Schutz für die besonders Schutzbedürftigen
Zwischenruf der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ
Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie prägen seit März 2020 das gesellschaftliche Leben. Mehrheitlich werden die erforderlichen Einschränkungen im öffentlichen und privaten Bereich als zwar unerfreulicher, aber unumgänglicher Alltag wahrgenommen. Die Hoffnung vieler richtet sich auf die versprochene Wirkung der bevorstehenden Impfungen. Bis dahin werden harte Wintermonate vorausgesagt, die es gemeinsam (und das heißt immer auch solidarisch) mit Schutzbedürftigen zu meistern gilt. Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ macht in diesem Zwischenruf darauf aufmerksam, dass der Alltag für bestimmte Personengruppen – trotz der bislang von der Politik zur Verfügung gestellten Hilfen und großer Anstrengungen ihrer Helfer*innen – besonders unerträglich geworden ist und sie massiv gefährdet. Für ohnehin besonders Schutzbedürftige potenziert sich in der Pandemie die Gefahr, schutzlos zu werden. Die AGJ ruft dazu auf, für besonders Schutzbedürftige den Kinderschutz, den Schutz vor häuslicher Gewalt und Missbrauch auch unter Pandemiebedingungen unbedingt zu gewährleisten und die Wohnungslosenhilfe deutlich zu intensivieren. Sie fordert, bei den Überlegungen zur Verteilung des Impfstoffs auch den Helfer*innen dieser Personengruppen Priorität einzuräumen.[1]
1. Schutzmöglichkeiten werden dringend gebraucht
Die AGJ erreichen derzeit alarmierende Berichte aus der Praxis. In diesen wird hervorgehoben, dass insbesondere die Kapazitäten von Frauenhäusern sowie Wohnungslosenunterkünften überschritten sind und Hilfesuchende abgewiesen werden müssen; betroffen davon sind auch zahlreiche junge Menschen. Es wird beschrieben, dass – anders als während des ersten Lockdowns – Hilfesuchende in großer Zahl ankommen. Diese Berichte sind ein wichtiger Hinweis, dass teilweise entwarnende Studienergebnisse zur Situation während des ersten Lockdowns nicht vorschnell auf die jetzige Situation übertragen werden können.
Die AGJ appelliert daher eindringlich an Politik und Verwaltung, ihre Anstrengungen zur Bereitstellung von Angeboten zum Schutz vor häuslicher Gewalt und vor Missbrauch, der Wohnungslosenhilfe sowie im Kinderschutz nochmals zu intensivieren. Auch wenn es sich um zahlenmäßig vergleichsweise kleine Adressat*innengruppen handelt, ist für diese der Zugang zu für sie notwendigen Beratungs- und Unterstützungsangeboten unvergleichbar wichtig. Bei den hier betroffenen Menschen führen die Belastungen durch die Corona-Einschränkungen zu einer nochmaligen Zuspitzung der per se vorhandenen starken Gefährdung.
Zu berücksichtigen ist hier nicht nur, dass die Corona-Maßnahmen die Arbeitsweise der vorhandenen Beratungs- und Unterstützungsangebote weiter erschweren. Die Herstellung und das Halten von Kontakt wird durch die Fachkräfte vor Ort zwar durch hohen persönlichen Einsatz und unter Einbezug der vielfältig entwickelten kreativen Methoden (digital, an der frischen Luft, mit reduzierter Personenzahl o. ä.) versucht, dennoch droht das weitere Weggleiten von Adressat*innen ins Dunkelfeld. Die Schließungen von präventiven, niedrigschwelligen Angeboten können durch Erfindungsreichtum nicht ausreichend ausgeglichen werden. Zudem verschärft im Bereich des Kinderschutzes, des Schutzes vor häuslicher Gewalt und Missbrauch sowie der Wohnungslosenhilfe der verringerte Kontakt der Adressat*innen mit Personen in ihrem privaten Umfeld, mit zivilgesellschaftlichen oder staatlichen Akteuren die individuelle Gefährdungssituation der Adressat*innen, da diese Kontaktpersonen zuvor als soziale Warnfaktoren wirkten, Brücken in die Schutzangebote bauten, teils auch Möglichkeiten der Überbrückung boten. Eine möglichst umgehende Bereitstellung von Notunterkünften in hinreichender Zahl ist daher essenzieller denn je!
