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Notvertretung für unbegleitete minderjährige Geflüchtete – nur zur Not vertreten?

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Positionspapier als PDF

Zusammenfassende Empfehlungen

Unbegleitete geflüchtete Kinder und Jugendliche werden bis zur Bestellung eines Vormunds / einer Vormundin durch das für sie zuständige Jugendamt vertreten (§§ 42a Abs. 3, § 42 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII). Insbesondere während der Zeit der vorläufigen Inobhutnahme kann es zu Interessenkollisionen kommen, da das Jugendamt in einer Doppelrolle agiert, die die Wahrnehmung eines gegebenenfalls erforderlichen Rechtschutzes für den jungen Menschen gefährdet. Das Jugendamt muss in für die jungen Menschen hochrelevanten Fragen Entscheidungen treffen und ist im Rahmen seiner Aufgabe als rechtliche Vertretung gleichzeitig berufen, diese gegebenenfalls sofort wieder in Frage zu stellen bzw. anzugreifen. Es geht um Alterseinschätzung, Gesundheitsmaßnahmen, Anmeldung zum Verteilverfahren, Verteilentscheidung des Bundesverwaltungsamtes oder der Landesstelle des zur Aufnahme verpflichten Landes, nachträgliche Zuständigkeitsänderungen, gegebenenfalls den Start des Asylverfahrens.

Die Gesetzesbegründung zum sogenannten Verteilungsgesetz und die entsprechenden Handlungsempfehlungen fordern dazu auf, in den Jugendämtern organisatorische und personelle Vorkehrungen für etwaige Interessenkollision zu treffen. Dies hat sich als zu unverbindlich erwiesen. Befragungen der Praxis zeigen, dass in einem erheblichen Anteil der Jugendämter die Aufgaben im gleichen Dienst angesiedelt sind. Das Reformziel einer schnellen Verteilung ist zwar zu unterstützen, verschärft die Situation aber. Die aktuelle Ausgestaltung der Notvertretung durch das Jugendamt gewährleistet pragmatisch zwar eine unverzügliche, aber in erster Linie formal sichergestellte rechtliche Vertretung. Sie kollidiert mit den im internationalen Recht und der Verfassung hochrangig verankerten Rechten der geflüchteten Minderjährigen auf wirksamen Rechtschutzes durch rechtliche Vertretung und eine umfangreiche Beteiligung. So wird eine Praxis befördert, bei der die Verteilungsabläufe möglichst nicht gestört werden, was aber in Konsequenz die Rechte der Kinder und Jugendlichen verkürzt.

Rechtlich wäre eine definierte Stellung als Interessenvertreter deutlicher zum Ausdruck gebracht über eine kurzfristig erfolgende Vormundbestellung auch während der vorläufigen Inobhutnahme. Im Kontext von Vormundschaft und Betreuung wäre das nach Einschätzung der AGJ die systemgerechtere Lösung, auf die der Gesetzgeber durch das Notvertretungsrecht des Jugendamts wohl insbesondere unter Rücksichtnahme auf eine gerichtliche Praxis verzögerter Vormundschaftsbestellungen verzichtete.

Bleibt es grundsätzlich bei der Konstruktion des Notvertretungsrechts ist aus Sicht der AGJ ist sowohl bei der Umsetzung im Jugendamt als auch ausdrücklich im SGB VIII sicherzustellen, dass keine Personalunion zwischen der Person besteht, welche die rechtliche Vertretung innehat, und der Person, die für das Jugendamt die Alterseinschätzung oder Aufgaben des Verteilverfahrens betreibt.    
Der Gesetzgeber sollte zum Notvertretungsrecht zumindest eine explizite Pflicht zur personellen Trennung von Fallzuständigkeit und Interessenvertretung in § 42a Abs. 3 SGB VIII vorsehen. Im Verteilverfahren braucht es zudem ein durchsetzbares Recht der jungen Geflüchteten, bei besonderen Bedarfen (etwa bei Familienzusammenführung im Inland) eine Abänderung der Verteilentscheidung bewirken zu können.    
Die AGJ fordert ferner die Praxis auf, das eigene fachliche Handeln kritisch zu reflektieren und das Problembewusstsein hinsichtlich der Verfahrensabläufe und der eigenen Doppelrolle zu steigern. Jugendamtsleitungen sollten die bestehenden Organisationsstrukturen hinterfragen und einen Fachdiskurs innerhalb des eigenen Amtes stärken, der Rollenklarheit und Beschwerdeakzeptanz fördert. Es braucht Qualifizierungsangebote für all jene, die in der rechtlichen Vertretung der unbegleitet geflüchteten Kinder und Jugendlichen tätig werden.

