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Inklusion gestalten! Anregungen zum Beteiligungsprozess, Bewertungen der Gestaltungsoptionen zur künftigen Anspruchsnorm und Verfahren

Erste zusammenführende Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ zum BMFSFJ-Diskussionsprozess „Gemeinsam zum Ziel“

Stellungnahme als PDF

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ unterstützt das durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz vorgegebene und politisch breit getragene Ziel einer inklusiven Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe seit langem. Innerhalb der AGJ beteiligt sich die AGJ-Gesamt-AG SGB VIII intensiv an dem vom BMFSFJ initiierten Diskussionsprozesses „Gemeinsam zum Ziel: Wir gestalten die Inklusive Kinder- und Jugendhilfe!“. Der AGJ-Vorstand verdeutlicht mit dieser Stellungnahme, dass die von der AGJ-Gesamt-AG SGB VIII zu den Bundes-AG-Sitzungen am 14.02.2023 und 20.04.2023 mündlich und in zwei Vorabkommentierungen vorgetragenen Positionen solche der AGJ sind. Zu ausgewählten Gesichtspunkten wird zudem die Gelegenheit wahrgenommen auf Klarstellungen gegenüber dem Arbeitspapier oder Äußerungen während der Bundes-AG-Sitzungen einzugehen.
Die AGJ spricht sich für die Gestaltung einer zusammenführenden Norm aus, in der zwei nebeneinander bestehende Tatbestandsalternativen (für „erzieherischen Bedarf“ und „behinderungsbedingten Teilhabebedarf“) aufgenommen sind. Beide Bedarfe münden auf der Rechtsfolgenseite in einen gemeinsamen, offenen Leistungskatalog, aus dem bedarfsentsprechend eine oder mehrere Leistungsarten ausgewählt werden können. Im SGB VIII würde also ein eigener Leistungskatalog für „Hilfen zur Entwicklung, Erziehung und Teilhabe“ entstehen, in dem die bisherigen Leistungsarten der §§ 28 - 35 SGB VIII sowie §§ 109 – 116 SGB IX Teil 2 aufgehen. Verweise auf das SGB XI sind möglichst überschaubar zu halten und auf die allgemeinen Vorgaben des SGB IX Teil 1 zu begrenzen. Die AGJ kann sich als Kompromissmöglichkeit ferner vorstellen, dass zu bestimmten Leistungsarten innerhalb des einheitlichen offenen Leistungskatalogs hervorgehoben wird, dass diese insbesondere für behinderungsbedingte Teilhabebedarfe vorgesehen sind. Die AGJ spricht sich ferner für ein zusammengeführtes Verwaltungsverfahren aus, innerhalb dessen aber eine Differenzierung beim Handeln der Jugendämter in der Rolle als Reha-Träger möglich ist.

Inhaltsübersicht

I.    Einordnung dieser Stellungnahme
II.    Klarer Wille für die Inklusive Lösung – keine Frage des „ob“, aber Raum für Klärung zum „wie“ 
III.    Zeit sinnvoll nutzen und Befürchtungen angehen
1. Anregung die gegenüber der Reform bestehenden Sorgen und Hoffnungen explizit im Arbeitsprozess der Bundes-AG „Inklusives SGB VIII“ aufzugreifen
2. Über Gestaltungsoptionen reden – Finanzierungfragen nicht vorweggreifen
V.    Zu den im BMFSFJ-Arbeitspapier vom 09.01.2023 aufgeworfenen Handlungsoptionen
TOP 1: Ausgestaltung des Leistungstatbestandes
Ausgestaltung der Anspruchsgrundlage(n)
Behinderung(en) als Anspruchsvoraussetzung
Anspruchsinhaberschaft
Teilhabebedarfe ohne Behinderungsbezug
Übergang ins Erwachsensystem
TOP 2: Art und Umfang der Leistungen / Leistungskatalog
1.    Leistungskatalog (vgl. dazu auch Vertiefung unter V. zu den im nachfolgenden BMFSFJ-Arbeitspapier konkretisierten Optionen)
2.    Persönliches Budget
V.    Zu den im BMFSFJ-Arbeitspapier vom 23.03.2023 aufgeworfenen Handlungsoptionen
TOP 1: Inklusive und kindspezifische Ausgestaltung der Hilfe- und Leistungsarten
1.    ABLEHNUNG: Fortführung getrennter Leistungskataloge für Hilfen zur Erziehung und Leistungen der Eingliederungshilfe, letzterer durch Verweis auf das SGB IX Teil 2 
2.    ABLEHNUNG: Getrennte Leistungskataloge für Hilfen zur Erziehung und Leistungen der Eingliederungshilfe im SGB VIII
3.    FAVORISIERT: Einführung eines inklusiven Leistungskatalogs im SGB VIII
NEU: inklusiver Leistungskatalog zur Unterstützung der Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsverantwortung sowie Leistungen zur Förderung des familiären Beziehungsgefüges in Kombination mit einem Katalog von Teilhabeleistung, der insbesondere behinderungsbedingten Bedarfen begegnet
4.    Barrierefreie Zugänge zu Hilfen und Leistungen
5.    Andere Gelingensfaktoren, die im Kontext der Rechtsfolgenseite beachten werden sollten
TOP 2: Verfahren Hilfe-, Teilhabe- und Gesamtplanung und Bedarfsermittlung
1.    Antragserfordernis
2.    Teilhabeplan- und Hilfeplanverfahren
3.    Bedarfsermittlung
a)    Instrumente
b)    Ärztliche Gutachten
4.    Wunsch- und Wahlrecht
5.    Beachtung des Selbstbestimmungsrechts auch jenseits des Wunsch- und Wahlrechts
TOP 3: Früherkennung und Frühförderung/Schnittstelle SGB V

I. Einordnung dieser Stellungnahme

Innerhalb der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ beteiligt sich die AGJ-Gesamt-AG SGB VIII intensiv an dem vom BMFSFJ initiierten Diskussionsprozesses „Gemeinsam zum Ziel: Wir gestalten die Inklusive Kinder- und Jugendhilfe!“[1], die entsprechend des besonderen Charakters der AGJ als Dachorganisation die Breite der bundeszentralen Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe widerspiegelt. Aufgrund der engen Fristläufe, die mit regulären Gremiensitzungen nicht in Abstimmung zu bringen sind, wurden zur Vorbereitung der Bundes-AG-Sitzungen jeweils Vorabkommentierung durch die in der AGJ-Gesamt-AG SGB VIII zusammenwirkenden Personen erarbeitet, um trotz dieser schwierigen Bedingungen einem produktiven fachlichen Einbeziehungsprozess Wege zu öffnen. Es wird eng Bezug genommen auf die im Vorfeld jeder Bundes-AG-Sitzung durch das BMFSFJ versandten thematischen Arbeitspapiere.

Der AGJ-Vorstand verdeutlicht mit dieser Stellungnahme, dass die von der AGJ-Gesamt-AG SGB VIII zu den Bundes-AG-Sitzungen am 14.02.203 und 20.04.2023 mündlich und in zwei Vorabkommentierungen vorgetragenen Positionen solche der AGJ sind. Zu ausgewählten Gesichtspunkten wird zudem die Gelegenheit wahrgenommen auf Klarstellungen gegenüber dem Arbeitspapier oder auf mündliche Äußerungen des BMFSFJ oder von Teilnehmenden während der Bundes-AG-Sitzungen einzugehen.

Die AGJ beabsichtigt, durch die AGJ-Gesamt-AG SGB VIII auch zu den noch bevorstehenden Bundes-AG-Sitzungen am 27.06.2023 und 12.09.2023 wieder Vorabkommentierungen einzubringen. Diese sollen anschließend erneut durch eine zweite zusammenführende Stellungnahme mit Vorstandsbeschluss formal als AGJ-Positionen ausgewiesen werden.


II. Klarer Wille für die Inklusive Lösung – keine Frage des „ob“, aber Raum für Klärung zum „wie“

Die AGJ unterstützt das durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz vorgegebene und politisch breit getragene Ziel einer inklusiven Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe seit langem. Ihr war es dabei stets wichtig, dass sowohl Faktoren berücksichtigt werden, die bislang zu einer Exklusion von jungen Menschen mit Behinderungen führen, als auch solche, die an anderen (bestehenden oder zugeschriebenen) individuellen Besonderheiten anknüpfen und zu Stereotypisierung und Ausgrenzung führen.[2] Für alle jungen Menschen in ihrer Vielfalt trägt Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wesentlich dazu bei, dass sie zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit heranwachsen können.

Die Überwindung der Zuständigkeitsspaltung zwischen SGB IX-2. Teil und SGB VIII, der sich junge Menschen mit (drohender) körperlicher oder geistiger Behinderung und ihre Familien nach wie vor gegenübersehen, führt dazu, dass junge Menschen mit Behinderungen zu vielfältigen Streitigkeiten zwischen den Behörden (Jugendamt und Eingliederungshilfe) verloren gehen. Kinder, Jugendliche und Familien werden hin und her geschoben, durchlaufen wieder und wieder aufwendige Prüf- und Begutachtungsverfahren, erhalten keine, verspätet oder nur unzureichend Hilfen. Obgleich politisch verschiedentlich – etwa mit dem BTHG und Teilen des KJSG – Verbesserung der Zusammenarbeit an den Schnittstellen angestrebt wurden, verhindert die rechtlich gezogene Trennlinie eine ganzheitliche Wahrnehmung der Familien, eine ganzheitliche Wahrnehmung der jungen Menschen mit ihren Aufwachsens- und Teilhabebedarfen. Eine inklusive Leistungsgewährung und -erbringung ist bisher seltene Ausnahme. Nicht nur aufgrund der UN-BRK, sondern auch aus Respekt gegenüber dem grund- und menschenrechtlich verankerten Schutz der Familie ist die Inklusiven Lösung aus Sicht der AGJ zwingend geboten. Ohne sie werden weder die Minderjährigen vorrangig als Kind bzw. Jugendliche statt als Menschen mit Behinderungen betrachtet noch wird auf die Unterstützungsbedarfe der Eltern angemessen eingegangen.


III. Zeit sinnvoll nutzen und Befürchtungen angehen

Das durch das KJSG vorgegebene dreistufige Vorgehen, das mit Inkrafttreten der nun zu diskutierenden Reform und der Abschaffung des die Zuständigkeitsspaltung normierenden § 10 Abs. 4 SGB VIII zum 01.01.2028 endet, wurde auch deswegen so einhellig fachpolitisch begrüßt, weil die siebenjährige Übergangsfrist Raum zur Klärung der komplexen fachlichen und strukturell-organisatorischen Fragestellungen und der aus diesen abzuleitenden Rechtsetzungserfordernisse gibt. Den Diskussions- und anschließenden Gesetzgebungsprozess, der jedenfalls mit einer Verkündung der Reform im Bundesgesetzblatt zum 01.01.2027 beendet sein muss (Art. 10 Abs. 3 KJSG), schon in dieser Legislaturperiode vorzunehmen[3], zeugt von einer bedachten und klugen Zeitökonomie, da der Praxis durch eine vorgezogene Verkündung bei gleichbleibendem Inkrafttreten mehr als das Jahr 2027 Zeit für den komplexen Umstellungs- und Verwaltungsstrukturreformprozess eingeräumt wird.

1. Anregung die gegenüber der Reform bestehenden Sorgen und Hoffnungen explizit im Arbeitsprozess der Bundes-AG „Inklusives SGB VIII“ aufzugreifen

Als steuernder Akteur ist das BMFSFJ (unterstützt durch die SPI-Geschäftsstelle) mit der komplexen Aufgabe betraut, aufzuzeigen, an welchen Themen anknüpfend auch relativ diffus wabernde Sorgen / Hoffnungen zur Reform besprochen werden sollen. Eine Sammlung solcher Sorgen und Hoffnungen erfolgte z. B. im Rahmen der Auftaktveranstaltung am 27.06.2022. Die AGJ nimmt an, dass eine diese Hoffnungen und Sorgen aufgreifende Übersicht, die also über die zur Bundes-AG-Sitzung am 17.11.2022 als Arbeitsplanung vorgelegte Themenliste hinausginge, zu einer Beruhigung und Versachlichung der Diskussion beitragen würde.

Auch wenn klar ist, dass ein Beteiligungsprozess wie „Gemeinsam zum Ziel: Inklusive Kinder- und Jugendhilfe gestalten!“ keine vorgezogene Diskussion etwa eines Referentenentwurfs sein soll und kann, sondern vielmehr für dessen Erstellung Abwägungen und Einschätzungen zuliefert, bleiben die internen zur Vorbereitung der Sitzungen durch das BMFSFJ vorgelegten Arbeitspapiere und die begleitende Aufbereitung des Diskussionsprozesses auf der zentralen Webseite www.gemeinsam-zum-ziel.org (noch) hinter den Erwartungen der Fachwelt zurück. Die in den Arbeitspapieren aufgeworfenen Handlungsoptionen bewegen sich überwiegend auf einer sehr abstrakten Flughöhe. Aus Sicht der AGJ braucht es über die beschriebenen Grundpfeiler hinaus zumindest ungefähre Formulierungshinweise, um die Ausgestaltung und ihre Folgen sinnvoll erörtern zu können. Ein gelungenes Beispiel hierfür war allerdings der Vorschlag eines einheitlichen offenen Leistungskatalogs im BMFSFJ-Arbeitspapier zur Sitzung am 20.04.2023, die AGJ bittet diesen methodischen Ansatz fortzusetzen.