2. Unterkunftsressourcen sind aktivierbar
Sowohl innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe als auch in anderen Sozialleistungsbereichen und natürlich auch im Hotel- und Gaststättengewerbe sind Beherbergungsmöglichkeiten vorhanden, die in Schutzräume umgewandelt werden können. Jugendherbergen, Jugendbildungsstätten, Jugendhäuser und viele mehr haben bereits Anfang des Jahres ihre Räume angeboten, die mit teilweise mehr, teilweise auch sehr wenig Aufwand auf die Bedarfe von Notunterkünften umgestaltet werden können. Innerhalb der Strukturen der AGJ ist diese Bereitschaft jüngst nochmals unterstrichen worden.
Die Anstrengungen zur Aufnahme und Unterstützung Geflüchteter in den Jahren 2015/2016 haben eindrücklich gezeigt, welche Ressourcen gemeinsam durch öffentliche und freie Träger sowie durch zivilgesellschaftliches Engagement aktiviert werden können. Das im März 2020 erlassene Sozialdienstleister-Einsatzgesetz sieht die Bereitstellung solcher Ressourcen sogar als Pflicht für Sozialdienstleister vor, die Zuschüsse über dieses Gesetz beziehen. Dennoch zeigen die Praxisberichte, dass diese Ressourcen bislang nur vereinzelt abgerufen werden. Die AGJ vermutet, dass ein Grund hierfür der ungedeckte Fachkräftebedarf ist. Doch obgleich gerade Schutzunterkünfte fachlich möglichst gut begleitet werden sollten, darf dies wiederum nicht dazu führen, dass dringend erforderliche Nothilfen aufgrund des Mangels an Fachkräften nicht eingerichtet werden. Die AGJ hält ein temporär begrenztes Abweichen von Fachstandards aus Gründen des Vorrangs von Schutz für vertretbar, warnt jedoch nachdrücklich davor, diese dauerhaft außer Kraft zu setzen.
3. Helfer*innen ringen um Handlungsfähigkeit
Notunterkünfte sind in ihrer grundsätzlichen Anlage nicht „Pandemie-konform“ – egal, ob es sich um Inobhutnahmestellen für Minderjährige, Frauenhäuser oder Wohnungslosenunterkünfte handelt. Hier treffen (junge) Menschen in einer akuten Notsituation aus ganz unterschiedlichen Haushalten und sozialen Kohorten zusammen. Dennoch sind im Umgang mit der Corona-Pandemie selbstverständlich auch die Schutzunterkünfte bereitstellenden Träger und ihre Fachkräfte gezwungen, Infektionsschutzmaßnahmen vorzusehen und umzusetzen.
