Schon wieder diese Jugend!?
Pauschalen Jugendbildern in Politik und Medien entgegenwirken.
Zwischenruf der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ[1]
Es scheint ein sich wiederholendes Phänomen: Junge Menschen geraten in die öffentliche Debatte, sei es, weil sie sich in größeren Gruppen während der Corona-Zeit im öffentlichen Raum treffen oder mit vermeintlichen Alkoholexzessen auffallen oder weil sie – wie zuletzt viel diskutiert – an Silvester mit Feuerwerkskörpern Gewalt gegen Rettungskräfte und die Polizei ausübten. Anschließend folgt ein politischer Aufschrei, eine breite, aber nicht differenzierte mediale Berichterstattung, in denen ein pauschales Bild von „Jugend“ gezeichnet wird. Mit der Beschreibung von Jugendgewalt nimmt eine oft rassistische Vorverurteilung ihren Lauf. Schnell werden zudem verschiedene Akteur*innen adressiert, die hier für eine Beruhigung der Lage sorgen sollen – unter anderem die Kinder- und Jugendhilfe.
Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ teilt die Ablehnung von Übergriffen auf Polizei und Rettungskräfte ohne Wenn und Aber. Die Sicherheit von Helfer*innen ist unverzichtbar für die Versorgung der Bevölkerung, muss selbstverständlich sein und ist essentielle Grundlage für die Abwehr von Gefahren und Beistand bei Notlagen.
Dieser Zwischenruf nimmt eine jugendpolitische Einordnung zum Thema vor und fordert von Politik, Medien und Gesellschaft einen differenzierteren Blick auf junge Menschen. Zudem wird die Rolle der Kinder- und Jugendhilfe, von der sowohl präventive wie reaktive Maßnahmen gefordert werden, beleuchtet.
Teilhabe und Zusammenhalt statt Ressentiments!
Deutschland ist weiterhin ein Land, in dem sozialer Aufstieg und soziale Mobilität nur schwer möglich sind [2] – ein Land, in dem benachteiligte junge Menschen im Bildungssystem diskriminiert und ausgegrenzt werden. Auch aus diesem Grund können die drei Kernherausforderungen der Jugendphase Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositionierung von benachteiligten Jugendlichen nur schwer bewältigt werden. Diese erleben sich vielmehr in ihrer individuellen Lebenssituation oft als nicht handlungsfähig. Es gibt Stadtteile und Gruppen von Menschen, die sich abgehängt fühlen, die in der Gesellschaft mit Barrieren und Benachteiligung konfrontiert sind, wenig positive Erfahrungen machen und kaum Erfolgserlebnisse haben. Eine vorschnelle, generalisierende und verurteilende gruppenbezogene mediale und politische Debatte wie sie regelmäßig aufscheint, führt dazu, dass marginalisierte Gruppen weitere Stigmatisierung erleben, sich vermehrt unter Generalverdacht und nicht als Teil dieser Gesellschaft wahrnehmen. Soziale Spaltungstendenzen werden so weiter befeuert, die Stärkung von Quartieren wird torpediert, aber auch individuell erarbeitetes Zutrauen, sich aus der pauschalen Negativzuschreibung lösen zu können, wird zerstört.
Soziale Probleme in Stadtteilen sind nicht den dort lebenden Menschen zuzuschreiben, sondern sind eine Folge von Segregationstendenzen. Um die Dynamik dieses negativen Kreislaufs[3] zu durchbrechen, ist ein differenzierter Blick auf die jungen Menschen und ihre Familien notwendig. Dazu gehören Fragen der Identitätsbildung im Jugendalter sowie Arbeits- und Perspektivlosigkeit, fehlende (Frei-)Räume, gruppendynamische Phänomene[4] sowie Erfahrungen sozialer Ausgrenzung.
Was kann Jugendpolitik tun?