Die AGJ regt ergänzend an, für die Fachwelt sichtbar zu machen, an welchen Stellen der Diskussion das BMFSFJ es für zielführend hält, auf mit der Reform verbundene konkrete Sorgen und Hoffnungen einzugehen. Eine konkretisierende Zuordnung könnte beispielsweise wie folgt aussehen:

  • Familien von Kindern mit Behinderung fürchten, dass sie von den Jugendämtern in ihrem Wunsch auf autonomen Entscheidungen hinsichtlich ihrer Lebensführung und -gestaltung eingeschränkt werden könnten und sie künftig ihr Erziehungsverhalten stetig rechtfertigen müssen. Bei der Erörterung von „Hilfeplanung“, dem „Wunsch- und Wahlrecht“ und der „Kombination mit anderen Leistungen“ ist das Selbstbestimmungsrecht der Adressat*innen aufzugreifen, das ein wichtiges Prinzip der Kinder- und Jugendhilfe ist und in das vom Jugendamt sowie Familiengericht nur bei Kindeswohlgefährdung eingegriffen werden darf. Unterhalb dieser Schwelle bleibt es bei einer fachlichen Beratung durch die Jugendämter und einem die Lebensentscheidungen der Familie respektierenden Hinwirken auf die Inanspruchnahme der ihnen als Rechteinhaber zustehenden Leistungen.
  • Ob oder inwieweit ärztliche Stellungnahmen für die Bedarfserfassung und nachfolgende Leistungsgewährung determinierend seien werden, ist eine kursierende Sorge unter Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe – teils auch der Careleaver*innen. Mit anderen dahinterstehenden Befürchtungen wird diese Frage auch innerhalb der Eingliederungshilfe sowie Ärztevertreter*innen eingebracht. Es handelt sich jedoch nicht um eine Frage der Ausgestaltung des Leistungsanspruchs (oder gar der Ausgestaltung der durch das KJSG zum Jahr 2024 eingeführten Verfahrenslotsen), sondern eine Diskussion die hinsichtlich der Verfahrensvorgaben zu führen ist. Richtig ist allerdings, dass sich die Verfahrensvorgaben zur Leistungsgewährung auf Bestandteile der Anspruchsnorm beziehen werden. So wird bei der Bedarfsermittlung im Rahmen der Hilfeplanung geprüft, ob die in der Anspruchsgrundlage genannten Tatbestandsvoraussetzungen (Bedarfe) gegeben sind.
  • Der Fachkräftemangel lässt sich qua Regelung im SGB VIII nicht lösen, aber dessen Auswirkungen und der notwendige Umgang mit diesem können im Zusammenhang mit dem Fachkräftegebot diskutiert werden (etwa um zu klären, ob die in der Eingliederungshilfe durchaus üblichen sog. Ergänzungskräfte möglich bleiben und welche Folgen das für die Qualität der Leistungen hat).
  • Um eine realistische Unterstützung durch den Bund der für die Umsetzung der Reform notwendigen Verwaltungsstrukturveränderungen, des fachlichen Verständigungsprozesses zwischen den zusammenwachsenden Systemen und zum entstehenden (Weiter-)Qualifikationsbedarfs wird es bei der Erörterung des Themas „Umstellung und Übergangsphase“ gehen müssen.
  • Die zusammenzuführenden Systeme prägenden Paradigmen, aber auch gemachten Erfahrungen mit Rechtsnormen werden die Debatte immer wieder kennzeichnen. Hier gilt es, „das Fremde“ nicht zu verteufeln und „das Eigene“ nicht zu glorifizieren, sondern stets die Beweggründe und die tatsächliche Umsetzungspraxis in den Blick zu nehmen. Inklusion bedeutet auch, sich von autonomer Deutungshoheit zu lösen und sich zu öffnen für ein Zusammenkommen und Zusammengehören.
  • Die in den Systemen deutlich spürbare Begrenztheit der Ressourcen führt bereits aktuell immer wieder zu einem Ringen um bedarfsgerechte Leistungen. Das KJSG gibt vor, dass es durch die Reform einerseits zu keinen Verschlechterungen für leistungsberechtige oder kostenpflichtige Personen, andererseits zu keiner Ausweitung des Kreises der Leistungsberechtigten sowie des Leistungsumfangs kommen dürfe (§ 107 Abs. 2 S. 2 SGB VIII). Beides führt zu großer Unruhe und weckt Befürchtungen, es könne sich eh nichts ändern oder die Reform werde als Möglichkeit für heimliche Kürzungen oder weitere Ressourcenverschiebung missbraucht.
    Hier sozialpolitisch aufzuzeigen, ob und wie fachliche und haushalterische Erwägungen in Einklang gebracht werden können, ist eine große Herausforderung. So kann und soll im Rahmen der Reform z. B. rechtlich abgesichert werden, dass durch einen pauschalen Hinweis auf eine vorgeblich inklusive Infrastruktur die individuellen Rechteansprüche auf Teilhabeleistungen nicht ausgehebelt werden können und diese weiter bestehen, wenn der spezifische Bedarf noch nicht gedeckt ist.


2. Über Gestaltungsoptionen reden – Finanzierungfragen nicht vorweggreifen

Vor einer Bewertung der in den Arbeitspapieren vorgestellten Handlungsoptionen ist es der AGJ wichtig, übergeordnete Aspekte zum Damoklesschwert Finanzierung zu benennen[4]. Sie befürchtet, dass diese sonst die Diskussion insgesamt überschattet und ablenkt. Sowohl bei der Frage der Ausgestaltung der Anspruchsnorm auf der Tatbestandsseite, wie auch beim Regelungsgegenstand „Leistungskatalog“ auf der Rechtsfolgenseite sind finanzielle Konsequenzen nur schwer abzusehen. Dabei gilt zu differenzieren, ob veränderte Kostenfolgen auf eine (bislang nicht wahrgenommene) tatsächliche Inanspruchnahme von bestehenden Sozialleistungen, auf eine (nicht-intendierte) Öffnung für einen breiteren Kreis von Leistungsberechtigten oder auf (neuartig) andere fachliche Hilfeansätze beruhen. Die frühzeitige Fokussierung auf Kostenfolgen droht zudem zu verhindern, die notwendigen inklusiven Weiterentwicklungen anzugehen. Inklusion braucht Veränderung auf allen Seiten.

  •     Selbstverständlich spielen Kostenfolge bei einer Reform eine wichtige Rolle. Dies wird natürlicherweise etwa bei den Positionierungen der Kostenträger (Länder, Kommunen) deutlich. Dennoch ist problematisch, wenn vermeintliche Kostenfolgen verhindern, die Bedarfe junger Menschen und ihrer Familien überhaupt in den Blick zu nehmen. Im Nachdenken über diese Reform ist es wesentlich, gemeinsam auszuloten, welchen Belastungen und Benachteiligungen den Lebenslagen der Adressat*innen zugrunde liegen und welche Regelungslösungen für die Unterstützung und Förderung möglichst wirkungsvoll erscheinen. Erst wenn eine Verständigung darüber möglich war, liegt überhaupt erst eine politische Grundlage für die Finanzverhandlungen zwischen Bund und Ländern vor.
  • Verbesserungen – um die es bei der Reform einhellig gehen soll – sind bekanntlich selten zum Nulltarif zu haben. Teilhabe und Chancengerechtigkeit von jungen Menschen mit Behinderungen sollen durch die Reform verbessert werden. Familien mit einem Kind mit (Komplexen Behinderungen (schweren und/oder mehrfachen Behinderungen) gehören zu den am stärksten belasteten in der Gesellschaft.[5] Wenn ihnen durch die Reform endlich der Zugang zu den ihnen zustehenden Leistungen ermöglicht werden soll, ist es in einem den Grundrechten von jungen Menschen sowie der Förderung von Familien verpflichteten Sozialstaat unredlich, dies mit Zuschreibungen wie Kostensteigerungen oder Leistungsausweitungen zu diskreditieren. Wenn Staat und Gesellschaft den Betroffenen bislang nicht gerecht geworden sind, dann wird es nun höchste Zeit. 
  • In die Verhandlungen sind auch volkswirtschaftliche Effekte einzubeziehen. Durch die Ermöglichung chancengerechter Teilhabe und eine gute Versorgung für Kinder und Jugendliche wird nicht nur deren Lebenssituation verbessert, sondern auch staatlichen Folgekosten im Erwachsenenalter vorgebeugt. Die Unterstützung belasteter Eltern kommt allen zugute: den Kindern, den Eltern, Staat und Gesellschaft.

Die Bundes-AG „Inklusives SGB VIII“ im Beteiligungsprozess kann fachliche Bewertungen vornehmen, ist aber der falsche Ort für die politische Bewertung, ob und wofür ist der Staat bereit ist, Geld (zusätzlich) auszugeben. Ein auf möglichen Kostenfolgen begründete Tabuisierung von Verbesserungen wäre verfrüht und verfehlt das Ziel einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe.


IV. Zu den im BMFSFJ-Arbeitspapier vom 09.01.2023 aufgeworfenen Handlungsoptionen

TOP 1: Ausgestaltung des Leistungstatbestandes

Ausgestaltung der Anspruchsgrundlage(n)

Die AGJ spricht sich für die Formulierung einer gemeinsamen Anspruchsnorm aus, in der die bestehenden Anspruchsnormen Hilfe zur Erziehung (§ 27 SGB VIII) und Eingliederungshilfe (§§ 35a SGB VIII, 53f SGB XII bzw. SGB IX-2.Teil) zusammengeführt werden (Ablehnung Option 1). Sie baut dabei auf den Diskussionen unter der nicht zielführenden Überschrift „einheitliche Anspruchsgrundlage“ auf, hält aber aus Gründen der Rechtsklarheit und zur Ermöglichung einer an den erprobten Fallgruppen angelehnten Leistungsgewährung und letztlich auch Rechtsdurchsetzung eine Konstruktion abweichend von den Optionen 2 und 3 für zielführend. Statt des inzwischen durch ganz verschiedene Vorstellungen geprägten Begriffs der „Einheitlichkeit“, trifft der Begriff „zusammenführende Anspruchsgrundlage“ (ggf. auch „aufeinander bezogene Anspruchsgrundlagen“) die Vorstellungen der AGJ besser.
Die AGJ möchte zudem für die Diskussion darauf hinweisen, dass sich jede Anspruchsgrundlage aus Tatbestand/-svoraussetzungen („wenn…“) und Rechtsfolge („dann…“ – dazu IV. TOP 2 sowie V. TOP 1) zusammensetzt. Da beide Bestandteile theoretisch „einheitlich“ oder „differenziert“ ausgestaltet werden können, erleichtert es die Verständigung miteinander, wenn in Diskussionsbeiträgen präzise zwischen Anspruchsgrundlage (als Ganzes), Tatbestand/-svoraussetzungen und Rechtsfolge unterschieden wird.

a) Benennung der Norm

Die Begriffe „Leistungen“ und „Hilfen“ sind in den Systemen Eingliederungshilfe sowie Kinder- und Jugendhilfe mit einem unterschiedlichen fachlichen Verständnis unterlegt, was die Ausrichtung der Unterstützung sowie das implizite Verhältnis der Leistungsberechtigten zum öffentlichen Leistungsträger betrifft. Beide haben jeweils für sich ihre Berechtigung. Da die systemische Ausrichtung, die besondere Position von Minderjährigen im Gefüge ihrer Familie und ein Bewusstsein für das asymmetrische Verhältnis während der Leistungserbringung sowie die besonderen Verständigungsprozesse sich in der Kinder- und Jugendhilfe auch im Begriff Hilfe bzw. Hilfeplanung widerspiegeln, tendiert die AGJ zu einer Beibehaltung des Begriffs „Hilfe“ im SGB VIII, insbesondere als identitätsstiftende Begrifflichkeit in den „Hilfen zur Erziehung“.

b) Aufbau der Norm (Tatbestand und Rechtsfolge)

Die AGJ spricht sich gegen die Konstruktion mehrerer unabhängiger Anspruchsnormen, sondern für eine Anspruchsnorm aus, die sich aus mehreren aufeinander bezogenen Tatbeständen bzw. zwei Tatbestandsalternativen zusammensetzt (erzieherischer Bedarf – behinderungsbedingter Teilhabebedarf). Beide Tatbestandsalternativen sollen zur gleichen Rechtsfolge führen: einem offenen Leistungskatalog, aus dem bedarfsentsprechend eine oder mehrere Leistungsarten ausgewählt werden können. Dabei ist selbstredend sicherzustellen, dass den jungen Menschen mit einem behinderungsbedingten Teilhabebedarf neben dem Zugang zu den bisherigen Hilfen zur Erziehung, der allen jungen Menschen offensteht, auch weiterhin uneingeschränkt der Zugang zu den Leistungen des SGB IX-Teil 1 eröffnet ist. Nach dem Verständnis der AGJ spiegelt sich der Name dieses Leistungskatalogs in der Überschrift der gemeinsamen Anspruchsnorm wider und bildet so (in den Worten des BMFSFJ-Arbeitspapiers) das zusammenführende „Dach“.

Da der Leistungskatalog sowohl den Zugang zu den Hilfen zur Erziehung sowie den Teilhabeleistungen eröffnen soll, sollte seine Benennung jedenfalls „zur Erziehung“ und „zur Teilhabe“ umfassen. Beides ist gezielt förder-/unterstützbar. Entwicklung hingegen hat einen nicht-steuerbaren Charakter. Im Fall der Aufnahme des Begriffs „zur Entwicklung“ sollte das bedacht werden. Für eine solche Aufnahme spricht aus Sicht der AGJ jedoch, dass Entwicklungsverläufe hin zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit eben die zentrale Zielbestimmung (§ 1 SGB VIII) darstellen. Für alle jungen Menschen in ihrer Vielfalt trägt sowohl Erziehung wie auch Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wesentlich dazu bei, dass sie zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit heranwachsen können. Das macht einen Dreiklang aus „Entwicklung, Teilhabe und Erziehung“ oder (eher) „Entwicklung, Erziehung und Teilhabe“ schlüssig.

c) Gelingensfaktoren, die bei der Formulierung zu beachten sein werden

Die genaue Formulierung der Anspruchsnorm wird weiteren Erörterungsbedarf nach sich ziehen. Bereits jetzt lässt sich hervorheben, dass beide Tatbestandsalternativen sowohl kumulativ als auch alternativ zu einer Auslösung der Rechtsfolge führen sollten. Es muss deutlich werden, dass sowohl bei einem erzieherischen Bedarf (allein) als auch bei einem behinderungsbedingten Teilhabebedarf (allein) als auch bei einem verschränkten Bedarf (zusammen) eine Anspruchsberechtigung besteht.

