine Radiogeschichte über das Leben im Kinderheim“ und mit einer Anerkennung in dieser Kategorie wurden Anton Stanislawski und Baran Datli für den Doku-Podcast „Hannes soll kein Russe werden“ ausgezeichnet. Den diesjährigen Theorie- und Wissenschaftspreis erhielt Dr. Carolyn Hollweg für die Dissertation „(un)geteilte Sprachräume – (un)geteilte Rechte? Eine empirische Untersuchung der Verständigungspraxis gedolmetschter Hilfeplangespräche“ und Dr. Maximilian Schäfer wurde für die Dissertation „Ethnografie familienanaloger Formen der Hilfen zur Erziehung. Über Orte der Fremdunterbringung und des Zusammenwohnens“ mit einer Anerkennung ausgezeichnet.
"Mit der Verleihung des Kinder- und Jugendhilfepreises würdigt die AGJ herausragende Arbeiten und besondere Leistungen aus Wissenschaft und Praxis und dem Journalismus, sagte die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ, Prof. Dr. Karin Böllert, die auch Professorin an der Universität Münster ist. Der Preis ist ein Ausdruck der Anerkennung und Wertschätzung für Menschen, die sich mit ihrem Engagement dafür einsetzen, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe weiterentwickeln kann. Dabei werden Potenziale, Errungenschaften, aber auch Schwachstellen dieses Systems aufgezeigt. Die Arbeiten der Preis- und Anerkennungsträger*innen tragen in diesem Sinne dazu bei, die Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe besser zu machen, sie an den Interessen von jungen Menschen und ihren Familien auszurichten – die Arbeiten sind Vorbild und Innovationsmotor."
In ihrer Rede machte die AGJ-Vorsitzende in Hinblick auf den diesjährigen Praxispreis, der zum Thema "Kinder- und Jugendhilfe digital" ausgeschrieben war, darüber hinaus die Notwendigkeit des "DigitalPakts Kinder- und Jugendhilfe" deutlich. Denn die eingereichten Bewerbungen zeigten, wie sehr die Kinder- und Jugendhilfe damit zu kämpfen hatte und hat, in der Corona-Pandemie erst einmal die elementarsten Voraussetzungen für qualifizierte digitale Angebote zu schaffen. „Wer aber seine Energie in die Ausstattung von Netzwerken, Rechnern und Leitungen stecken und Software sowie neue Plattformen der Kommunikation erproben muss, dem bleiben keine Spielräume für bundesweit modellhafte Leuchtturmprojekte,“ betonte Prof. Dr. Böllert. So sei die Ausschreibung zum Deutschen Kinder- und Jugendhilfepreis ein paar Jahre zu früh gekommen und vor diesem Hintergrund vergebe die AGJ beim Praxispreis 2022 keinen Preis, sondern eine Anerkennung.
Die Rede für den Stifter des Deutschen Kinder- und Jugendhilfepreises, den Obersten Jugend- und Familienbehörden der Länder, hielt Staatssekretär Aziz Bozkurt in Vertretung des Vorsitzlandes der Jugend- und Familienministerkonferenz Berlin. Er übergab zusammen mit der AGJ-Vorsitzenden und der Juryvorsitzenden die Auszeichnungen an die Preisträger*innen. Dank des Stifters konnten von 1955 bis heute an die 70 Preise und viele Anerkennungen vergeben werden. „Den Obersten Landesjugend- und Familienbehörden danke ich ganz herzlich dafür, dass sie den Preis über einen so langen Zeitraum immer wieder möglich gemacht haben,“ sagte die AGJ-Vorsitzende.
Der Preis ist pro Kategorie mit 4.000 Euro dotiert. Darüber hinaus kann in jeder Kategorie auch eine Anerkennung vergeben werden, die jeweils mit einem Geldbetrag von 1.000 Euro versehen ist.
Die Ausschreibung für den Deutschen Kinder- und Jugendhilfepreis – Hermine-Albers-Preis 2024 wird Anfang des Jahres 2023 erfolgen.
PREISTRÄGER*INNEN DES DEUTSCHEN KINDER- UND JUGENDHILFEPREISES – HERMINE-ALBERS-PREIS 2022
Detailliertere Informationen zu den Arbeiten und der Jurybegründung
ANERKENNUNG PRAXISPREIS 2022
Evangelische Stiftung Overdyck für die Arbeit „Digitalisierung in den Hilfen zur Erziehung – Digital Empowerment. Ein Praxisbericht“
Mit der Corona Pandemie sind bei der Stiftung Overdyck, wie in allen anderen vergleichbaren Einrichtungen auch, große Lücken in der Kontaktgewährleistung mit ihren Zielgruppen entstanden. Die Stiftung hat sich diesen Herausforderungen in vielfältiger Weise gestellt: So wurden mit dem Projekt die technischen, strukturellen und fachlichen Voraussetzungen und (medien)pädagogische Angebote geschaffen, um Kindern und Jugendlichen eine Teilhabe an Schule, an Freizeitangeboten und letztendlich an der Gesellschaft auch in Zeiten der Kontaktbeschränkungen zu ermöglichen. Zentral für das Projekt ist sein partizipativer Ansatz, so konnten junge Menschen nicht nur bei der Ausgestaltung des Workshopangebots der Stiftung mitbestimmen, sondern sie waren auch grundlegend in die digitale Umgestaltung der Hilfen zur Erziehung eingebunden.