Politik muss Jugend und die notwendigen Strukturen um sie in den Blick und ernst nehmen, mit ihren Bedarfen, Interessen und ihren Nöten – und dies unabhängig von Problemlagen, aktuellen Geschehnissen und das nicht nur in Wahlkampfzeiten. Die Kinder- und Jugendhilfe als Akteurin der Jugendpolitik agiert als Anwältin für die jungen Menschen und setzt sich stellvertretend für diese insbesondere dort ein, wo junge Menschen selbst keinen Zugang haben, um die politische Aufmerksamkeit zu erhöhen. Sie zeigt jungen Menschen auf, wo und wie sie sich unmittelbar politisch einbringen können und integriert politische Bildung in allen ihren Handlungsfeldern.[5] Durch die Beförderung differenzierter Jugendbilder gelingt es, Heranwachsende und junge Erwachsene mit ihren Bedürfnissen und Herausforderungen wahrzunehmen und sich für Verbesserungen ihrer Lebenssituation stark zu machen, ihre konsequente Beteiligung in allen sie betreffenden Fragen einzufordern. Jugendpolitik kann dabei nicht auf das Jugend(hilfe)ressort beschränkt bleiben, wenn diese wirksam sein soll, sondern bedeutet unter anderem integrierte, strategische Sozialplanung und die Vernetzung relevanter Ressorts.
Bedeutung anderer Politikfelder
Um benachteiligten jungen Menschen Perspektiven zu schaffen, ist nicht allein das Jugendressort gefragt. Stattdessen sind im Sinne einer Eigenständigen Jugendpolitik alle Politikfelder in der Verantwortung, die Belange und Interessen junger Menschen zu berücksichtigen und ins Zentrum ihres politischen Handels zu stellen.[6] Diese Lehre ist unbedingt auch aus den Erfahrungen im Umgang mit der Corona-Pandemie mitzunehmen und bedarf mehr als politischer Lippenbekenntnisse.[7]
Um Segregationstendenzen entgegenzuwirken und eine kohärente Jugendpolitik zu ermöglichen, kommen neben sozialpolitischen Anstrengungen zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung sowie der Integrations- und Teilhabepolitik insbesondere der Stadtplanung und -entwicklung, der Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik sowie dem Justizressort wichtige Rollen zu.
Möglichkeiten und Grenzen der Kinder- und Jugendhilfe
Gemeinsam mit anderen Politikfeldern (u.a. Gesundheit und Schule) ist der Kinder- und Jugendhilfe als auf Dauer angelegter Sozialleistungsbereich die Aufgabe zugeordnet, junge Menschen dabei zu unterstützen, alterstypische Herausforderungen erfolgreich zu meistern. Im Zentrum der Jugendhilfe steht die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung und die Stabilisierung der sozialen und psychischen Entwicklung. Sie bietet hierfür niedrigschwellige Angebote für alle jungen Menschen und Unterstützung je nach Bedarfslage. Handlungsfelder wie die Jugendarbeit und die Jugendsozialarbeit, aber auch die Hilfen zur Erziehung, sorgen tagtäglich dafür, junge Menschen in ihrer individuellen Lebenslage zu unterstützen, ihre Selbstwirksamkeit bei der Bewältigung von Herausforderungen u.a. durch Beteiligung zu stärken und Perspektiven zu schaffen. Dabei knüpfen sie an die Möglichkeiten, Interessen und Bedarfe junger Menschen und den von ihnen als relevant erachteten gesellschaftlichen Erfahrungen/Themen an. Zudem ist eine Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe auch die Beratung und Begleitung junger Menschen in strafrechtlichen Verfahren.
Im Kontext des Schutzes junger Menschen stellt die Gewaltprävention ein wichtiges Aufgabenfeld der Kinder- und Jugendhilfe dar. Prävention hat nicht nur Bedeutung als Abwendung von Gefährdungen von jungen Menschen (z.B. im Einsatz für das Recht auf gewaltfreie Erziehung), sondern auch als Prävention von Gewalt durch junge Menschen (z.B. durch das Aufzeigen von Handlungsalternativen und der Arbeit an Impulskontrolle sowie weiteren Strategien der Lebensbewältigung). Sie setzt bereits bei der Akzeptanz der Lebenswelt junger Menschen und der Förderung von Entwicklungschancen z. B. durch Selbstorganisation und Selbstwirksamkeit an. Auf diese Weise trägt die Kinder- und Jugendhilfe maßgeblich zur Selbstbestimmung und zum Empowerment junger Menschen bei.
Dennoch können Folgen einer verfehlten Sozialpolitik durch die Kinder- und Jugendhilfe allein kaum bewältigt werden. Sie kann zwar einen Beitrag zum Abbau von Ungleichheiten und zur Gewaltprävention leisten, ist dabei aber auf ein abgestimmtes Zusammenwirken mit anderen Akteur*innen und Ressorts sowie auf eine gute Ausstattung angewiesen.
Was jetzt passieren muss!