Um eine an den erprobten Fallgruppen angelehnte Leistungsgewährung zu ermöglichen, bietet sich Formulierung der Tatbestandsvoraussetzungen nah an den aktuell verwendeten Formulierungen an. So wird eine Bezugnahme auf existierende fachliche Hinweise und letztlich auch bereits von Adressat*innen errungene Rechtsprechung erleichtert und kann auch Sorgen, um mit der Gesamtzuständigkeit (heimlich) wegfallende Leistungen entgegengetreten werden.

Behinderung(en) als Anspruchsvoraussetzung

a) Begriff

Die AGJ begrüßt, dass das Arbeitspapier keinen Zweifel zulässt, dass mit der nun angestrebten Reform endlich die Anspruchsnorm den „modernen“ Behinderungsbegriff aufgreifen soll, der auf eine Wechselwirkung zwischen (drohender) körperlicher/geistiger/seelische Beeinträchtigung und einstellungs-/Umweltbarrieren abstellt und in der UN-BRK vorgegeben ist. Das KJSG hatte es trotz Übertragung der Definition (§ 7 Abs. 2 SGB VIII, § 2 Abs. 1 SGB IX) bei einer Abweichung im § 35a SGB VIII belassen.

b) Wesentlichkeitskriterium

Die AGJ hat sich bereits früher gegen die Aufnahme des sog. Wesentlichkeitskriteriums ausgesprochen und folgt daher Option 1. Das Wesentlichkeitskriterium widerspricht zum einen dem Präventionsparadigma, das früh und auch bei drohender Behinderung ein Recht auf Hilfe fordert, zum anderen passt es nicht zu den dynamischen Entwicklungsverläufen Minderjähriger. Die AGJ erinnert daran, dass in der im Rahmen von „Mitreden – Mitgestalten“ geführten Diskussion von Expert*innen der Eingliederungshilfe ferner vorgetragen worden war, dass diese Anspruchseinschränkung für junge Menschen zwar zu Streitigkeiten führe, aber praktisch aus den o.g. Gründen ohne Bedeutung bleibe. Trotz des Wegfalls des Kriteriums müsste politisch also keine gesteigerte Inanspruchnahme von Leistungen und damit einhergehende Kostensteigerung für die Kommunen gefürchtet werden.

c) Erfüllung der Aufgabe der Eingliederungshilfe sowie Verweis auf die Eingliederungshilfeverordnung

Aus Sicht der AGJ ist nicht erkennbar, inwiefern weitere Anspruchsvoraussetzungen zu einer zielgerichteteren Leistungsgewährung beitragen können – etwa indem sie den Kreis der Anspruchsberechtigten auf einen aus guten Gründen besonders zu unterstützenden Kreis einschränken. Aus bereits zum Wesentlichkeitskriterium genannten Gründen lehnt die AGJ daher eine Aufnahme ab (jeweils Option 2).

Anspruchsinhaberschaft

Die AGJ spricht sich entschieden für eine Anspruchsinhaberschaft der Kinder und Jugendlichen sowie spiegelbildlich der Personensorgeberechtigten aus (Option 3). So wird zum einen die eigenständige Rechtsposition / Berechtigung auf Grund der Bedarfslagen der jungen Menschen sichtbar gemacht und kann zum anderen auch die Rechtsposition der Eltern und ihren Unterstützungsbedarfen Rechnung getragen werden. Keine der aufgeworfenen Optionen würde die allgemeinen Regeln der gesetzlichen Vertretung Minderjähriger durch ihre Personensorgeberechtigten antasten. Dennoch würde mit Option 3 ein deutliches gesetzgeberisches Zeichen für die systemische Ausrichtung gesetzt werden.

Anders das im Arbeitspapier zu Option 3 suggeriert, stellt sich die AGJ die Ausgestaltung aber nicht als eine Formulierung von zwei Ansprüchen in zwei getrennten Anspruchsgrundlagen vor. Sie regt vielmehr an, einen gemeinsamen Anspruch zu schaffen, der beide Bedarfslagen und Rechtspositionen aufgreift und der die Personensorgeberechtigten und jungen Menschen – salopp formuliert – wie Gesamtgläubiger begreift. Zwar bliebe es im Konfliktfall zwischen dem*der Minderjährigen und seinen Personensorgeberechtigten aufgrund des gesetzlichen Vertretungsrechts letztlich beim Vetorecht der Eltern (siehe § 36 SGB I), die Position und Sichtweise des jungen Menschen wäre durch die gemeinsame Anspruchsberechtigung jedoch gestärkt. Soweit sich trotz fachlichen Bemühens der zuständigen Fachkraft im Jugendamt kein Einvernehmen herstellen ließe, bliebe es (wie bisher) dabei, dass das Familiengericht anzurufen wäre (§ 1666 BGB), z. B. wegen eines Gebots die öffentliche Hilfe in Anspruch zu nehmen oder die Erklärung des*der Personensorgeberechtigten zu ersetzen. Im Rahmen von „Mitreden – Mitgestalten“ deutete das BMFSFJ rechtsdogmatische Bedenken aus dem BMJV gegen eine solche Konstruktion an. Die AGJ möchte hier nochmal ihre Offenheit unterstreichen, sich mit diesen Bedenken auseinanderzusetzen – kennt diese und ihre Begründung bislang aber nicht. Die AGJ schließt nicht aus, dass sie sich nach einer vertieften Auseinandersetzung doch den Fürsprechern von Option 1 anschließen wird.

Teilhabebedarfe ohne Behinderungsbezug

Die AGJ erkennt an, dass es die jetzige Reformdiskussion überfrachten würde, zusätzlichen Adressat*innengruppen ebenfalls eine Anspruchsberechtigung und damit den Zugang zu den intensiveren, individuellen Leistungen zu verschaffen. Insbesondere bei jungen Menschen, deren Familien in Armut leben, fallen immer wieder Teilhabebedarfe auf.

Die AGJ begrüßt das parallel zu diesem Gesetzgebungsvorhaben vorangetriebene Vorhaben, eine Kindergrundsicherung einzuführen, weil sie darin einen wichtigen Schritt zur Bekämpfung von Kinderarmut und zur Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe von Kindern und Jugendlichen sieht.[6] Sie ist bereit mitzutragen, dass deshalb hier eine Fokussierung auf die Überwindung der Zuständigkeitsspaltung durch die „inklusive Lösung“ erfolgt und warnt deshalb davor, den hiermit erzielten Fortschritt kleinzureden oder zu gefährden, weil nicht alle noch viel weitergehend vorstellbaren, ebenfalls politisch anzustrebenden Verbesserungen mit dieser Reform verbunden werden können.

Die Erkenntnis, dass das System auch nach der hier angestrebten Reform Lücken haben wird und um Verbesserungen gerungen werden muss, wird wohl an verschiedenen Stellen in den bevorstehenden Sitzungen unumgänglich sein. Es macht die Reform aber nicht weniger bedeutsam und erstrebenswert.

Übergang ins Erwachsensystem

Neben der hier diskutierten Anspruchsgrundlage stellen sich Fragen zum Übergang ins Erwachsensystem, aber auch welche Anspruchsgrundlage ab Erreichen der Volljährigkeit gelten wird. Wie und unter welchen Voraussetzungen werden junge Menschen mit Behinderungen von der Hilfe für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII) erfasst? Sind Änderungen an dieser Anspruchsgrundlage oder eine weitere Anspruchsgrundlage erforderlich? Welche Altersgrenzen werden gelten? Werden die durch das KJSG reformierten Rechtsnormen zur Übergangsgestaltung (§ 36b SGB VIII) verändert?

Die AGJ weist darauf hin, dass diese Fragen laut der Festlegungen zur inhaltlichen Gestaltung der Bundes-AG-Sitzungen am 27.06.2023 aufgegriffen werden sollen. 

TOP 2: Art und Umfang der Leistungen / Leistungskatalog

1. Leistungskatalog (vgl. dazu auch Vertiefung unter V. zu den im nachfolgenden BMFSFJ-Arbeitspapier konkretisierten Optionen)

a) Aufbau der Rechtsfolge innerhalb der Norm

Wie zum Aufbau der Anspruchsgrundlage bereits ausgeführt wurde (hier: TOP 1 Nr. 1 b), spricht sich die AGJ für eine zusammenführende Anspruchsnorm aus, die sich aus zwei aufeinander bezogenen Tatbestandsalternativen zusammensetzt (erzieherischer Bedarf – behinderungsbedingter Teilhabebedarf), die zur gleichen Rechtsfolge führen: einem offenen Leistungskatalog, aus dem bedarfsentsprechend eine oder mehrere Leistungsarten ausgewählt werden können.

Entsprechend der Option 3 spricht sich die AGJ also für einen einheitlichen, offenen Leistungskatalog aus, der alle Hilfe-/Leistungsarten der HzE und der Eingliederungshilfe zusammenführt und aus dem bedarfsentsprechend eine oder mehrere Leistungsarten ausgewählt werden können. Es ist sicherzustellen, dass den jungen Menschen mit einem behinderungsbedingten Teilhabebedarf und ihren Familien neben dem Zugang zu den bisherigen Hilfen zur Erziehung jedenfalls auch der Zugang zu den Leistungen des SGB IX-Teil 1 weiter eröffnet ist. Durch die Herstellung der Gesamtzuständigkeit dürfen keine Leistungen verloren gehen.

b) Verweisungen ins SGB IX

Die AGJ spricht sich entschieden dafür aus, systematisch zu berücksichtigen, dass das SGB IX-2. Teil ein Leistungsgesetz ist. Es sollte nicht vom Leistungsgesetz SGB VIII ins Leistungsgesetz SGB IX-2. Teil verwiesen werden (Ablehnung Option 1, vgl. auch V. TOP 1 1.), hingegen ist zu gewährleisten, dass der Zugang zu den Teilhabeleistungen der Kapitel 9, 10, 12 und 13 des SGB IX-1. Teil eröffnet wird. Hierbei handelt es sich um die allgemeinen Vorschriften, die für alle Rehabilitationsträger gelten und die auch nach Herstellung der inklusiven Lösung bezogen auf die Eingliederungshilfe für junge Menschen mit Behinderung weiter Gültigkeit behalten.

Kurz gefasst, spricht sich die AGJ dafür aus, den Katalog möglichst konkret im SGB VIII auszuformen und dabei auf die für die Rechtsanwender*innen schwer erfassbaren Verweise soweit wie möglich zu verzichten. Soweit Verweise notwendig erscheinen, sollten diese auf das SGB IX-1. Teil erfolgen. 

c) Leistungsarten im Katalog

Um Praxisentwicklung aufzugreifen und anzuregen, spricht sich die AGJ ferner für eine konkrete Benennung von Leistungsarten zur Unterstützung von jungen Menschen mit Behinderungen und ihrer Familien aus. Durch einen solchen Katalog macht der Gesetzgeber deutlich, welche Leistungsarten flächendeckend prinzipiell erwartet werden können, er regt die Angebotsentwicklung und Jugendhilfeplanung an. Dabei könnte eine Durchsicht der Kapitel 3 bis 6 SGB IX-2. Teil anregend für die Verfassung des mit der Reform fortzuschreibenden Katalogs im SGB VIII sein, aber auch das Erzielen eines Wiedererkennungseffekts hinsichtlich bestehender Leistungsarten ist sachgerecht. 

Die AGJ hat den Wunsch, anhand einer Auflistung bestehender, ggf. entsprechend der Bedarfe von jungen Menschen und ihren Familien weiterentwickelter oder auch neu entsprechend dieser Bedarfe ausgedachten Leistungsarten zu diskutieren und hätte sich das auch schon für die Sitzung am 14.02.2023 gewünscht. Das BMFSFJ hat diesen Wunsch in seinem Arbeitspapier vom 23.03.2023 aufgegriffen (vgl. deshalb auch unter V. TOP 1 3.), was als sehr hilfreich in der Bundes-AG-Sitzung am 20.04.2023 begrüßt wurde. So wird eine Abwägung möglich, ob alle Leistungsarten für beide Bedarfsgruppen geöffnet werden sollen („einheitlich“) oder ob bei bestimmten Leistungsarten eine primäre Zuordnung sinnvoll erscheint. Letzteres könnte als gesetzgeberisches Signal dienen, bestimmte Leistungen und die damit verbundenen Ressourcen in erster Linie bei bestimmten Bedarfen einzusetzen. Der AGJ erscheint z. B. nicht abwegig, dass ein großer Teil der Rehabilitationsleistungen in erster Linie bei behinderungsbedingten Teilhabebedarfen eingesetzt werden sollen (vgl. dazu unter V. TOP 1 NEU). Aufgrund des „offenen Charakters“ des Leistungskatalogs, der ja auch ein Ausdenken jeder Leistungsart über den Katalog hinaus ermöglicht, besteht ja dennoch die Freiheit, möglicherweise sogar die Pflicht, diese Leistungsart im Einzelfall dennoch zu gewähren.