Anstoß dieses Papieres

Seit dem 1. November 2015 werden unbegleitete minderjährige Geflüchtete (UMF) [1] über eine Quotenregelung bundesweit verteilt [2]. Die Reform wurde durchgeführt, weil einige Kommunen zahlenmäßig so stark belastet waren, dass die zuvor funktionierenden Strukturen aus Überlastung zu brechen drohten. Mit der gleichmäßigen, an Quoten orientierten Verteilung wurde ein bundesweiter Ausgleich erreicht.

Bis die dauerhafte Zuständigkeit im Verteilverfahren geklärt ist, wird der/die Geflüchtete vorläufig in Obhut genommen (§ 42a Abs. 1 SGB VIII). Das hierfür zuständige Jugendamt ist gleichzeitig berechtigt und verpflichtet, während der vorläufigen Inobhutnahme alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen notwendig sind (§ 42a Abs. 3 SGB VIII). Solange noch kein Vormund oder keine Vormundin für den/die Minderjährige bestellt ist, hat auch das im Anschluss an das Verteilungsverfahren zuständige Jugendamt, das bis zur Entscheidung über die Gewährung von Hilfen den/die Minderjährige gem. § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII in Obhut nimmt, ein entsprechendes Notvertretungsrecht (§ 42 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII). Die Bestellung eines Vormundes kann zwar grundsätzlich bereits im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme beim Familiengericht angeregt werden. Rechtlich besteht hierzu die Pflicht aber erst unverzüglich nach Beginn der regulären Inobhutnahme (§ 42 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII) [3].

Das Notvertretungsrecht durch das gleichzeitig für die vorläufige Inobhutnahme zuständige Jugendamt wurde im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses kritisiert.[4] Auch die AGJ problematisierte, dass diese Konstruktion zu einer problematischen Doppelrolle des Jugendamtes führe. Dieses muss sich zur Wahrnehmung eines gegebenenfalls erforderlichen Rechtschutzes gegen seine eigenen Entscheidungen richten. Betroffen sind dabei für den jungen Menschen hochrelevante Fragen: Alterseinschätzung, Gesundheitsmaßnahmen, Anmeldung zum Verteilverfahren, Verteilentscheidung des Bundesverwaltungsamtes oder der Landesstelle des zur Aufnahme verpflichten Landes, nachträgliche Zuständigkeits-änderungen, gegebenenfalls den Start des Asylverfahrens. Dreieinhalb Jahren nach Inkrafttreten und bei einer deutlich zurückgegangenen Zahl einreisender unbegleiteter Minderjähriger will die AGJ mit diesem Papier erneut die Diskussion um diese Konstruktion der rechtlichen Vertretung und ihre Umsetzung in der Praxis anregen.

Im jüngsten Bericht der Bundesregierung über die Situation unbegleiteter ausländischer Minderjähriger in Deutschland [5] finden sich zum Notvertretungsrecht keine Ausführungen. Der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge  (BumF) führte in den Jahren 2016 bis 2018 [6] eine Online-Umfrage zur Situation unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter in Deutschland durch [7]. Es handelt sich explizit um keine repräsentative Studie – die Ergebnisse müssen durch die Offenheit der Verbreitungskanäle, die Internetnutzung, die Selbstselektion unter den beteiligten Personen und die fehlende Überprüfbarkeit als ungesichert eingeordnet werden. Dennoch bietet unserer Kenntnis nach allein diese Umfrage bislang eine Grundlage, um eine einzelne Gebietskörperschaften übergreifende Einordnung zu den hier relevanten Fragen vorzunehmen. Die große Zahl der Teilnehmenden ist Anlass, den Ergebnissen nachzugehen. Obgleich die BUmF-Online-Umfrage nicht repräsentativ ist, wird sie hier herangezogen, weil allein sie einen Einblick in die Praxis ermöglicht. Auch im UMA-Bericht der Bundesregierung oder im aktuellen Monitor Hilfen zur Erziehung der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik wird auf die Befragung des BumF rekurriert [8].