Begründung der Jury: „Die Stiftung hat vielfältige Antworten auf die aktuellen Herausforderungen gefunden. Die dabei entwickelten Strategien und Konzepte sind im Prinzip auf andere Träger und Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendhilfe übertragbar. Leider nur im Prinzip, denn die Umsetzung hängt nicht nur vom Willen und Engagement, sondern auch von den verfügbaren Mitteln ab. Bei diesem großen und umfassenden Vorhaben konnte die Stiftung, wie alle anderen Träger der Jugendhilfe, auf kein Förderprogramm, auf keinen Bildungspakt, zurückgreifen. Zentrale Grundlage des Projekts waren eigene Mittel der Stiftung. Eigeninitiativ wurden außerdem zusätzliche Fördermittel und Spenden akquiriert. Insgesamt konnten für das Projekt Ressourcen von über 100.000 Euro erschlossen werden. Dieses Engagement ist beeindruckend. Die Stiftung hat sich großer Aufgaben angenommen, für die es bisher leider keine externe Unterstützung gibt. Es freut uns sehr, dass sich die Evangelische Stiftung Overdyck mit ihrem Projekt sehr mutig, planvoll und kompetent auf den Weg gemacht hat.“
MEDIENPREIS 2022
Nikolas Fischer für das Hörfunkfeature "Das Gefühl der Geborgenheit. Eine Radiogeschichte über das Leben im Kinderheim". Veröffentlicht am 22.3.2020 im WDR 5/KiRaKa
In dem Hörfunkfeature geht es um das Leben im Kinderheim der Anna-Stiftung in Köln-Vogelsang mit 61 Kindern und Jugendlichen, das dort offensichtlich gut funktioniert. Mit dem Feature werden u. a. Antworten auf die Fragen gesucht:
* Warum leben Kinder überhaupt in einem Heim?
* Kann man dort glücklich sein?
Begründung der Jury: „Das Radiofeature ‚Das Gefühl der Geborgenheit‘ von Nikolas Fischer hat die Jury vollends überzeugt. Es erfüllt im besten Sinne alles, was mit der Ausschreibung des Medienpreises gesucht wurde. Es handelt sich um eine hervorragende publizistische Arbeit, die die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen und die Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe einer breiten Öffentlichkeit bewusst macht und ggf. auch hilft, Vorurteile zu revidieren. Der Autor hat den Beitrag zielgruppengerecht für junge Menschen von 8 bis 13 Jahren umgesetzt. Das Feature ist aber auch ein Tipp für alle Erwachsenen."
ANERKENNUNG MEDIENPREIS 2022
Anton Stanislawski und Baran Datli für den Doku-Podcast "Hannes soll kein Russe werden". Veröffentlicht am 16.7.2021 bei Audible
In dem 7-teiligen Podcast (ca. 7 Stunden) rekonstruieren die Journalisten Baran Datli und Anton Stanislawski über viele Interviews und mit O-Tönen nahezu detektivisch die reale Geschichte des Jugendlichen Hannes. Er gerät ab dem Alter von sechs Jahren in einen Strudel an institutionellen Wechseln und Abbrüchen, weil er immer wieder sogenanntes „abweichendes Verhalten“ an den Tag legt. In einer intensivpädagogischen Auslandsmaßnahme in Kirgistan bekommt er mit 13 Jahren wieder Boden unter den Füßen. Nach dem Abbruch dieser Maßnahme durch das Jugendamt rutscht er wieder ab und stirbt letztlich im Alter von knapp 18 Jahren. Die Begründung für den Abbruch lautete damals, er solle sich in Deutschland zurechtfinden und nicht in Kirgistan einleben – daher auch der Titel des Podcasts „Hannes soll kein Russe werden“.