Die AGJ spricht sich für eine ausdrückliche Benennung im Katalog von Leistungen mit sogenanntem Drittbezug an, also z. B. familienunterstützende Dienste zur Entlastung oder Stärkung der Eltern oder Angebote für Geschwister, da der Entlastungs- und Stärkungsbedarf der Eltern von Kindern mit Behinderungen bisher – in Folge der Zuständigkeitsspaltung – in keinem Sozialgesetzbuch hinreichend berücksichtigt ist (vgl. dazu unter V. TOP 1 3.). Zudem sind weitere Gelingensfaktoren im Kontext der Rechtsfolgenseite zu beachten (vgl. dazu unter V. TOP 2 5.).

2. Persönliches Budget

Die AGJ spricht sich dafür aus, die Möglichkeit des persönlichen Budgets ausdrücklich im SGB VIII für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen zu verankern (Anknüpfung an Option 1). Dieses legislative Zeichen wäre gerade vor dem Hintergrund uneinheitlicher Rechtsprechung wichtig, die teils pauschal die Anwendung des persönlichen Budgets für die Kinder- und Jugendhilfe ablehnt. § 29 SGB IX gilt als Vorschrift des 1. Teils aber schon jetzt unzweifelhaft für die Jugendhilfe als Rehabilitationsträger und wird auch durch die hier diskutierte Reform bezogen auf die Teilhabeleistungen für junge Menschen mit Behinderungen weiter anzuerkennen bleiben. 

Als sehr interessant wurde von der AGJ schon die Diskussion während der AG-Sitzung im Prozess „Mitreden – Mitgestalten“ wahrgenommen, ob in der Möglichkeit des Persönlichen Budgets auch Potenziale für eine Stärkung der Selbstbestimmung der Adressatinnen und Adressaten von Hilfen zur Erziehung stecken. Die Leistung in Form von Geldzahlungen könnten etwa für Careleaver*innen sogar aktivierend wirken. Allerdings wäre die mit dem Persönlichen Budget erreichte weitgehende Unabhängigkeit vom Leistungsträger gerade in Fällen mit Kinderschutzkontext kontraindiziert. Hier braucht es dringend die enge Anbindung an die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, damit deren Kontrollauftrag im Rahmen des Wächteramts greifen kann. Bei den Leistungen im Katalog der Hilfen zur Erziehung scheidet ein Rechtsanspruch auf Persönliches Budget aus Sicht der AGJ folglich aus. Sehr wohl kann es sich aber lohnen, über andere Wege und Instrumente zur Aktivierung der Selbstbestimmung im Kontext der Hilfeplanung oder des Wunsch- und Wahlrechts erneut zu sprechen (vgl. dazu auch unter V TOP 2 5.).


V. Zu den im BMFSFJ-Arbeitspapier vom 23.03.2023 aufgeworfenen Handlungsoptionen

TOP 1: Inklusive und kindspezifische Ausgestaltung der Hilfe- und Leistungsarten

Wie im Arbeitspapier eingeführt ist, hängt die nun im Fokus der Sitzung stehende Gestaltung der Rechtsfolgenseite mit der Grundkonstruktion der Anspruchsnorm zusammen.    Die AGJ sprach sich bereits gegen die Konstruktion mehrerer unabhängiger Anspruchsnormen und für die Formulierung einer gemeinsamen Anspruchsnorm aus, in der die bestehenden Anspruchsnormen Hilfe zur Erziehung (§ 27 SGB VIII) und Eingliederungshilfe (§§ 35a SGB VIII, 53f SGB XII bzw. SGB IX-2.Teil) zusammengeführt werden (vgl. dazu IV TOP 1 1.). Sie hat bereits deutlich gemacht[7], dass sie mehrere aufeinander bezogene Tatbestände/zwei Tatbestandsalternativen (erzieherischer Bedarf – behinderungsbedingter Teilhabebedarf) für sinnvoll hält und favorisiert, dass beide Tatbestandsalternativen zur gleichen Rechtsfolge führen: einem offenen Leistungskatalog, aus dem bedarfsentsprechend eine oder mehrere Leistungsarten ausgewählt werden können. Die AGJ spricht sich für einen einheitlichen, offenen Leistungskatalog (Option 3) aus, der alle Hilfe-/Leistungsarten der HzE und der Eingliederungshilfe zusammenführt und aus dem bedarfsentsprechend eine oder mehrere Leistungsarten ausgewählt werden können.

Im Folgenden werden dennoch auch Anmerkungen auch zu den daneben in den Arbeitspapieren vorgeschlagenen Varianten getrennter Kataloge (Option 1 und 2) gemacht, obgleich die AGJ diese nicht favorisiert und insbesondere die Konstruktion des alleinigen Verweises auf das SGB IX Teil 2 (Option 1) ablehnt. Nach der Auseinandersetzung mit den im Arbeitspapier vorgeschlagenen Option 2 und 3 stellt die AGJ ihre bereits angerissene Idee eine Kombination dieser Ansätze vorstellen (inklusiver Leistungskatalog zur Unterstützung der Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsverantwortung sowie Leistungen zur Förderung des familiären Beziehungsgefüges in Kombination mit einem insbesondere zur Begegnung von behinderungsbedingten Bedarfen greifenden Katalog von Teilhabeleistung, vgl. dazu schon IV. TOP 2 1.).

Für die allgemeine Diskussion möchte die AGJ jedoch zuerst noch zur Begriffsklärung und rechtssystematischen Erläuterung voranstellen, dass die Rechtsfolge üblicherweise innerhalb der Anspruchsnorm festgelegt wird (z. B. „… hat einen Anspruch auf Hilfe zur Entwicklung, Erziehung und Teilhabe“). Diese Rechtsfolge kann durch einen Leistungskatalog konkretisiert werden, der eine Auflistung unterschiedlicher Leistungsarten enthält, aus denen ausgewählt werden kann. Teils werden die Leistungsarten nochmals in unterschiedliche Leistungsgruppen sortiert (siehe etwa § 5 SGB IX Teil 1). Handelt es sich um einen offenen Leistungskatalog ist die Auflistung nur exemplarisch und weitere ungeschriebene Leistungsarten denkbar. 

1. ABLEHNUNG: Fortführung getrennter Leistungskataloge für Hilfen zur Erziehung und Leistungen der Eingliederungshilfe, letzterer durch Verweis auf das SGB IX Teil 2

Sowohl die Träger der Eingliederungshilfe wie auch die öffentlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe sind Rehabilitationsträger, letzter in ihrer Eigenschaft auf die von ihnen (jetzt und künftig) für junge Menschen mit Behinderung erbrachten Teilhabeleistungen. Für sie gilt als Rehabilitationsträger unzweifelhaft das SGB IX 1. Teil mit seinen allgemeinen Vorschriften, von denen zudem die Kap. 2 bis 4 abweichungsfestes Recht ist (§ 7 Abs. 2 S. 1 SGB IX, vgl. zum Umgang hiermit auch V. TOP 2 2.). Beide Sozialleistungsträger haben zudem eigene Leistungsgesetze (SGB IX Teil 2 bzw. SGB VIII), die für die Erbringung von Leistungen in ihrem Zuständigkeitsbereich faktisch immer im Fokus stehen, obgleich von den Fachkräften auch Rechtskenntnisse und eine Beratung zu den Leistungen anderer Leistungsträger erwartet wird (§ 14 SGB I, § 10a Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII, § 106 SGB IX Teil 2).

Aus Sicht der AGJ ist nur dann ein Verweis ins SGB IX Teil 2 sinnvoll, wenn es eins zu eins um exakt die gleichen Vorgehensweisen und Leistungen geht. Grundsätzlich sollte aus Sicht der AGJ auf die für die Rechtsanwender*innen schwer erfassbaren Verweise – zumal Mehrfachverweisungen – so weit wie möglich verzichtet werden. Option 1 im BMFSFJ-Arbeitspapier lässt hingegen außer Acht, dass bereits im SGB IX 1. Teil (Kap 9 bis 13) Ausführungen zu Teilhabeleistungen gemacht werden und der Umweg über das „fremde“ Leistungsgesetz SGB IX 2. Teil zu den allgemeinen Vorgaben des SGB IX 1. Teil ausgelassen werden kann und sollte. 

2. ABLEHNUNG: Getrennte Leistungskataloge für Hilfen zur Erziehung und Leistungen der Eingliederungshilfe im SGB VIII

In der Debatte wird von keiner Seite in Frage gestellt, dass bei egal welcher Gestaltung der Anspruchsnorm(en) auf der als Rechtsfolgenseite ein offener Leistungskatalog stehen soll. Aus dem Katalog können bedarfsentsprechend eine oder mehrere Leistungsarten ausgewählt werden, aufgrund seiner Offenheit („insbesondere“) können aber bei entsprechendem Bedarf auch andere, dort nicht konkret benannte Leistungsarten individuell angepasst bzw. neu geschaffen werden können. Dies heißt in der Konsequenz, dass selbst bei getrennten Leistungskatalogen aufgrund seiner öffnenden Gestaltung per se die Möglichkeit (und Pflicht!) bestehen bleibt, einem individuellen Bedarf entsprechend auch eine Leistungsart aus dem anderen Katalog zu gewähren.

Der bzw. die Katalog(e) haben die Funktion den gesetzgeberischen Willen aufzuzeigen, welche Leistungsarten flächendeckend prinzipiell erwartet werden können. Er regt die Angebotsentwicklung in der Praxis und eine auf diese gerichtete Jugendhilfeplanung an. Vor dem Hintergrund dieser Funktion eines Leistungskatalogs bzw. von Leistungskatalogen sind diese möglichst konkret zu gestalten und sollen auch die weiterentwickelten fachlichen Standards aufgreifen, um zu verdeutlichen, was der Gesetzgeber von der Praxis erwartet und worauf sich Leistungsberechtigte verlassen können sollen. Bei getrennten Leistungskatalogen ist sowohl der Leistungskatalog für Hilfen zur Erziehung als auch der Leistungskatalog für Teilhabeleistungen konkret zu fassen und auf die Bedarfe und Lebenslage von jungen Menschen und ihren Familien zu beziehen. Der Vorschlag der Weiterentwicklung der Kataloge findet sich im BMFSFJ-Arbeitspapier in der Option 2c.

Aus Sicht der AGJ ist die konkurrierende Gegenüberstellung im BMFSFJ-Arbeitspapier eines ganzheitlichen, bedarfsübergreifenden (erzieherischen wie teilhabebezogenen) Leistungsansatzes (Variante b) versus der inklusiven Ausgestaltung der Leistungen (Variante c) in Frage zu stellen. Die AGJ hat den mündlichen Erläuterungen des BMFSFJ in der 3. Sitzung am 20.4.2023 ergänzend zum Arbeitspapier entnommen, dass in der Variante b eine Vorschrift aufgenommen werden soll, die eine ganzheitliche, bedarfsübergreifende Umsetzung der Leistungserbringung vorsieht und in der Variante b die Beschreibung der im Katalog genannten Leistungsarten im Katalog weiterentwickelt werden sollen.    Die AGJ ist überzeugt, dass Hilfeansätze besonders gut ganzheitlichen und bedarfsübergreifend gelingen können, wenn sich die Angebote in der Praxis inklusiv weiterentwickeln und dass umgekehrt eine inklusive Weiterentwicklung der Angebote das Anliegen einer ganzheitlichen und ggf. bedarfsübergreifenden Ausrichtung verfolgt. Sie wünscht sich deshalb einen gesetzgeberischen Impuls, dass Angebote so konzipiert und konkret erbracht werden, dass sie soziale Teilhabe in allen Lebensbereichen für junge Menschen unabhängig ihrer individuellen oder auch ihnen zugeschriebener Besonderheiten ermöglichen. Dafür muss sich aber nicht jedes konkrete Angebot für theoretisch jeden jungen Menschen mit seinen*ihren spezifischen Bedarfen öffnen („alles für alle“), aber es ist zu gewährleisten, dass die Angebotspalette insgesamt auch bei spezifischen Bedarfen für jeden jungen Menschen offen ist (Zugänge zu allem) und die einzelnen Angebote ihren Blick schärfen, ob und wie sie vorhandene umweltbedingte Barrieren perpetuieren (un-/intendierte Exklusion).[8]    

3. FAVORISIERT: Einführung eines inklusiven Leistungskatalogs im SGB VIII

Die AGJ hat sich schon im Rahmen des Bundes-Beteiligungsprozesses „Mitreden-Mitgestalten“ und in Reaktion auf das 1. BMFSFJ-Arbeitspapier (vgl. IV. TOP 2 1.) für einen einheitlichen, offenen Leistungskatalog ausgesprochen (Option 3), der alle Hilfe-/Leistungsarten der HzE und der Eingliederungshilfe zusammenführt und aus dem bedarfsentsprechend (bei rein erzieherischem wie rein teilhabebezogenen wie auch verschränken Bedarfen) eine oder mehrere Leistungsarten ausgewählt werden können.