Inhalt des Notvertretungsrechts

Das Notvertretungsrecht während der Inobhutnahme dient als Absicherung für notwendige, unaufschiebbare Krisenentscheidungen. Es gilt als öffentlich-rechtliche Notkompetenz, durch die das Personensorgerecht in Elternverantwortung vorrübergehend substituiert wird, soweit entsprechende Entscheidungen aufgrund der besonderen Situation erforderlich sind [9]. Eine inhaltliche Begrenzung ergibt sich allein aus dem Merkmal der „Notwendigkeit“ [10], während sich bis 2005 die Vorgängerregelung noch auf die Teilbereiche Beaufsichtigung, Erziehung und Aufenthaltsbestimmung beschränkte [11]. Zu konstatieren ist, dass das Notvertretungsrecht im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme zwar wohl nicht rechtlich, aber praktisch umfangreicher geworden ist [12]: Es sind keineswegs nur Krisenentscheidungen im Einzelfall zu treffen, vielmehr braucht es die rechtliche Vertretung in Routinesituationen und das völlig absehbar in annähernd jedem Einzelfall.

Sowohl in der ursprünglichen als auch in der aktuellen Fassung des Notvertretungsrechts war und ist bei dessen Ausübung „der mutmaßliche Wille des Personensorgeberechtigten oder des Erziehungsberechtigten […] angemessen zu berücksichtigen.“ Zur Notvertretung während der vorläufigen Inobhutnahme wird ferner die Pflicht zur Beteiligung des/der Minderjährigen betont. Bei Nicht-Erreichbarkeit der Personensorge- oder Erziehungsberechtigten muss der mutmaßliche Wille häufig erahnt werden. Sind diese hingegen erreichbar, muss der Wille eruiert werden [13].

Ausübung des Notvertretungsrechts während der vorläufigen Inobhutnahme

In der Gesetzesbegründung zu § 42a Abs. 3 SGB VIII [14] wird zur Ausübung des Notvertretungsrechts empfohlen, eine Interessenkollision durch entsprechende organisatorische und personelle Vorkehrungen zu vermeiden, die dadurch entstehen, dass das für die vorläufige Inobhutnahme zuständige Jugendamt einerseits als Vertretung des/der Minderjährigen agiert und andererseits maßgebliche Entscheidungen im Hinblick auf die Altersfeststellung und Verteilung sowie die Durchführung von Maßnahmen und Gewährung von Leistungen trifft, die durch ihre eigenen fiskalischen und logistischen Interesse beeinflusst werden können. In der Fachwelt [15] wird eine solche personelle und organisatorische Trennung ebenfalls als dringend erforderlich betrachtet [16]. Kritisch wird auch auf die ausdrückliche Klarstellung der sogenannten Aufnahmerichtlinie RL 2013/33/EU hingewiesen, wonach baldmöglichst ein Vertreter für unbegleitete Minderjährige zu stellen ist und Organisationen oder Einzelpersonen, deren Interessen denen des unbegleiteten Minderjährigen zuwiderlaufen könnten, nicht als Vertreter in Betracht kommen [17].

Fachlich bedarf die Aufgabe der rechtlichen Vertretung eines jungen Menschen einer organisierten Parteilichkeit. Schon im Rahmen der Amtsvormundschaft wird teils kritisch angemerkt, dass die Durchsetzungsfähigkeit innerhalb des eigenen Jugendamtes stark von der Persönlichkeit des jeweiligen Amtsvormunds / der jeweiligen Amtsvormundin abhänge. Eine von der Leitung getragene Behördenkultur, die Widerspruch aus den eigenen Reihen akzeptiert und schätzt, ist in der Praxis keineswegs als selbstverständlich anzusehen.

Aus der Online-Umfrage des BumF geht hervor, dass die Notvertretung entgegen der Handlungsempfehlung in der Gesetzesbegründung, den Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter (BAGLJÄ) und der Kommentarliteratur dennoch oft beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) angesiedelt ist (2018: circa 55 Prozent / 2017: circa 57 Prozent). Das Notvertretungsrecht ist seltener organisatorisch der Amtsvormundschaft zugeordnet (2018: circa 42 Prozent / 2017: circa 38 Prozent). In einigen Kommunen fehlen entsprechende Regelungen offenbar sogar ganz (2018: circa 4 Prozent / 2017: circa 6 Prozent).