Die Berichte aus der Praxis machen deutlich, dass Träger und Fachkräfte sich nach bestem Wissen und Gewissen um tragfähige Konzepte und verantwortungsvolles Handeln bemühen und hierfür seit Anfang des Jahres große Kraftanstrengungen unternehmen. Es wird aber auch deutlich, an welche Grenzen sie dabei stoßen: sei es in Anbetracht fehlender Fachkräfte, sei es, weil ihnen die Beratung und Rückmeldung der wiederum überlasteten Gesundheitsbehörden fehlt, sei es, weil sie immer wieder mit unterschiedlichen, sich schnell ändernden und oft auch widersprüchlichen Regelungen, aber auch disparaten Erwartungen der Adressat*innen ihrer Leistungen und Angebote konfrontiert sind. Es ist unverkennbar, dass von den Trägern seit Wochen und Monaten Entscheidungen gefordert und getroffen werden, auf die sie sich nicht vorbereiten konnten und für die sie Güter abwägen müssen, die gleichwertig und dennoch unter Gesichtspunkten der Pandemieeindämmung unvereinbar erscheinen. Auch in der AGJ spiegeln sich in den Diskussionen die Herausforderungen des Umgangs mit sich widersprechenden Erwartungen, die Notwendigkeit des Ausbalancierens von pandemiebedingten Schutzmaßnahmen auf der einen Seite und auf der anderen Seite des nicht digitalisierbaren Wertes persönlicher Kontakte und Nähe, der unmittelbaren Begegnungen wider. Vor Ort muss immer wieder und manchmal sehr schnell entschieden werden, welche Strategien und Ansätze diese Situation bewältigbar machen und handhabbar sind. Auch wenn es immer noch keine allgemeingültigen Entscheidungskriterien gibt und vielleicht auch gar nicht geben kann, ist der Schutz der Schutzbedürftigen der Maßstab, an dem sich das Agieren der Träger und Fachkräfte messen lassen muss. Die AGJ spricht an dieser Stelle allen sich hier engagierenden Personen ihren Respekt aus und versichert, dass ihre Anstrengungen und die damit einhergehenden Zweifel und Überlastungen der Praxis wahrgenommen und auch weiterhin durch die AGJ in die fachpolitischen Diskussionen auf der Bundesebene eingebracht werden.
4. Impfstoffverteilung
Das Bundesministerium für Gesundheit hat um Hinweise gebeten, welche Personengruppen bei der Verteilung des Impfstoffs prioritär berücksichtigt und in der Corona-Impfstoffverordnung aufgeführt werden sollen. Die Debatte um die Systemrelevanz der Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe soll an dieser Stelle weder wiederholt noch aufgefrischt werden.
Sollte nicht hinreichend Impfstoff für alle Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe vorhanden sein, so dass trotz Anerkennung ihrer Systemrelevanz sich die Verteilfrage weiter stellt, hält es die AGJ im Anschluss an die oben getroffenen Aussagen für besonders wichtig, dass den Fachkräften in den Behörden sowie in der stationären wie ambulanten Leistungserbringung, die mit Kinderschutz, dem Schutz vor häuslicher Gewalt und vor Missbrauch sowie der akuten Wohnungslosenhilfe befasst sind, auf ihren Wunsch hin ein möglichst früher Zugang zum Impfschutz eröffnet wird. Durch diese Fachkräfte wird Unterstützung in besonders intensiven Notlagen erbracht, die sich in Wechselwirkung mit den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie nochmals verschärfen und denen besonders schwer begegnet werden kann. Die AGJ appelliert umgekehrt aber auch gegenüber Politik, den Verantwortlichen bei den öffentlichen und freien Trägern sowie den Fachkräften untereinander, keinen sozialen Impfdruck auf die Fachkräfte auszuüben, sondern individuelle Entscheidungen der Helfer*innen zu akzeptieren.
Die mit der Zulassung eines Impfstoffes verbundenen Hoffnungen auf ein absehbares Ende der Pandemie sind nachvollziehbarerweise groß. Dennoch wird Corona für alle – und damit auch die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe und ihre Adressat*innen – noch für längere Zeit Alltags- und professionelle Praxen bestimmen. Die Unterstützung der besonders Schutzbedürftigen braucht auch und gerade in dieser Phase eine verstärkte politische Aufmerksamkeit – und einen besonderen (Impf-)Schutz der Fachkräfte.
Geschäftsführender Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 9. Dezember 2020
Fußnote
[1] Ansprechperson für diesen Zwischenruf in der AGJ ist die stellvertretende Geschäftsführerin: Angela Smessaert (angela.smessaert@agj.de).