Die AGJ begrüßt ausdrücklich, dass das BMFSFJ-Arbeitspapier einen konkreten Leistungskatalog beispielhaft aufführt. Es ist deutlich, dass dieser nach Durchsicht und unter Aufgreifen der §§ 28ff SGB VIII sowie der Kapitel 3 bis 6 SGB IX-2. Teil formuliert wurde und eine Verschränkung durch Neusortierung der Leistungsarten vornimmt[9]. Die ergänzend zum Arbeitspapier eingebrachten mündlichen Erläuterungen des BMFSFJ in der 3. Sitzung am 20.4.2023 haben verständlich gemacht, dass das BMFSFJ versucht hat, abstrakt die Struktur der auf die Zielsetzung der Leistungsarten ausgerichtete Sortierung in Leistungsgruppen des SGB XI Teil 1 und 2 aufzugreifen und hier den bislang nicht auf die Zielrichtung, sondern nach Setting sortierten SGB VIII-Katalog einzufädeln. Dies erklärt, wieso es zur doppelten Benennung von Einrichtungen/Heimen/Wohngruppen sowohl innerhalb der Leistungsgruppe „Leistungen zur Teilhabe an Bildung“ sowie „Leistungen zur Unterstützung der Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsverantwortung sowie Leistungen zur Förderung des familiären Beziehungsgefüges“ kam. Die AGJ geht davon aus, dass die Folgen der Zuordnung innerhalb des Katalogs noch weiter zu eruieren sind. Die praktische Unterscheidung, wie Leistungsangebote welcher dieser doppelten Leistungsarten zugeordnet werden sollen, ist für die AGJ noch nicht deutlich (also z. B. integrierte Beschulung vs. Besuch einer Regelschule oder andere Kriterien?). Allerdings könnte die doppelte Benennung für das Ziel einer Zusammenführung der Regelungen zur Kostenheranziehung ohne zusätzliche Belastung für Adressat*innen noch vorteilhaft sein. Diese Fragen gilt es im Blick zu behalten. Die AGJ begrüßt, dass das BMFSFJ sich offen gezeigt hat, über die konkrete Zuordnung von Leistungsarten noch einmal in eine vertiefende Diskussion zu gehen (z. B. Zuordnung der „Intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung“ als Teilhabe an Bildung). Außerdem wurde angekündigt bestehende, noch im Vorschlag fehlende Leistungsarten zu ergänzen (z. B. innerhalb der Leistungsgruppe „Leistungen zur sozialen Teilhabe“ die Leistungen zur Mobilität[10]). 

Im Rahmen etwa der Bundes-AG-Sitzung am 20.4.2023 teils von Teilnehmenden geäußerten Bedenken, durch die Bildung eines einheitlichen, inklusiven Leistungskatalogs gehe die Übersichtlichkeit verloren und werde die Praxis überfordert, hält die AGJ entschieden entgegen, dass eine solche Neusortierung vielleicht zunächst gewöhnungsbedürftig sein möge, aber es weiterhin auf eine bedarfsentsprechende Auswahl der im Einzelfall passenden Hilfeart ankommt. Der im BMFSFJ-Arbeitspapier beispielhafte Katalog zeigt, dass bestehende Leistungsarten aufgegriffen und innerhalb des Katalogs wiedergefunden werden können. Die Übernahme oder zumindest Anlehnung an etablierte Begriffe würde den Trägern der öffentlichen wie freien Kinder- und Jugendhilfe und den hier tätigen Fachkräften zeigen, dass an bewährte Fachkonzepte und auch hierzu ggf. bestehender Rechtsprechung angeknüpft werden kann.

Die AGJ hält besonders die Idee der neugebildeten Leistungsgruppe „Leistungen zur Unterstützung der Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsverantwortung sowie Leistungen zur Förderung des familiären Beziehungsgefüges“ für sehr gelungen. Ein Kurzbegriff hierzu muss noch gefunden werden (z. B. familienbezogene Leistungen). Das fachliche Anliegen, jungen Menschen mit einem behinderungsbedingten Teilhabebedarf und ihren Familien auch einen Zugang zu dieser Leistungsgruppe zu eröffnen, ist für die AGJ eine wesentliche Motivation ihres Einsatzes für die Zuständigkeitszusammenführung.

Betont nachdrücklich regt die AGJ innerhalb dieser Regelungsgruppe die ausdrückliche Aufnahme von Leistungen mit sogenanntem Drittbezug an, also z. B. „familienunterstützende Dienste zur Entlastung oder Stärkung der Eltern“ oder „Angebote für Geschwister“. Bislang ist der Entlastungs- und Stärkungsbedarf der Eltern von Kindern mit Behinderungen in keinem Sozialgesetzbuch hinreichend explizit berücksichtigt, obgleich die mit deren familiärer Betreuung und Versorgung einhergehende, teils sehr hohen Belastungen letztlich sogar das Zusammenleben mit diesen Kindern in der Familie gefährden kann. Zwar haben Eltern bei derartigen Belastungen schon jetzt Anspruch auf Hilfen zur Erziehung nach § 27 Abs. 1 SGB VIII - zur Erziehung gehören nämlich beispielsweise auch die Gesundheitssorge und die Förderung der Teilhabe. Angebote, die auf die besondere Situation von Familien mit einem Kind mit Behinderungen vorbereitet sind, fehlen in der Angebotslandschaft der Hilfen zur Erziehung jedoch bislang weitgehend. Hierbei handelt es sich ganz überwiegend um Umsetzungsdefizite, denen durch eine inklusive Weiterentwicklung der bestehenden Leistungsarten begegnet werden kann (etwa im Rahmen psycho-sozialer Beratung).    Darüber hinaus führt(e) die aktuelle Zuständigkeit des SGB IX für junge Menschen mit geistigen und/oder körperlichen Behinderungen jedoch ferner dazu, dass für die indirekten Auswirkungen auf das Familiensystem in den Katalogen des SGB IX sowie SGB VIII die Leistungsart „familienergänzende und -unterstützende Leistungen“ bisher fehlt.[11] Um das Recht der betroffenen jungen Menschen und ihrer Familien auf familienbezogene Leistungen zu verwirklichen, ist daher die Formulierung des Leistungskatalogs erforderlich, der die besondere Familiensituation ausdrücklich aufgreift. Es ist höchste Zeit, dass der gesetzliche Weg geebnet wird, damit die Ansprüche der Eltern auf Entlastung und die Ansprüche aller Beteiligten in der Familie auf familiensystemische Beratung und Unterstützung eingelöst werden – auch soweit sie bspw. aufgrund der hohen praktischen und sozialen Belastungen durch den erhöhten Zeit- und Anwesenheitsbedarf für Pflege und Betreuung des Kindes entstehen. Um bedarfsgerecht wirken zu können, ist es notwendige, dass der Zugang zu diesen Leistungen teils niedrigschwellig ermöglicht wird (z. B. die psycho-soziale Beratung über § 36a Abs. 2 SGB VIII), in anderen Fällen wird hingegen die Erbringung über pauschale Geldleistungen angebracht sein (vgl. dazu auch gleich 5.).

NEU: inklusiver Leistungskatalog zur Unterstützung der Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsverantwortung sowie Leistungen zur Förderung des familiären Beziehungsgefüges in Kombination mit einem Katalog von Teilhabeleistung, der insbesondere behinderungsbedingten Bedarfen begegnet

Die AGJ hat bereits früher neben ihre Forderung nach einem einheitlichen offenen Leistungskatalog die fachpolitische Überlegung angestoßen[12], zu hinterfragen, ob alle Leistungsarten für beide Bedarfsgruppen geöffnet werden sollen („einheitlich“) oder ob bei bestimmten Leistungsarten eine primäre Zuordnung sinnvoll erscheint (vgl. IV. TOP 2 1.). Letzteres könnte als gesetzgeberisches Signal dienen, bestimmte Leistungen und die damit verbundenen Ressourcen in erster Linie bei bestimmten Bedarfen einzusetzen - so erscheint der AGJ nicht abwegig, dass ein großer Teil der Rehabilitationsleistungen in erster Linie bei behinderungsbedingten Teilhabebedarfen eingesetzt werden sollen. Diese „neue 4. Option“ könnte ein Kompromiss zwischen Option 2 und 3 sein.

Als Rechtsfolge würde in der Anspruchsnorm also der Anspruch auf „Hilfen zur Entwicklung, Erziehung und Teilhabe“ genannt. An geeigneter Stelle innerhalb des Regelungsabschnitts (vermutlich am sinnvollsten bereits innerhalb der Anspruchsnorm, vgl. bisher § 27 Abs. 2 und 3 SGB VIII) müsste dann – jeweils mit der Einleitung „insbesondere“ um den offenen Charakter des Katalogs gesetzlich zu fixieren – unter Aufgreifen der Bedarfslagen (entsprechen den Tatbestandsalternativen) aus dem offenen, einheitlichen Gesamtkatalog der „Hilfen zur Entwicklung, Erziehung und Teilhabe“ auf eine oder mehrere Leistungsgruppen oder auch einzelne Leistungsarten verwiesen werden. Bei Betrachtung des im BMFSFJ-Arbeitspapier zu Option 3 vorgestellten Katalogs würde das konkret bedeuten, dass deutlich gemacht würde, dass Eingliederungshilfe (Begegnung behinderungsspezifischer Bedarfe / Tatbestandsalternative 1) nach Maßgabe aller im Katalog genannten Paragraphen erbracht, Hilfe zur Erziehung (Begegnung erzieherischer Bedarfe / Tatbestandsalternative 2) insbesondere nach Maßgabe der Leistungsgruppe „Leistungen zur Unterstützung der Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsverantwortung sowie Leistungen zur Förderung des familiären Beziehungsgefüges“ sowie ausgewählter weiterer Paragraphen in anderen Leistungsgruppen[13] erbracht werden. So wäre deutlich, dass junge Menschen mit einem behinderungsbedingten Teilhabebedarf und ihren Familien neben dem Zugang zu den Rehabilitationsleistungen auch einen Zugang zu den bisherigen Hilfen zur Erziehung erhalten können, sollten dies bedarfsentsprechend („geeignet und erforderlich“) sein. Gleichzeitig würde deutlich gemacht werden, dass die Rehabilitationsleistungen vorrangig bei Teilhabebedarfen zu erbringen sind.

4. Barrierefreie Zugänge zu Hilfen und Leistungen

Die AGJ teilt den Wunsch und das fachpolitische Bestreben, Barrierefreiheit herzustellen. Da Barrierefreiheit aber die Beseitigung der Erschwernisse im Zugang und bei der Nutzbarkeit bezogen auf ganz unterschiedliche individuelle Beeinträchtigungen meint (§ 4 BGG), sind hierfür bauliche, technische Anpassungen ebenso wie eine breit qualifizierte Mitarbeitendenstruktur erforderlich. Es braucht also nicht nur z. B. die Rollstuhlrampe, sondern auch taktile und akustische Orientierungssysteme, es braucht nicht nur Informationen in leichter und einfacher Sprache, sondern auch in Brailleschrift, es braucht Unterstützung in Gesprächen durch Assistent*innen, Sprachmittler*innen und Dolmetscher*innen. Barrierearmut ist im Unterschied zu Barrierefreiheit zwar nicht gesetzlich definiert, aber als Begriff für verringerte bzw. teils abgebaute Erschwernisse im Zugang oder bei der Nutzbarkeit verwendet. 

Die mit der Konsequenz einer entfallenden Vergütung verbundene zwingende Vorgabe von Barrierefreiheit für alle Angebote, Einrichtungen und Dienste (Option 1), ließe Abweichungen nicht zu. Die Regelung wäre strenger als die Pflicht zum Hinwirken auf Barrierefreiheit für Sozialleistungsträger (§ 17 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 3 SGB I). Zumal unter Beachtung der o.g. Breite der Anforderungen an Barrierefreiheit ist sie für die leistungserbringenden Träger auch bei bestem Willen nicht umsetzbar (teils bau-/denkmalrechtlich, teils finanziell, teils mangels qualifizierten Personals, teils fehlende Antizipierbarkeit jeder individuellen Beeinträchtigung). Da sie zu schwerwiegenden Versorgungseinbußen führen würde, spricht sich die AGJ entschieden gegen die Option 1 aus.

Begrüßenswert konkret sieht Option 2 einen Umsetzungszeitraum von sechs Jahren vor. Die Zielvorgaben im Abstand von je 2 Jahren (30 – 60 – 90%) sind politisch zu überprüfen und wären durch einen Nationalen Aktionsplan „Barrierefreiheit für die Kinder- und Jugendhilfe“ zu begleiten. Einer solchen Änderung des § 78b SGB VIII müssten zwingend Anpassungen nahezu aller der Leistungs- und Entgeltvereinbarungen einhergehen, da anderenfalls die Träger gar nicht in die Lage versetzt würden, die verlangte Barrierefreiheit umzusetzen. Zu konkretisieren wäre ferner, ob wirklich vollständige Barrierefreiheit oder ob und inwiefern Barrierearmut gemeint ist .
Zur Einschätzung der Umsetzbarkeit der Option 2 wäre hilfreich zu wissen, wie hoch der Prozentsatz Barrierefreiheit aktuell (ggf. auch aufgeschlüsselt nach Regionen) bei leistungserbringenden Trägern in der Kinder- und Jugendhilfe sowie der sog. Behindertenhilfe bezogen auf Angebote für junge Menschen ist. Ebenfalls interessant wäre, ob Evaluationsergebnisse hinsichtlich der Umsetzung des § 17 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 3 SGB I bestehen.

Die AGJ teilt das Ziel einer barrierefreien Gesellschaft und sieht die Notwendigkeit mehr zu tun auch für eine bloße Barrierearmut. Die AGJ sieht die Änderungen im Rahmen des KJSG zur Qualitätsentwicklung und Jugendhilfeplanung (§ 79a S. 1, 80 Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII) als wertvollen Impuls Veränderungen voranzubringen, die Vorschriften alleine ändern die Realität aber noch nicht. Es braucht konkretere Anstrengungen in Form angemessener Vorkehrungen, durch die (ggf. auch einzelfallbezogen) ermöglicht wird, dass ein Mensch mit Behinderung mit anderen gleichberechtigt Angebote nutzen kann. Das liegt zwar unterhalb der Stufe der Barrierefreiheit – die mit Inklusion verbunden Herausforderungen sind jedoch größer als es auch diese Reform zur Herstellung eines inklusiven SGB VIIIs voraussichtlich sein kann.Die Fokussierung auf die Überwindung der strukturellen Barriere der Zuständigkeitsspaltung in SGB IX Teil 2 und SGB VIII verringert nicht die Bedeutung der Reform. Die Frage der Barrierefreiheit macht jedoch deutlich, dass die politischen Anstrengungen für die Inklusion von jungen Menschen nicht mit dieser Reform ihr Bewenden haben können. 