In Anbetracht der klaren Aufforderungen in der Gesetzesbegründung und den einheitlichen Aussagen in den Handlungsempfehlungen, organisatorische und personelle Vorkehrungen für etwaige Interessenkollision zu treffen, fordern die Befunde auf, zu hinterfragen, ob die gesetzliche Offenheit insoweit ausreichend ist, um in der Praxis eine angemessene Interessenvertretung der Kinder und Jugendlichen zu bewirken. Dies gilt umso mehr, als die Zusammenarbeit von Allgemeinem Sozialen Dienst (Fallführung) und Vormundschaft (rechtliche Vertretung) aus den Hilfen zur Erziehung prinzipiell geläufig und fachlich anerkannt ist. Das macht deutlich, dass ohne klare Normanordnung in der Alltagspraxis offenbar ausgeblendet wird, dass die während der vorläufigen Inobhutnahme regelhaft zu treffenden Entscheidungen – anders als bei der regulären Inobhutnahme – im Lichte des objektiv bestehenden Interessenkonflikts besonders nach einer unabhängigen Vertretung verlangen. Inwiefern den Fachkräften subjektiv dieser Konflikt bewusst ist, kann nicht eingeschätzt werden. Selbst wenn sie nach bestem Wissen und Gewissen handeln, überwindet das nicht die bestehende rechtsstaatliche Lücke.

Problempunkte der Notvertretung während der vorläufigen Inobhutnahme

Während der vorläufigen Inobhutnahme sind vier typische Problempunkte identifizierbar, die eine wirkungsvolle Rechtsvertretung der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten erfordern. Dies gilt umso mehr, als Rechtschutzmaßnahmen in dieser Zeit offenbar kaum erwogen werden und es nur in wenigen Fällen zur Überprüfung kommt.
Auffällig ist, dass keine der folgenden, typischerweise während der vorläufigen Inobhutnahme im Notvertretungsrecht zu treffenden Entscheidungen aus einer klassischen Krisensituation hervorgeht, welche auch im Kontext der regulären Inobhutnahme eine rechtliche Vertretung erforderlich machen kann. Sie werden nicht aus einer plötzlichen Zuspitzung heraus erforderlich (wie z. B. erforderliche Gesundheitsmaßnahmen,), sondern ihre Notwendigkeit entsteht regelhaft aus dem Verwaltungsverfahren selbst.

Eine qualifizierte rechtliche Vertretung braucht Zeit – sowohl für die Prüfung juristischer Fragen als auch für ausführliche, vertrauensvolle Gespräche mit dem jeweiligen jungen Menschen. Die gesetzliche Vorgabe einer schnellstmöglichen Verteilung, die möglichst vor dem Aufbau sozialer Beziehungen und Bindungen erfolgen soll, erzeugt insoweit ein Spannungsfeld. Sie steht im Widerspruch zur ebenfalls innerhalb des Verteilverfahrens festgeschriebenen umfassenden Beteiligung der unbegleitet geflüchteten Kinder und Jugendlichen und der umfassenden Berücksichtigung ihrer Belange. Solange am Verteilverfahren festgehalten wird, lässt sich dieser Grundkonflikt zwischen Schnelligkeit und Sorgsamkeit nicht auflösen. Es gilt dennoch, rechtsstaatliche Prämissen nicht auszuhebeln, sondern vielmehr weitestgehend zur Geltung zu bringen. Der Verweis auf informelle statt rechtsstaatliche Wege ist besorgniserregend, auch weil Quotenauslastung kein Drehpunkt für den Zugang zu (Beschwerde-)Rechten sein darf. Die jungen Menschen benötigen gerade in Fragen des Verwaltungsverfahrens, bei denen das Jugendamt nur begrenzte Flexibilität in den Verwaltungsabläufen und zudem ein Interesse an einem Ende der eigenen Zuständigkeit hat, eine Person an ihrer Seite, die ihre Kenntnis hat von den Rechten der unbegleitet geflüchteten Kinder und Jugendlichen hat und als unabhängige rechtliche Vertretung auf deren Wahrung achtet. Das Notvertretungsrecht in seiner derzeitigen rechtlichen Absicherung bietet hierfür keine ausreichende Gewähr.

1. Problempunkt Alterseinschätzung

Das vorläufig in Obhut nehmende Jugendamt ist auch für die Einschätzung des Alters zuständig (§ 42f SGB VIII). Diese ist für die jungen Menschen folgenschwer. Festzuhalten ist zunächst, dass eine gesicherte Altersfeststellung faktisch nicht möglich ist. Eingeschätzt werden kann lediglich ein Altersbereich, innerhalb dessen die Festsetzung eines fiktiven Alters erfolgt. Die Verfahren der Alterseinschätzung unterscheiden sich methodisch in der Praxis erheblich und sind teils hochumstritten [18]. Unter Hinweis auf die Mitwirkungspflichten (§ 60 SGB I) wird ein hoher Druck auf die Betroffenen ausgeübt, sich den als notwendig erachteten Verfahren zu unterziehen. Bereits hier wäre wirkungsvoller rechtlicher Beistand notwendig, der in Zweifel steht, wenn die gleiche Person das Verfahren betreibt und die Forderungen im Verfahren stellt.