Begründung der Jury: „Den beiden Journalisten gelingt es, äußerst differenziert und nicht dramatisierend nahe an den einzelnen Personen und ohne verkürzende Vereinfachungen die Entwicklungen, Mechanismen, offene Fragen, problematische Entscheidungen und deren Konsequenzen sichtbar zu machen – und das Gefüge, das den tragischen Verlauf des kurzen Lebens von Hannes prägt, zu entblättern. Der Podcast gibt einen guten Einblick in das System, die Chancen, aber auch den Mangel der deutschen Jugendhilfe sowie in die Komplexität von Jugendhilfefällen. Thematisiert wird dabei auch der Bedarf an einer Beteiligung der Betroffenen z. B. an ombudschaftlichen Strukturen. Besonders hervorzuheben ist außerdem, dass in diesen Podcast extrem viel Zeit und Engagement gesteckt wurde.“
THEORIE- UND WISSENSCHAFTSPREIS 2022
Dr. Carolyn Hollweg für die Dissertation „(un)geteilte Sprachräume – (un)geteilte Rechte? Eine empirische Untersuchung der Verständigungspraxis gedolmetschter Hilfeplangespräche“
Wie kann die Verständigung zwischen pädagogischen Fachkräften und Adressat*innen gelingen, wenn dafür keine gemeinsame Sprache zur Verfügung steht? Gerade im Kontext der Hilfeplanung kommt dieser Frage besondere Bedeutung zu. Doch über den Einsatz von Dolmetschenden ist bislang nur wenig bekannt, es fehlt an empirischen Einsichten und fachlichen Maßstäben. So gibt die Dissertation erstmals Aufschluss über die interaktiven Herausforderungen und Beteiligungsmöglichkeiten in gedolmetschten Hilfeplangesprächen. Sie verortet die Sprachmittlung in einem Spannungsfeld zwischen der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Adressat*innen und der institutionellen Einsprachigkeit der Jugendhilfebehörden. Zudem macht die Arbeit translationswissenschaftliche Zugänge für die Hilfeplanforschung fruchtbar, mitunter durch videographische Datenerhebungen und eine modalitätsspezifisch erweiterte Gesprächsanalyse. Die Forschungsbefunde zeigen, dass die gesprächsorganisatorische Verantwortung für die Signalisierung dolmetschrelevanter Punkte nicht systematisch in der Interaktion verankert wird. Dabei stellen die Akteur*innen verschiedene Sprachräume her: zwischen jungen Menschen und Sprachmittelnden auf der einen und pädagogischen Fachkräften und Sprachmittelnden auf der anderen Seite. Es zeigt sich, dass die Sprachmittelnden je nach Sprachraum systematisch verschiedene Modifikationsverfahren, Reparaturaktivitäten und Adressierungen verwenden. Sie ergänzen oder korrigieren Aussagen eigenmächtig, reduzieren sie um gesichtsbedrohende Inhalte und passen sie an antizipierte Erwartungen an. Dadurch etablieren sich unterschiedliche Wissensbestände und Beziehungsgefüge. Die Sprachmittlung wird zu einer Art Grenzkonstrukt, bestimmte Sequenzen bleiben unverdolmetscht, während oftmals völlig unklar bleibt, wie viel die jungen Menschen verstanden haben. Dadurch wird ein intransparenter, aber in bestimmter Hinsicht dennoch funktionaler Interaktionsrahmen etabliert.
Begründung der Jury: „Es handelt sich um eine in jeder Hinsicht herausragende, konzeptionell, methodisch, methodologisch und inhaltlich vorbildliche und anregende Studie, die – was nicht immer selbstverständlich ist – auch noch Spaß macht zu lesen. In der Summe liefert die Studie eine Fülle von anregenden Ergebnissen, die weiter diskutiert werden müssten.“
ANERKENNUNG THEORIE- UND WISSENSCHAFTSPREIS 2022
Dr. Maximilian Schäfer für die Dissertation „Ethnografie familienanaloger Formen der Hilfen zur Erziehung. Über Orte der Fremdunterbringung und des Zusammenwohnens“
In der Studie werden die Wirklichkeitskonstruktionen im Feld der familienanalogen Formen der Hilfen zur Erziehung untersucht. Im Rahmen von drei ethnografischen Fallrekonstruktionen und eines Fallvergleichs werden die Rahmenbedingungen, die Bedeutungszuschreibungen der Protagonist*innen, die Weisen des wohnräumlichen Zusammenlebens sowie die pädagogischen Handlungsweisen in Alltagssituationen analysiert. Die Feldstudie gewährt einerseits umfassende Einblicke in die bislang selten untersuchte Alltagspraxis an Orten der Fremdunterbringung, die in der Praxis als Erziehungsstellen, sozialpädagogische Lebensgemeinschaften oder familienanaloge Wohngruppen bezeichnet werden. Andererseits leistet sie einen empirisch fundierten Beitrag zur Fachdebatte mit zahlreichen Reflexionsangeboten für Interessierte an stationären Hilfen zur Erziehung.
Begründung der Jury: „Es handelt sich in konzeptioneller, methodologischer und methodischer Hinsicht um eine sehr gelungene Studie. Das ethnografische Vorgehen wird ausführlich und nachvollziehbar dargestellt und in seinen Möglichkeiten und Grenzen reflektiert. Angesichts der rund 500 Seiten Text müssen die Leser*innen ein bisschen Ausdauer mitbringen. Versprochen werden kann aber, dass sie mit vielen interessanten Einsichten in eine bislang wenig untersuchte Angebotsform der HzE entschädigt werden.“