5. Andere Gelingensfaktoren, die im Kontext der Rechtsfolgenseite beachten werden sollten

Nicht im BMFSFJ-Arbeitspapier angesprochen sind weitere Regelungen, die bisher teils in den Kontext des Rechtsfolgenkatalogs, teils in den Kontext von Verfahrensvorgaben (insb. zur Bewilligung) gestellt werden. Der AGJ VIII ist wichtig auf folgende Regelungsgegenstände hinzuweisen, damit diese nicht verloren gehen:

  • § 4 Abs. 3 SGB IX Teil 1 gibt zurecht vor, dass Kinder mit (drohender) Behinderung nach Möglichkeit nicht von ihrem sozialen Umfeld zu trennen und gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern zu betreuen sind. Das SGB VIII sollte diesen programmatischen Grundsatz aufgreifen und festschreiben, mit der Folge, dass auf eine möglichst lebensweltnahe und das soziale Umfeld berücksichtigende Leistungserbringung hinzuwirken ist (vgl. auch 4./TOP 2).
    Soweit dies von dem jungen Menschen und seiner Familie gewünscht wird, sind also sozialräumliche oder sozialraumnahe Leistungen vorzuziehen und ambulante ergänzende Unterstützung zu gewähren, um ein Aufwachsen in der Familie, statt in einem spezialisierten Versorgungssystem zu ermöglichen. Persönliche und familiär bestehenden Konstellation und Perspektiven sind zu berücksichtigen, die Geeignetheit der Leistung ist auch unter dem Gesichtspunkt der Kompatibilität zu diesen zu prüfen. So kann das Einflechten anderer Sozialleistungen in die Leistungserbringung nach SGB VIII (z. B. therapeutisches Bewegungs- oder Sprachförderangebot im Rahmen und in den Räumen der Kindertagesstätte) sowohl zur Erreichung des Ziels einer gemeinsamen Betreuung von Minderjährigen mit und ohne Behinderung wie auch zur Ermöglichung einer Berufsausübung beider Elternteile beitragen.
  • Die im Rahmen des KJSG eingeführte gesetzliche Bestätigung der Möglichkeit, unterschiedliche Hilfearten miteinander zu kombinieren (sog. Doppelhilfen, Anlehnung an § 27 Abs. 2a SGB VIII), ist erneut aufzunehmen.
  • Es ist erneut die Regelung aufzunehmen, dass in Schule oder Hochschule Leistungen an Kinder und Jugendliche gemeinsam in Form von Gruppenangeboten erbracht werden dürfen, soweit dies dem Bedarf des Kindes oder Jugendlichen entspricht (Anlehnung an § 27 Abs. 3 SGB VIII). Durch die Klarstellung im letzten Halbsatz wird abgesichert, dass weder durch einen pauschalen Hinweis auf eine vorgeblich inklusive Infrastruktur noch durch ein sog. „Poolen“ die individuellen Rechtsansprüche auf Teilhabeleistungen ausgehebelt werden, sondern diese vielmehr weiter bestehen, wenn der spezifische Bedarf nicht oder nicht angemessen gedeckt ist. Die Regelung ist auf soziale Teilhabe im außerschulischen Bereich auszudehnen, um auch dort eine gemeinsame Erbringung individueller Unterstützung zu ermöglichen, soweit individuelle Bedarfe trotz der inklusiven Verpflichtung nach § 11 Abs. 1 S. 3 SGB VIII andernfalls nicht gedeckt sind.
  • Die Inanspruchnahme fachlich notwendig niedrigschwelliger Leistungen ohne vorherige Antragsstellung bzw. vorigeres Kontaktieren des Jugendamtes ist rechtlich weiterhin zuzulassen. Sie ist dann zu eröffnen, wenn der niedrigschwellige Zugang konstitutiv für den Hilfeerfolg ist. § 36a Abs. 1 und 2 SGB VIII sollte übernommen werden, um diese Möglichkeit bei gleichzeitig grundsätzlicher Wahrung der Steuerungshoheit der Jugendämter aufrecht zu erhalten.
  • Die Leistungserbringung in Form pauschaler Geldleistungen ist bislang ermöglicht für Leistungen zur Assistenz zur Übernahme von Handlungen zur Alltagsbewältigung sowie Begleitung der Leistungsberechtigten, zur Förderung der Verständigung und zur Beförderung im Rahmen der Leistungen zur Mobilität hingewiesen werden (parallel zu §§ 116 Abs. 1 iVm 105 Abs. 3 SGB IX Teil 2). Diese Möglichkeit steht neben dem persönlichen Budget, wobei nur auf letzteres ein Rechtsanspruch besteht. Die AGJ sieht sich aktuell nicht in der Lage einzuschätzen, wie hoch die die Relevanz des Erhalts pauschaler Geldleistungen für junge Menschen mit Behinderung aktuell ist.

TOP 2: Verfahren Hilfe-, Teilhabe- und Gesamtplanung und Bedarfsermittlung 

Die AGJ hat sich bereits im Rahmen des Bundes-Beteiligungsprozesses „Mitreden – Mitgestalten“ für eine Weiterentwicklung der Vorgaben zur Hilfeplanung ausgesprochen. Die abstrakten Leistungsansprüche werden im Rahmen des Verwaltungsverfahrens und des dort vorgesehenen diskursiven sozialpädagogischen Gestaltungsprozesses erst konkretisiert, so dass in dem auf den Einzelfall bezogene Bewilligungsbescheid deutlich wir, wer – was - in welcher Form – für welche Zeit – bei wem erhält.[14] Da die künftigen Vorgaben zur Hilfeplanung neben der Gestaltung der Anspruchsnorm (Tatbestand und Rechtsfolge) das Herzstück der Reform bilden, sie verdienen aufgrund ihrer Bedeutung besondere Aufmerksamkeit und Abwägung. 

1. Antragserfordernis

Während im Leistungserbringungsrecht der Träger der Eingliederungshilfe gem. § 108 SGB IX das Antragserfordernis ausdrücklich geregelt ist, ist ein solches gerade nicht in Bezug auf die öffentlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe (auch nicht in ihrer Rolle als Rehabilitationsträger) geregelt. Hieraus wird abgeleitet, dass schon bei Kenntnis von Hilfebedarf die Verpflichtung der Fachkräfte der Jugendämter besteht, Hilfe anzubieten und ggf. auch werbend auf Inanspruchnahme von Hilfe hinzuwirken.

Auch in der Kinder- und Jugendhilfe gilt jedoch die Dispositionsfreiheit der Adressat*innen (vgl. dazu gleich 5.). Trotz des Fehlens eines ausdrücklichen Antragserfordernisses sind Leistungen nach §§ 27 ff., 35a, 41 SGB VIII ebenfalls erst nach eindeutiger Willenserklärung der Adressat*innen zu gewähren. Es handelt sich gleichsam um einen Antrag i.S.d. § 16 SGB I, der aber formlos erfolgen kann. Viele Jugendämter halten ergänzend Formulare für Antragstellungen bzw. zur Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten bereit, in der die Angabe verschiedener Daten bereits vorgesehen ist. Dies dient lediglich dazu, Verwaltungsvorgänge zu vereinfachen und auf die Vollständigkeit der notwendigen Angaben hinzuwirken. Sind solche Vordrucke vorhanden, sollen sie benutzt werden (§ 60 Abs. 2 SGB I).

Der AGJ ist vor allem die Beibehaltung dieser Formlosigkeit im Antragserfordernis wichtig. Dies kann entweder über Option 3 (keine ausdrückliche Normierung des Antragserfordernisses) oder Option 2 (ausdrückliche Normierung des Antragserfordernisses) gelingen. In letzterem Fall ist sinnvoll festzuhalten, dass eine Befassung mit den Bedarfen und erst recht nicht die Bewilligung von Leistungen aufgrund durch die Leistungsberechtigten zur Kenntnis gebrachten Hilfebedarfen vom Ausfüllen von Formularen abhängig gemacht werden kann. Wurden ohne Verwendung der Vordrucke alle leistungserheblichen Tatsachen mitgeteilt, wozu eine eindeutige Willensbekundung zur Inanspruchnahme von Leistungen – mithin ein formloser Antrag – gehört, soll hieraus auch weiterhin keine Ablehnung begründet werden.

2. Teilhabeplan- und Hilfeplanverfahren

Wie bereits einführend zu V. TOP 1 dargestellt wurde, steht die weitere Anwendbarkeit der abweichungsfesten Vorgaben in Kap. 2 bis 4 SGB IX Teil 1 außer Frage. Die Gestaltung der Anspruchsnorm(en) muss eine Zuordnung ermöglichen, ob der öffentliche Träger der Kinder- und Jugendhilfe als Rehabilitationsträger (§ 6 SGB IX) diesen Vorgaben unterworfen ist.

Die im BMFSFJ-Arbeitspapier angebotenen Optionen 1 bis 4 machen es noch schwer, die Ausgestaltung der künftigen Verfahrensnormen abzuleiten. Die sehr eng gefassten Optionen reichen für eine Erörterung aus Sicht der AGJ bislang nicht aus, vielmehr erscheint eine weitere Konkretisierung z. B. zur Bundes-AG-Sitzung am 27.06.2023 erforderlich und unbedingt erstrebenswert. Die mündlichen Ausführungen in Ergänzung des Arbeitspapiers durch das BMFSFJ während der Sitzung am 20.04.2023 haben gezeigt, dass insbesondere die Darstellung unter Option 3 von vielen Akteuren missverstanden und das BMFSFJ nicht eine vollständige Übernahme der Verfahrensregelungen des SGB IX Teil 1 auf alle Bedarfslagen intendiert. Innerhalb dieses Punktes geht die AGJ daher nicht weiter auf die Optionen 1 bis 4 des BMFSFJ-Arbeitspapiers ein, sondern zeigt jenseits hiervon auf, was aus ihrer Sicht bei der Gestaltung zu beachten ist:

Die AGJ unterstützt das mündlich vom BMFSFJ deutlich gemachte Bestreben, einer weitgehenden Zusammenführung bzw. Verzahnung der Vorgaben zum Leistungsgewährungsprozess und spricht sich dafür aus, diese unter den Titel „Hilfeplanung“ zu stellen (vgl. zu den Begriffen Leistungen und Hilfe schon IV. TOP 1 1. a). Den Vorschlag zweier vollständig getrennter verfahrensrechtlich Wege lehnt die AGJ ebenso ab, wie sie die vollständige Übernahme der Regelungen für Rehabilitationsträger auf den gesamten Bereich der Hilfeplanung ablehnt. Die AGJ favorisiert vielmehr nachdrücklich die Verzahnung der Vorgaben des SGB IX Teil 1 in die Hilfeplanvorgaben und hält es für sinnvoll und erforderlich, Differenzierungen für das Agieren des öffentlichen Trägers der Kinder- und Jugendhilfe als Rehabilitationsträger vorzunehmen.    

Um ein verzahntes Hilfeplanverfahren mit spezifischen Vorgaben bei behinderungsbedingten Teilhabebedarfen zu ermöglichen, ist aus Sicht der AGJ die Gestaltung der Anspruchsnorm(en) erneut in den Blick zu nehmen (vgl. dazu IV TOP 1 1. b). Hier wird die Grundlage dafür gelegt, ob eine Zuordnung der Rolle als Rehabilitationsträger möglich ist. Ohne Zuordnungsmöglichkeit wäre nämlich wiederum eine vollständige Übernahme der für die Rehabilitationsträger zwingenden Regelungen auf den gesamten Bereich der Hilfeplanung notwendig. Dies braucht es aber (jetzt und künftig) eigentlich nur, soweit der öffentliche Träger der Kinder- und Jugendhilfe als Sozialleistungsträger wegen behinderungsbedingten Teilhabebedarfen tätig wird. Die AGJ befürchtet, dass die Option der „einheitlichen Tatbestandsvoraussetzungen mit zusätzlichen behinderungsspezifischen Voraussetzungen“ (Option 3 des Arbeitspapiers vom 09.01.2023) eine Differenzierung, ob die abweichungsfesten Vorgaben der Kap. 2 bis 4 SGB IX Teil 1 greifen, nicht erlauben würde und diese folglich zwingend immer beachtet werden müssten. Im Unterschied dazu hält die AGJ sowohl bei der Gestaltung von zwei getrennten Anspruchsnormen als auch bei einer zusammenführenden Norm mit zwei Tatbestandsalternativen für deutlich im Gesetzestext ablesbar, ob/wann das Jugendamt in der Befassung mit den behinderungsbedingten Teilhabebedarfen eines Individuums und folglich als Rehabilitationsträger agiert.

Sehr ermutigend für ein derartig verzahntes Hilfeplanverfahren ist aus Sicht der AGJ, dass das Ziel einer bedarfsgerechten Gewährung von Hilfen und die prägenden Prinzipien (Fachlichkeit, Beteiligung und Beratung, Transparenz, Prozesshaftigkeit mit regelmäßiger Überprüfung, wertschätzende Ressourcen- und Konsensorientierung), aber auch die Steuerungsverantwortung des öffentlichen Trägers, die in eine hoheitliche Entscheidung mündet, gleich sind. Diese sollen fortgelten.
Die Hilfeplanung muss ihren Charakter als Instrument der Beteiligung und Stärkung der Selbstbestimmung in der Bedarfsermittlung, der Leistungsauswahl und im Leistungsbezug bewahren. Es ist auf Vorschriften mit Ausstrahlungswirkung hinzuarbeiten. Die Vorgaben sollen die methodischen und fachlichen Aufgaben im Hilfeplanverfahren verdeutlichen. Es ist zu vermeiden, zu kleinteilig zu sein und vermeintlich chronologisch diese Erwartungen an das fachliche Handeln in der Verfahrensnorm durchzuregulieren. Je strikter die Verfahrensvorgaben, umso höher ist in Sozialleistungsverfahren der Anpassungsdruck auf die Leistungsberechtigten an die Verfahrensvorgaben. Die Möglichkeiten einer Adaption an die Lebenssituation und -umstände werden so eingeschränkt, Beteiligung und Mitgestaltung beschnitten.