Greift das Jugendamt, dem ein (vermeintlich minderjähriger) junger Mensch zugewiesen wurde, die Einschätzung des Jugendamtes der vorläufigen Inobhutnahme an, verzögern sich Verfahren teils erheblich [19]. Der junge Mensch wird zum Objekt im Verfahren ohne eigene Handlungsmöglichkeit. Denn die Konstruktion führt dazu, dass der junge Mensch auf die Notvertretung des für ihn zuständig gewordenen Jugendamtes angewiesen ist, obwohl dieses (gegebenenfalls sogar die gleiche Person) seine Minderjährigkeit anzweifelt. Wie stark sich das vorher zuständige Jugendamt noch engagiert, ist ebenso unklar wie, ob und wann die Bestellung einer Vormundschaft betrieben wird.

Kommt es zu einem Ergebnis der Alterseinschätzung, welches der junge Mensch nicht akzeptieren kann, wird die Situation bereits dadurch kompliziert, dass die Altersfestsetzung selbst rechtsdogmatisch nicht als Verwaltungsakt eingeordnet wird und deshalb als solche nicht unmittelbar verwaltungsgerichtlich angegriffen werden kann. Rechtschutz muss deshalb gegen die Beendigung der (vorläufigen) Inobhutnahme/die Entlassung aus der Kinder- und Jugendhilfe eingelegt werden, bei der implizit die Alterseinschätzung zu überprüfen ist [20]. Widerspruch und Klage gegen diese Entscheidungen haben keine aufschiebende Wirkung, landesgesetzlich kann auf das Vorverfahren verzichtet werden (§ 42f Abs. 3 SGB VIII).

Anders als nach Einrichtung einer Vormundschaft ist zudem keine familiengerichtliche Überprüfung möglich. Deren Ende ist nämlich – auch wenn es kraft Gesetzes mit Volljährigkeit eintritt – gerichtlich festzustellen (§§ 1890, 1882 BGB), wogegen sich sowohl ein bisheriger Vormund (§ 59 Abs. 1 FamFG) als auch der betroffene junge Mensch (§ 60 Satz 1 und 3 FamFG) wenden kann [21]. Soweit die Festsetzung der Volljährigkeit während der vorläufigen Inobhutnahme erfolgt, fehlt es aber schon an der deklaratorischen Entscheidung des Familiengerichts, geschweige denn an einem entsprechenden Beschwerderecht für die die Notvertretung ausübende Person.

Ob das ohne Beratung und Unterstützung durch eine rechtskundige Person möglich und erfolgsversprechend ist, soll hier dahinstehen. In der Online-Umfrage 2018 des BumF wird deutlich, dass die Möglichkeiten des Rechtschutzes gegen fehlerhafte Altersfestsetzungen immer noch von fast der Hälfte der befragten Personen als schlecht und einem weiteren Viertel als sehr schlecht eingeschätzt werden. Nur knapp ein Fünftel halten die Möglichkeiten für befriedigend, weniger als 10 Prozent für gut bis sehr gut.