In Hinblick auf die aktuellen Geschehnisse und die Diskussion in diesem Kontext zieht die AGJ folgende Schlüsse und Forderungen:
- Jugendpolitik ist wichtig. Die Bedarfe und Bedürfnisse junger Menschen sind in die Entscheidungen aller Politikfelder einzubeziehen. Die relevanten Entwicklungen in der Kindheits- und Jugendphase dürfen dabei nicht auf die der formalen Bildung (Schule, Ausbildung, Studium) verengt werden.
- Junge Menschen brauchen mehr Freiräume für ihre Persönlichkeitsbildung. Die Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe ist es, diese zu schaffen und zu verteidigen, um junge Menschen dabei vor Übergriffen und Fehlbeurteilungen zu schützen. Dies muss durch stadtplanerische Weitsicht und eine Jugendhilfeplanung der Kommunen ermöglicht werden.
- Um Segregation entgegenzuwirken und jungen Menschen in jedem Quartier das Erleben von sozialer Teilhabe und Mitwirkung als selbstverständlich geschätztes Mitglied der Gesellschaft zu ermöglichen, braucht eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung und Sensibilisierung aller Politikfelder und die konsequente Beteiligung junger Menschen.
- Soziale Mobilität, der Abbau von Armut und die Ermöglichung von Teilhabe müssen wesentliche sozialpolitische Ziele auf allen Ebenen sein. Politik auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene steht in der Verantwortung, diese Ziele aktiv und mit höchster Priorität zu verfolgen.
- Die soziale Infrastruktur, die der Teilhabe und dem Ausgleich von Benachteiligungen dient (wie u.a. die Kinder- und Jugendhilfe), braucht eine verlässliche finanzielle Förderung, die hilft bei steigenden Bedarfen sowie steigenden Kosten die bisherige Quantität und Qualität der Angebote zu halten. Infrastrukturförderung ist dabei mehr als „Projektitis"! Mit Blick auf das Auseinandergehen der sozialen Schere ist unverständlich, wieso statt des Ausbaus und der fachlichen Weiterentwicklung der Infrastruktur offenbar immer wieder Kürzungen angestrebt werden.
- Konkret bedeutet dies, mit mehr finanziellen Mitteln mehr und bessere Kitas, Schulen, Sportangebote und Sportplätze sowie mehr Orte der außerschulischen Jugendbildung in Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit gerade in problembelasteten Quartieren zu schaffen. Es braucht mehr Angebote der sozialen und auch therapeutischen Begleitung junger Menschen, die mit diesen individuelle Perspektiven erarbeiten können. Zu diesen Notwendigkeiten zählen auch stabile und gute Arbeitsbedingungen für Fachkräfte und deren Anerkennung.
- Bei strafrechtlich relevantem Verhalten junger Menschen sind verschiedene Rechtskreise involviert – auch die Jugendhilfe. Bezüglich der primären und sekundären Prävention sowie im Strafverfahren bedarf es dringend einer Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Polizei, Jugendhilfe und Justiz. Dazu zählen auf Jugendbelange spezialisierte Polizeibeamt*innen und spezialisierte Jugendstaatsanwält*innen und Jugendrichter*innen.
Geschäftsführender Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 21. Februar 2023
Fußnoten
[1] Ansprechperson für dieses Positionspapier in der AGJ ist die zuständige Referentin des Arbeitsfeldes V „Jugend, Bildung, Jugendpolitik“: Eva-Lotta Bueren (mailto:eva-lotta.bueren@agj.de).
[2] Vgl. dazu das Positionspapier der AGJ (2022): Armutssensibles Handeln – Armut und ihre Folgen für junge Menschen und ihre Familien als Herausforderung für die Kinder- und Jugendhilfe.
[3] In der Soziologie u.a. beschrieben als Etikettierungs-/Definitions- und sozialer Reaktionsansatz/labeling approach und dem Konzept der Sekundären Devianz.
[4] Hier sind unter anderem Kazim Erdogan, Prof. Dr. Andreas Zick und Weitere zu nennen.
[5] AGJ-Positionspapier (2022): Auftrag und Anspruch politischer Bildung in der Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit. Eine kritische Betrachtung des Status Quo.
[6] AGJ-Positionspapier (2020): Jugend braucht mehr! – Eigenständige Jugendpolitik voranbringen und weiterdenken.
[7] AGJ-Zwischenruf (2022): Wärmende Orte trotz Inflation und Energiekrise – Kinder- und Jugendhilfe nötiger denn je!; AGJ-Zwischenruf (2020): Jugend stärken – auch und gerade unter Corona-Bedingungen unerlässlich!