Die AGJ begrüßt, dass das BMFSFJ mündlich in der Sitzung am 20.04.2023 einbrachte, dass Option 3 so gemeint gewesen sei, dass (unter Aufgreifen der Vorgaben der § 36ff SGB VIII sowie des SGB IX 1. Teil) neue, klarer handlungsleitende Verfahrensvorschriften entwickelt werden. Die AGJ empfiehlt die Bundes-AG dafür zu nutzen, entlang der einzelnen Verfahrensschritte zu erörtern, wozu übergreifende Regelungen und wozu spezifische Regelungen zu gestalten sind. Als Grundlage für eine vertiefende Erörterung bietet die AGJ das gemeinsam mit den Fachverbänden für Menschen mit Behinderung in den Jahren 2017/2018 entworfene Ablaufschema an, das hierfür ein guter Ansatz sein kann, aufgrund der Komplexität der Materie jedoch Erklärungs- und Ergänzungsbedarf behält.[15]

Spezifische Regelungen werden sich in der Begegnung behinderungsbedingter Teilhabebedarfe aus den abweichungsfesten Vorgaben der Kap. 2 bis 4 SGB IX Teil 1 ergeben. Möglichweise soll zudem auch auf Konkretisierungen oder ergänzende Vorgaben nicht verzichtet werden, die bislang zum Gesamtplanverfahren geregelt sind und in die neuen Verfahrensvorgaben des SGB VIII nicht zwingend, aber aus fakultativen gesetzgeberischen Erwägungen zu integrieren sind (vgl. etwa ICF-Orientierung der Bedarfsermittlungsinstrumente 3.a). Bereits zum Arbeitspapier vom 23.03.2023 spricht sich die AGJ für eine Differenzierung bei der Ermittlung behinderungsspezifischer Bedarfe aus (dazu gleich V TOP 2 3. a und b). Die AGJ weist aber darauf hin, dass dies nicht die einzige beachtenswerte Folge sein dürfte: Agiert das Jugendamt in der Rolle als Rehabilitationsträger sind u. a. die strengen Vorgaben der Zuständigkeitsklärung (§ 14 SGB IX) sowie zur Koordinierung mehrerer Leistungsträger (§§ 15, 16, 19ff. SGB IX) zu beachten. Noch wird zudem oft übersehen, dass die Pflicht zur Durchführung eines Teilhabeplanverfahren auch greift, soweit zwar nur ein Rehabilitationsträger, aber Leistungen aus mehreren Reha-Leistungsgruppen erforderlich sind. Die Reform der Zuständigkeitszusammenführung ist sinnvollerweise als Anlass zu nutzen, über welche Änderungen, Konkretisierungen oder ggf. auch Neuformulierungen der Gesetzgeber der handlungsleitenden Funktion der Verfahrensvorgaben gerecht werden kann. 

Die AGJ betont auch zu den Verfahrensvorgaben nochmals, dass sie es für richtig hält, den Verweis auf das SGB IX Teil 2 möglichst zu vermeiden, während gut lesbare (also keine ganz pauschale) Verweise auf das SGB IX Teil 1 sinnvoll sein können.

3. Bedarfsermittlung

a) Instrumente

Die Vorgabe zur einheitlichen und überprüfbaren Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs systematische Arbeitsprozesse und standardisierte Arbeitsmittel (Instrumente) zu verwenden, gehört zu den abweichungsfesten Vorgaben des SGB IX Teil 1 (§ 13 als Teil von Kap. 3). In § 118 SGB IX Teil 2 (also im Leistungsgesetz der Eingliederungshilfe) ist zudem bezogen auf das Gesamtplanungsverfahren in §§ 123ff. SGB IX Teil 2ergänzend geregelt, dass diese Instrumente sich an der ICF-CY orientieren sollen. Die weiterzuentwickelnden Vorgaben zur Hilfeplanung des SGB VIII können dem folgen, zwingend ist Letzteres nicht. Theoretisch wäre also auch eine Option 3 i.S. zwar eines Vorhaltens von Instrumenten, aber ohne Orientierung an der ICF-CY rechtlich möglich.

Die Diskussion um die Anwendung der Instrumente wird hochemotional geführt, an dieser anknüpfend, werden die Grundfesten und fachlichen Überzeugungen des jeweiligen Systems festgemacht. Der AGJ ist an einer Versachlichung dieser Diskussion gelegen. Hierfür ist sinnvoll anzuerkennen:

  • Es ist eine menschlich nachvollziehbare Falle, Eigenes zu idealisieren, Fremdes hingegen vor allem misstrauisch zu betrachten. Die jeweils hinter Forderungen stehenden Begründungen und Zielsetzungen sind oftmals weniger weit auseinander, als diese Falle vermuten lässt.
  • Bezogen auf die Zielsetzungen:
    Hinter der Forderung nach objektivierender Bedarfsermittlung, steht das Anliegen die Durchsetzung von Rechtsansprüchen abzusichern und über diesen fachlichen Standard Ungleichbehandlungen in Folge unterschiedlicher Bewertungen durch verschiedene Fachkräfte und das Übersehen von Bedarfen in wichtigen Lebensbereichen vorzubeugen.
    Hinter der Skepsis vor Instrumenten steht das Anliegen, den Verständigungsprozess über die individuellen Bedarfe als wesentliches Hilfeplanungselement abzusichern und einem formal verstandenen und bürokratisch gelebten Standard vorzubeugen, der den Personenbezug nur vermeintlich herstellt und die der Betrachtung einer sozialen Bedarfslage stets innewohnende fachliche Herausforderung verdeckt, dass soziale Tatsachen und Entwicklungen sich abhängig von der Perspektive des oder der Betrachtenden, vom Kontext und von der aktuellen Situation, sehr unterschiedlich ausnehmen und die Antizipation zukünftiger sozialer Situationen stets von Unwägbarkeiten geprägt ist.
  • Bezogen auf den Abgleich mit der Praxis:
    Die Entwicklung der an der ICF orientierten Instrumente zur Bedarfsermittlung hat im Rahmen der Umsetzung des BTHG viel Zeit und Anstrengung bedurft. Hierauf lässt sich aufbauen. Erste Auswertungen zeigen, dass die mit diesen verbundenen Hoffnungen sich noch nicht realisiert haben und die entwickelten Instrumente vielfach zu unflexibel und durch den Versuch einer „umfassenden Klärung des Bedarfs“ tatsächlich bürokratische Auflistungen entstanden sind.
    Demgegenüber zeigen Auswertungen zur Hilfeplanung umgekehrt, dass die Verknüpftheit der Wahrung von Fachstandards und der o.g. Prinzipien mit dem „Glücksfaktor zuständige Fachkraft“ innerhalb der Qualitätsentwicklungs- und -sicherungsprozess in den Jugendämtern immer wieder aufgegriffen werden muss.

Die AGJ favorisiert Option 1, also die Vorgabe von ICF-CY orientierten Instrumenten bei der Ermittlung des behinderungsspezifischen Bedarfs für angemessen. Die Orientierung an der ICF-CY darf sich dabei aber nur darauf beziehen, dass sie eine Präzisierung des Verständnisses von Behinderung i.S.d. biopsychosozialen Modells vornimmt und bezogen auf unterschiedliche Lebensbereiche die Dimensionen der Wechselwirkungen zwischen der Beeinträchtigung der Person und Umweltfaktoren in den Blick nimmt. Die AGJ fordert nachdrücklich dazu auf, die Weiterentwicklung der bestehenden, aktuell im Rahmen von Gesamtplanung zur Anwendung kommenden Instrumente entsprechend der Evaluationsergebnisse anzugehen, damit diese sich wirklich auf ein zeitlich angemessenes, beteiligungsorientiertes Ausloten der individuellen Bedarfe richten. Das Verlangen nach Objektivierung muss in einer Balance zu der in der Subjektivität der individuellen Lebensgestaltung bleiben, die allenfalls über gelingende Beteiligung und Mitgestaltung ins Verfahren eingebracht werden kann.
Beispiel: Es ist nicht zielführend, wenn es sich um checklistenförmige Formularbögen mit hierauf bezogenem Handbuch handelt, die beide Seitenzahlen im dreistelligen Bereich aufweisen und deren vollständiges Durchgehen in jedem Einzelfall zwingend vorgesehen ist. Vielmehr ist das Instrument darauf auszurichten, dass das Begehren einer Familie von Assistenzleistungen für ihr Kind mit Behinderung in der Schule im Hilfeplangespräch dazu führt, dass sowohl der Teilhabebedarf im außerschulischen Bereich, aber auch mögliche Auswirkungen aus der Wechselwirkung der Beeinträchtigung mit der Gesundheitsfürsorge oder einer noch nicht aus dem familiären Kontext heraus erfolgenden Teilhabeermöglichung angesprochen wird. Wird zudem deutlich, dass zwischen den Eltern zudem ein Paarkonflikt schwelt, ist zwar auf entsprechende Unterstützungsangebote hinzuweisen. Äußern sich die Eltern jedoch dahingehend, dass sie den Konflikt alleine klären wollen, ist das zu akzeptieren und eine beschränkte Bedarfsermittlung (bezogen auf die begehrte Teilhabeleistung) durchzuführen.

Die AGJ hält es für nicht erforderlich und in Anbetracht der Vorbehalte in der Praxis auch nicht für ratsam, die ICF-CY-orientierten Instrumente auch bei der allein auf erzieherische Bedarfe umfassende Konstellationen vorzugeben (Ablehnung Option 2). Es kann abgewartet werden, ob auf dem o.g. Weiterentwicklungs-, Lern- und Veränderungsprozess auch Impulse für die Qualitätsentwicklungs- und -sicherungsanstrengungen zur Leistungsgewährung bei erzieherischen Bedarfen geben kann. 

b) Ärztliche Gutachten

Der moderne Behinderungsbegriff, der in der UN-BRK, § 2 SGB IX Teil 1 und § 7 Abs. 2 SGB VIII festgelegt ist, folgt dem biopsychosozialen Modell, das Behinderung in der Teilhabebeeinträchtigung sieht, die im Wechselspiel zwischen der körperlichen, geistigen, seelischen oder Sinnesbeeinträchtigung mit einstellungs- oder umweltbedingten Barrieren entsteht. Behinderungsspezifische Teilhabebedarfe sind (übersetzt in Tatbestandsvoraussetzungen) gegeben, wenn (1.) eine negative Gesundheitsabweichung betreffend des Körpers, der Seele, des Intellekts oder der Sinne verglichen zu dem für das Lebensalter typische Zustand, (2.) diese in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindert oder mit hoher Wahrscheinlichkeit hindern wird (3.) und sowohl die Gesundheitsabweichung wie auch die Teilhabebeeinträchtigung nach einer Prognoseentscheidung mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr als sechs Monate andauern wird.

Für die Feststellung der negativen Gesundheitsabweichung sind die fachlichen Erkenntnisse eines*einer Arztes*Ärztin oder eines*einer anderen geeigneten Sachverständigen (z. B. Psychotherapeut*in) erforderlich. § 17 SGB IX Teil 1 gehört zu den abweichungsfesten Vorgaben in Kap. 4.

Die AGJ hat Schwierigkeiten mit der Gegenüberstellung der Optionen 1 (Fortgeltung der gesetzlichen Vorgaben des § 35a Abs. 1a SGB VIII i.V.m. § 17 SGB IX Teil 1) und Option 2 (Prüfung der Erforderlichkeit des Gutachtens): Auch das aktuelle Recht fordert nicht, dass jeder Bedarfsermittlungsprozess und erst recht nicht jede Überprüfung eines fortbestehenden oder veränderten Hilfebedarfs erneut eine vollständige Begutachtung vorausgehen muss. Teils wird in der Praxis dennoch sehr formal gefordert, dass zumindest vor einer Erstbewilligung, ggf. aber auch vor jeder Folgebewilligung jeweils ein neues Gutachten vorliegen muss. Das führt zu völlig vermeidbaren emotionalen Belastungen der Adressat*innen, zu einer unnötigen Bindung der durch Fachkräftemangel raren Kapazitäten im Gesundheitssystem, einer Verlangsamung des Verwaltungsverfahrens und in der Folge eine die Bedarfslage verschärfenden und Leistungserfolge gefährdenden Verzögerung der Leistungsgewährung.Die AGJ fordert das BMFSFJ auf, die Verfahrensvorgabe in Anlehnung an § 35a Abs. 1a SGB VIII und unter Beachtung von § 17 SGB IX so weiterzuentwickeln, dass unter Beachtung der Interessen der jungen Menschen mit Behinderung und ihrer Familien das Einholen gutachterlicher Stellungnahmen gesichert wird, unnötige Mehrfachbegutachtungen aber vermieden werden.