2. Problempunkt Verteilungsverfahren

Für die jungen Geflüchteten entscheidet sich über das Verteilverfahren nicht nur ihr örtlich zuständiges Jugendamt, sondern damit implizit regelmäßig auch ihr künftiger Lebensort. Da im Vorfeld des Gesetzgebungsprozesses erkannt wurde, dass dem strukturellen Interesse der Verteilung auf Seiten der Behörden die persönlichen Interessen der Betroffenen entgegenstehen können, wurden Ausschlusskriterien festgelegt, aufgrund derer keine Anmeldung zum Verteilverfahren durch das Jugendamt der vorläufigen Inobhutnahme erfolgen darf (§ 42b Abs. 4 SGB VIII): Kindeswohlgefährdung, Gesundheitszustand, Familienzusammenführung, Fristablauf. Über die Kategorie der Kindeswohlgefährdung können auch soziale Bindungen außerhalb der Familie, aber auch spezifische Versorgungs-/Betreuungserfordernisse Beachtung finden. Die Einschätzung der „Verteilfähigkeit“ ist ausdrücklich zusammen mit dem Kind oder Jugendlichen vorzunehmen (§ 42a Abs. 2 SGB VIII). Nur so lassen sich spezifische Lebensumstände und Erfahrungen, die Vulnerabilität des jeweiligen jungen Menschen berücksichtigen. Insbesondere ist eine Recherche zu Familienangehörigen sowie die Überprüfung des psychischen und physischen Gesundheitszustandes durchzuführen. Im Rahmen des Notvertretungsrechts ist auf die konkrete Beteiligung zu achten und die Berücksichtigung der Belange der betroffenen Person gegebenenfalls auch durchzusetzen. Aus der Praxis wird von einer teils auf den erheblichen Zeitdruck zurückzuführenden Oberflächlichkeit der zu erfolgenden Prüfung sowie von einer engen Auslegung des Familienbegriffs berichtet, bei der zuweilen auch die Eignung und Bereitschaft für Vormundschaft als zusätzliche Voraussetzung einer Zusammenführung aufgeführt wird. Zum Beispiel bei erwachsenen Geschwistern, aber auch in anderen Konstellationen, gebe es erhebliche Schwierigkeiten eine Abstimmung der Verteilverfahren.

Aus dem Bericht der Bundesregierung ergeben sich lediglich Erkenntnisse zur Anwendung dieser Verteilausschlusskriterien. Danach ist anzunehmen dass eine Familienzusammenführung der häufigste Grund für einen Verteilausschuss ist [22]. Im Rahmen der DJI-Studie „Unbegleitete und begleitete geflüchtete Jugendliche – Lebenslagen und Integrationsprozesse aus der Perspektive junger Geflüchteter“ wurden 100 geflüchtete Jugendliche zu ihren Lebenslagen nach der Einreise in Deutschland befragt. Bisher liegt nur ein Bericht zur ersten Befragungswelle aus dem ersten Halbjahr 2016 vor. In diesem wird deutlich, dass die Jugendlichen bei den kurzzeitigen Verlegungen in der Regel keinen Einfluss auf die Verteilentscheidungen und zu ihren Wohnortwünschen äußern konnten, kaum Informationen oder Unterstützung erhielten und auch notwendige Klärungsprozesse für eine Familienzusammenführung zeitlich kaum möglich waren [23].

In der Online-Umfrage 2018 des BumF wird deutlich, dass die Möglichkeiten des Rechtschutzes gegen die Verteilung ebenfalls von fast der Hälfte der befragten Personen als schlecht und einem weiteren Viertel als sehr schlecht eingeschätzt werden. Nur gut ein Fünftel halten die Möglichkeiten für befriedigend, eine Minderheit für gut oder sogar für sehr gut. Ein weiterer Anhaltspunkt, wie die jungen Menschen selbst ihre Verteilung erleben und bewerten, kann in der sogenannten „Weiterverteilung mit den eigenen Füßen“ gesehen werden. Als mögliche Gründe für das Entziehen/Verschwinden der jungen Geflüchteten wurden von den für den UMA-Bericht der Bundesregierung befragten Ländern bzw. Landesstellen, die Weiterreise zu Familienangehörigen entweder innerhalb Deutschlands oder ins europäische Ausland genannt, aber auch die Unzufriedenheit der jungen Geflüchteten mit dem Unterbringungsort und/oder der Verteilentscheidung der Behörden. Dabei spiele eine große Rolle, dass junge Geflüchtete in der Regel urbane Gegenden einer ländlichen Unterbringung vorziehen [24]. Auch im Rahmen der Online-Umfrage des BumF wurden diese Gründe für ein Nichtakzeptieren des zugewiesenen Orts vielfach benannt. Nachdenklich macht auch, wenn der Zeitpunkt berücksichtigt wird, zu dem sich die jungen Menschen auf die Weiterreise begeben. In der Online-Umfrage des BumF wurden „Abgängigkeiten“ manchmal/oft/sehr oft bereits während der vorläufigen Inobhutnahme (2018: circa 35 Prozent), während der Inobhutnahme (2018: circa  24 Prozent), während einer anschließenden Hilfe zur Erziehung (2018: circa 17 Prozent) und während einer Hilfe für Volljährige (2018: circa 20 Prozent) beobachtet. Im Vergleich zum Jahr 2017 ist bezogen auf alle Hilfezeitpunkte eine zunehmende Tendenz der „Abgängigkeiten“ in 2018 sichtbar (besonders deutlich bei den Hilfen für junge Volljährige). Es liegt die Vermutung nahe, dass gerade ein anfängliches Weiterziehen von den jungen Menschen als effektiver und effizienter erachtet wird im Vergleich zum Durchlaufen des behördlichen Verfahrens oder gar von Rechtschutzmaßnahmen.

Ähnlich wie bereits zur Alterseinschätzung beschrieben, sind die jungen Menschen bei der Wahrnehmung von Rechtschutz gegen eine Verteilentscheidung zudem mit einer komplizierten Rechtslage konfrontiert. Diese schmälert wiederum ihre Chancen, sich wirksam zur Wehr zu setzen – unabhängig von der Frage der rechtlichen Vertretung. Auch hier ist rechtlich nämlich noch nicht geklärt, welche konkrete Entscheidung mit Verteilverfahren von ihnen mit welchem Rückblick und welcher Wirkung auf vorangegangene Entscheidungen angegriffen werden kann: So gilt die Entscheidung der Anmeldung zum Verteilverfahren noch als eine solche „ohne Außenwirkung“. Außenwirkung tritt erst durch die Zuweisung der Landesstelle des aufnehmenden Bundeslandes und durch die Inobhutnahme durch das zuständig gewordene Jugendamt ein [25]. Das ist problematisch, da in der Regel nicht die Anwendung der Quotenregelung, sondern vielmehr eine Missachtung von Ausschlusskriterien streitig ist. Da kein Widerspruchsverfahren zugelassen ist und zudem eine Klage gegen die Zuweisungsentscheidung keine aufschiebende Wirkung hat (§ 42b Abs. 7 SGB VIII), sind die unbegleitet geflüchteten Kinder und Jugendlichen auf gerichtlichen Eilrechtschutz verwiesen.

Berichte aus der Praxis weisen darauf hin, dass Klärungen im Verteilverfahren eher auf einer verwaltungsinternen Ebene und außerhalb formaler Rechtsschutzverfahren erreicht werden. Von der umstrittenen Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Durchsetzung von Verteilentscheidungen [26] wird nach Berichten aus der Praxis inzwischen wohl überwiegend abgesehen. In Einzelfällen kommt dieser aber weiter vor – nicht immer wird akzeptiert, wenn unbegleitet geflüchtete Minderjährige durch ein Entziehen vor der „Zuführungsreise“ ein Verstreichen der Monatsfrist und damit ein Eingreifen des Ausschlussgrundes gem. § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII provozieren. Folge kann nicht nur eine Gefährdung des Kindeswohls durch das Erleben der Zwangsmaßnahmen, sondern auch der Beginn eines sogenannten „Verschiebe-Ping-Pong“ sein, wenn Kinder und Jugendliche mehrfach an den Ort ihrer vorläufigen Inobhutnahme zurückkehren, ohne dass es zu einer Befassung mit Bedarfen und Motivation der Minderjährigen kommt [27].

3. Problempunkt „freiwilliger“ Zuständigkeitswechsel nach erfolgter Verteilung

Nach erfolgter Verteilung ist eine Änderung der örtlichen Zuständigkeit des aufnehmenden Jugendamtes gesetzlich nur während der Dauer der Inobhutnahme und nur im Einverständnis beider Kommunen vorgesehen (§ 88a Abs. 2 S. 3 SGB VIII). Für einen „freiwilligen“ Zuständigkeitswechsel nach Beginn der Leistungsgewährung fehlt eine entsprechende Regelung in § 88a Abs. 3 SGB VIII. Unter anderem die Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesjugend- und Familienbehörden hat diese Lücke aufgegriffen, aber bislang keine Verständigung über den Umgang hiermit oder gesetzlichen Änderungsbedarf erzielt [28]. Die Praxis greift gesetzlichen Änderungen vorweg, wenn sie in analoger Anwendung einen Zuständigkeitswechsel konstruiert [29].