4. Wunsch- und Wahlrecht

Die AGJ hat sich bereits im Rahmen des Bundes-Beteiligungsprozesses „Mitreden – Mitgestalten“ für einen Bestand der Vorgaben des § 5 SGB VIII ausgesprochen. Sie hat ihren hohen Respekt für die im Gesetzgebungsverfahren des BTHG errungenen Verfahrensvorgaben ausgedrückt, zu denen auch die im Rahmen der Prüfung der Zumutbarkeit vorzunehmende besondere Würdigung der gewünschten Wohnform in § 104 SGB IX Teil 2 gehört.
Anstelle einer im BMFSFJ-Arbeitspapier vorgestellten Wahl zwischen der Weitergeltung der §§ 5, 37c SGB VIII (Option 1) und der Übernahme des § 104 Abs. 3 SGB IX Teil 2 (Option 2) spricht sich die AGJ für eine Kombination der Normen aus, die möglicherweise vom BMFSFJ bei Option 2 auch mitgedacht war, da § 104 Abs. 3 SGB IX Teil 2 ja nicht allein steht, sondern die Vorgaben der §§ 8 SGB IX Teil 1 und 104 Abs. 2 2 (Wunsch und Wahlrecht vorbehaltlich unverhältnismäßiger Mehrkosten bei vergleichbarer Bedarfsdeckung) konkretisiert.

Der AGJ ist es an dieser Stelle wichtig, auf die von ihr bereits benannten anderen Gelingensfaktoren im Kontext des Rechtsfolgenkatalogs (vgl. 5./TOP 1) nochmals hinzuweisen. Die dort bereits genannten Faktoren können Auswirkungen auf die Kosten der Leistungserbringung haben, aber auch schon die Geeignetheit der Leistung beeinflussen. Die AGJ VIII hält es für außerordentlich wichtig, dass die Zumutbarkeit gerade auch unter Würdigung der Ermöglichung der Aufrechterhaltung des Aufwachsens innerhalb der Familie (vgl. § 4 Abs. 3 S. 1 SGB IX Teil 1), der Lebenssituation der Familie, religiöser und weltanschaulicher Bedürfnisse und des Grundsatzes (vgl. § 8 Abs. 1 S. 2 SGB IX Teil 1) und einem Festlegen der Grundrichtung der Erziehung durch die Eltern (vgl. § 9 SGB VIII) erfolgt.

5. Beachtung des Selbstbestimmungsrechts auch jenseits des Wunsch- und Wahlrechts

Im Zusammenhang mit dem Wunsch- und Wahlrecht (4.), aber auch den Überlegungen zum Antragserfordernis (3.) ist der AGJ wichtig, erneut auf das Prinzip hinzuweisen, dass Sozialleistungen nicht aufgedrängt werden und das Selbstbestimmungsrecht der Adressat*innen handlungsleitend sind. Dieses gilt bereits jetzt in beiden Systemen!

Nur in dem engen Anwendungsbereich des Kinderschutzes und auch hier stets unter Einbeziehung des Familiengerichts kommen in der Kinder- und Jugendhilfe ausnahmsweise Maßnahmen gegen den Willen der Personensorgeberechtigen in Betracht (§ 42 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 SGB VIII, §§ 1666 Abs. 1, 1666a BGB). Anderenfalls bleibt es bei einer Aufklärung und ein Hinwirken auf die mögliche Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten. Dass Adressat*innen von Hilfe zur Erziehung mitunter fürsorglich belagert, ihnen Forderungen gestellt und auf sie wird ggf. Druck ausgeübt wird, wird durch die AGJ nicht negiert. Dadurch kann das eigene Gefühl der Marginalisierung und der Ohnmacht gegenüber der behördlichen bzw. professionellen (Über-)Macht die Spielräume reduzieren, sich zu äußern, die eigenen Vorstellungen und Wünsche ins Gespräch zu bringen und selbstbewusst zu agieren. Das zu vermeiden, ist sowohl im Teilhabe- und Gesamtplanungsverfahren nach SGB IX als auch im Hilfeplanverfahren nach SGB VIII noch nicht durchgängig eingelöstes Desiderat. Das Selbstbestimmungsrecht und der Subjektbezug bzw. die Personenzentrierung sollte im Gesetz daher (weiterhin) explizit zum Ausdruck kommen.
Es sind hohe fachlichen Anforderungen, auch in angespannten Gesprächssituationen und trotz Fachkräftemangel stets einen respektvollen, ressourcenbezogen, auf die Bedarfe des Individuums eingehenden Umgang mit den Adressat*innen zu wahren. Sie entspringen aber nicht nur der fachlichen Überzeugung, dass nur über diese Subjektorientierung wirkungsvolle Hilfen gestaltet werden, sondern sind auch Kennzeichen des modernen Sozialstaats.
Selbst ganz konkret normierte Rechte und Verfahren sind nicht geeignet, Macht- und Herrschaftsmechanismen zu durchbrechen, sie können diese nur begrenzen und in bestimmte Bahnen lenken. Eine strukturelle Unterstützung bei der Wahrnehmung von Beteiligungs- und Beschwerderechten u. a. durch interne Beschwerdestellen, Ombudschaft und EuTBs unterstützt die kritische Auseinandersetzung mit der die Basis der Leistungsgewährung und -erbringung bildenden Interaktion von Adressat*innen und Fachkräften.    In der Kinder- und Jugendhilfe sowie in der Eingliederungshilfe müssen konstitutive Elemente des Selbstverständnisses von Fachkräften in der Interaktion mit den Adressat*innen daher das Wissen um die Deutungsoffenheit sozialer Situationen, die zentrale Bedeutung der Verständigungsprozesse mit den Adressat*innen und das Bemühen sein, ihre Weltsichten und Kompetenzen, ihre Lebensentscheidungen und ihre Ausgestaltung des Familienlebens anzuerkennen und als Ressourcen zu verstehen.

TOP 3: Früherkennung und Frühförderung/Schnittstelle SGB V

Die Regelungen zur Früherkennung und Frühförderung sind ein sorgfältig abgewogenes und mühsam zwischen den beteiligten Sozialleistungssystemen erstrittenes Sonderregime, das in seiner Form bewahrt bleiben soll. Da die Kinder- und Jugendhilfe in Gänze an die Stelle der Eingliederungshilfe als zuständiger Träger auch für Kinder mit körperlicher und geistiger Behinderung tritt, muss gewährleistet sein, dass die bisher vom Eingliederungsträger in dieser Zuständigkeit erbrachten Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (§ 109 Abs. 1 SGB IX Teil 2 i.V.m. § 42 Abs. 2 SGB IX) und insbesondere die als Leistungen zur sozialen Teilhabe erbrachten heilpädagogischen Leistungen (§ 113 Abs. 2 SGB IX 2. Teil i.V.m § 79 SGB IX Teil 1) auch nach Übergang in die Zuständigkeit des Jugendamt weiterhin entsprechend der Vorgabe des § 46 SGB IX Teil 2 in die Komplexleistung der Früherkennung und Frühförderung eingebracht werden.

Das muss im Leistungskatalog egal welcher Gestaltungsvariante des TOP 1 deutlich gemacht werden (Option 1). Da die entscheidenden Normen im SGB IX Teil 1 liegen, kann auf sie verwiesen und müssen die dortigen Vorgaben nicht übertragen werden – wie dies auch bisher aus dem SGB IX Teil 2 geschah. Es ist sinnvoll, die Normen (§§ 42, 79 und insbesondere 46 SGB IX Teil 2) konkret zu benennen und es nicht bei einem pauschalen Verweis (Ablehnung Option 2) zu belassen.

Die AGJ weist daraufhin, dass die bekannten Umsetzungsprobleme zur Früherkennung und Frühforderung (etwa der teils fehlende Abschluss von Landesrahmenvereinbarungen nach § 46 Abs. 4 SGB VIII) weder durch Option 1 noch Option 2 angegangen wird. Dort verhallt das Potentiale dieser wertvollen bundesgesetzlichen Ermöglichung gemischt-finanzierter Komplexleistungen.

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 27. April 2023

Fußnoten

[1] Vgl. zentrale Webseite: gemeinsam-zum-ziel.org.

[2] Vor diesem Hintergrund sollen insbesondere folgende AGJ-Papiere genannt werden:
    2012: Auf dem Weg zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe;
    2013: Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen und Schulbegleitung allein kann kein inklusives Schulsystem gewährleisten;
    2016: Vielfalt gestalten, Rechte für alle Kinder und Jugendlichen stärken!;
    2018: Teilhabe: ein zentraler Begriff für die Kinder- und Jugendhilfe und für eine offene und freie Gesellschaft;
    2019: Inklusion in der Jugendarbeit. 10 Jahre UN-BRK – ein Blick auf die Entwicklungen in der und Erwartungen an die Jugendarbeit und Zusammenführende Stellungnahme im Prozess „Mitreden – Mitgestalten“ u. a. zum Thema Inklusion und Beteiligung am breiten Bündnis des Appells „Exklusion beenden: Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen und ihre Familien!“;
    2021: Inklusion gestalten! Wie inklusive Hilfen zur Erziehung möglich werden können.

[3] Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90 /DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP): Mehr Fortschritt wagen Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, S. 99.

[4] Anknüpfung an die Anregungen zur Vorbereitung und Gestaltung des Bundes-Beteiligungsprozesse in der 1. AGJ-Vorabkommentierung v. 03.02.2023, Kap III bzw. S. 3-5, die noch relativ diffus wabernden Sorgen/Hoffnungen aufzugreifen, thematisch zuzuordnen und dem Umgang hiermit besprechbar zu machen. Konkretisiert wurde dies an der Sorge um Selbstbestimmung, der Forderung nach Einbeziehung unterschiedlicher Expertisen, dem Umgang mit Fachkräftemangel, den Erfordernissen bei Zusammenführung der Systeme, einem Ringen um und mit begrenzten Ressourcen.

[5] Liljeberg/Magdanz, BMAS-Studie: Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen – Unterstützungsbedarfe und Hinweise auf Inklusionshürden, 11/2022.

[6] Vgl. dazu AGJ-Positionspapier „Armutssensibles Handeln – Armut und ihre Folgen für junge Menschen und ihre Familien als Herausforderung für die Kinder- und Jugendhilfe“, S. 23 ff.

[7] 1. AGJ-Vorabkommentierung v. 03.02.2023, Kap IV/TOP 2 bzw. S. 9-11.

[8] AGJ-Positionspapier „Teilhabe: ein zentraler Begriff für die Kinder- und Jugendhilfe und für eine offene und freie Gesellschaft“ v. 6./7.12.2018, Kap. II, III, IV.

[9] Das gelingt indem etwa die „intensive sozialpädagogische Einzelfallhilfe“ (bisher § 35 SGB VIII) in die Leistungsgruppe „Hilfen zur Schulbildung“ aufgenommen wird und diese damit über die bisherige Fassung des § 112 SGB IX 2. Teil hinausreicht. Oder indem pädagogische Leistungen wie der Besuch einer Tagesgruppe (bisher § 32 SGB VIII) in die Leistungen zur sozialen Teilhabe aufgenommen wird und diese damit über die Fassung des § 113 SGB IX Teil 2 hinausreicht. Die als Leistungen zur sozialen Teilhabe bisher in der Aufzählung des § 112 Abs. 2 SGB IX Teil 2 genannten Leistungen für Wohnraum sowie Leistungen zur Betreuung in einer Pflegefamilie sind hingegen innerhalb den vor allem an die bisherigen HzE-Leistungen angelehnte Leistungsgruppe „Leistungen zur Unterstützung der Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsverantwortung sowie Leistungen zur Förderung des familiären Beziehungsgefüges“ eingebettet.

[10] Auch an diesem Beispiel lässt sich zeigen, dass ein pauschaler „Auffangverweis auf das SGB IX Teil 2“ (Option 2a und 3a) nicht sinnvoll ist (vgl. zur Begründung bereits V. TOP 2 1.). Statt eines Verweises auf die Normen des Leistungsgesetzes der Träger der Eingliederungshilfe (§§ 113 SGB Abs. 2 Nr. 7 iVm 114 IX Teil 2), kann und sollte aus Sicht der AGJ auf die entscheidende Norm im allgemeinen Teil (§ 83 SGB IX Teil 1 – enthält auch eine Sondervorgabe der KfZ-Hilfe für Minderjährige) verwiesen werden.

[11] Es handelt sich nicht um Teilhabeleistungen für den jungen Menschen mit Behinderung, auf die die Eingliederungshilfe ausgerichtet ist. Hilfe zur Erziehung jenseits des ausdrücklichen Katalogs der §§ 28-35 SGB VIII wäre zwar gem. § 27 Abs. 2 SGB VIII möglich gewesen, wurden in Anbetracht der vermeintlichen Zuständigkeit der Eingliederungshilfeträger nicht und erst recht nicht unter kreativer Erweiterung der typischen Leistungsarten gewährt. Praktisch blieb den Familien bei der jetzigen Rechtslage nur die Möglichkeit, hierfür den i.H.v. 125,-€ zumeist völlig ungenügenden Entlastungsbeitrag zum Einsatz von Unterstützung im Alltag der Pflegeversicherung (§§ 45a, b SGB IX) einzusetzen.

[12] 1. AGJ-Vorabkommentierung v. 03.02.2023, Kap IV TOP 2 1c bzw. S. 10.

[13] In Anlehnung an den bisherigen Katalog der §§ 28ff SGB VIII, auch wenn die Leistungsarten anders einsortiert sind – wie etwa die in den Leistungen zur sozialen Teilhabe genannten „pädagogischen und damit verbundene therapeutische Leistungen (z. B. Besuch einer Tagesgruppe)“. Aus Sicht der AGJ spricht fachlich zudem viel dafür, auf die Leistungen zur Teilhabe an Bildung („Schulbegleitung“) auch bei erzieherischem Bedarf, also einen Zugang auch für Kinder und Jugendliche ohne Behinderung zu ermöglichen.

[14] Vgl. AGJ-Positionspapier „Recht wird Wirklichkeit – von den Wechselwirkungen zwischen Sozialer Arbeit und Recht“ v. 21./22.02.2018, S. 5 f.

[15] Vgl. Abbildung in Smessaert, Auf zum zweiten Anlauf! Zur Weiterführung der Debatte um ein inklusives SGB VIII, FORUM Jugendhilfe 2018, 52ff., 60.