Ein Recht auf Zuständigkeitswechsel besteht für die unbegleitet geflüchteten Kinder und Jugendlichen nicht. Zwar wird das im Verteilverfahren aufnehmende Jugendamt regelmäßig bereit sein, den jungen Menschen in den Aufenthaltsbereich seiner Familie zu entlassen. Es kann ihn bei entsprechendem Hilfebedarf ggf. auch dort in einer Einrichtung unterbringen. In beiden Fällen ist die pädagogische und bedarfsgerechte Begleitung der unbegleitet geflüchteten Kinder und Jugendlichen vor Ort aber nicht in gleichem Maß wie bei einem Zuständigkeitswechsel gewährleistet. Da es sich um eine Kann-Regelung handelt und in der Praxis die angefragten örtlichen Träger häufig ohnehin hohe Fallzahlen haben, wird von der Möglichkeit des „freiwilligen“ Zuständigkeitswechsels – soweit ersichtlich – jedoch wenig Gebrauch gemacht [30]. Die jungen Geflüchteten und ihre Familien haben hier kaum Handhabe Druck auszuüben. Damit sind sie umso mehr auf eine wirksame, frühzeitige rechtliche Vertretung angewiesen, die gegen Ermessensnichtgebrauch sowie –fehlgebrauch wegen Ermessenreduzierung auf Null (beispielsweise bei einer dem Kindeswohl dienlichen Familienzusammenführung oder aufgrund einer spezifischen medizinischen Notlage) [31] hinweist.

Die aktuelle Ausgestaltung des Verteilverfahrens macht die Notwendigkeit deutlich, bei Familienzusammenführung im Inland im Gesetz eine Abänderung der Verteilentscheidung vorzusehen, um dauerhaft eine pädagogische und bedarfsgerechte Begleitung der unbegleitet geflüchteten Kinder und Jugendlichen vor Ort zu gewährleisten. Bislang kann eine Klage mit Blick auf § 88a Abs. 3 SGB VIII kaum als erfolgsversprechende, wirksame Rechtschutzmöglichkeit angeführt werden.

4. Problempunkt Asylverfahren

Die erfolgreiche Bewältigung des Asylverfahrens oder alternative Möglichkeiten der Aufenthaltssicherung sind für unbegleitet geflüchtete Kinder und Jugendliche von sehr großer Bedeutung. Die Rechtshandlungen und Entscheidungen, die hier getroffen werden, haben weitreichende Konsequenzen, da sie für eine dauerhafte Bleibeperspektive und selbstbestimmte Lebensgestaltung durchgreifend sein können. Das Asylverfahren kann eine zusätzliche Dringlichkeit erhalten, wenn mit ihm der Wunsch eines Familiennachzugs verknüpft ist. In diesem Fall muss das Verfahren vor Erreichen der Volljährigkeit abgeschlossen sein (§§ 36, 36a AufenthG).

Eine qualifizierte rechtliche Begleitung braucht Fachkenntnisse im Asyl- und Aufenthaltsrecht einschließlich der Regelungen zum innerdeutschen, innereuropäischen oder außereuropäischen Familiennachzug. Auch Vormünder erleben sich häufig an ihren Grenzen, wenn sie gemeinsam mit ihrem Mündel unter Berücksichtigung von dessen Lebensbiographie und Fluchtgründen entscheiden sollen, ob ein Asylantrag zu stellen ist, wie das Mündel auf die Anhörung vorbereitet werden kann, welche weiteren Schritte inklusive dem Einlegen von Rechtsmitteln zu erwägen sind. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die Bestellung von rechtskundigen Mitvormündern/Ergänzungspflegern abgelehnt [32]. Die Qualifikation von Vormündern (im Sinne einer Vermittlung von Grundkenntnissen, aber auch dem Wissen, bei welchen Fragen sie zusätzlichen rechtlichen Rat wo und mit welcher Finanzierung sie einholen können) bleibt damit fachliche Herausforderung der Kinder- und Jugendhilfe. In manchen Ländern werden spezifische Beratungsdienste durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Verfügung gestellt. Besonders wo diese fehlen, besteht Anlass zur Sorge, dass das allgemeine System der Beratungs- und Prozesskostenhilfe nicht ausreicht, um eine fachkundige Vertretung sicherzustellen. Aus der Praxis wird von Ratenzahlungen vom Taschengeld der unbegleiteten Minderjährigen, Kostenübernahmen durch Ehrenamtliche, Privatvormünder oder Rechtshilfefonds berichtet. Es liegt daher nahe, dass mitunter aus Kostengründen kein spezialisierter Anwalt / keine spezialisierte Anwältin eingeschaltet wird und ein Einlegen von Rechtsmitteln unterbleibt.

Diese fachlichen Herausforderungen stellen sich auch im Rahmen des Notvertretungsrechts den Fachkräften, die während der (vorläufigen) Inobhutnahme für die gesetzliche Vertretung der unbegleitet geflüchteten Kinder und Jugendlichen verantwortlich sind. Seit dem Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht [33] ist gesetzlich ausdrücklich hervorgehoben, dass schon vor Bestellung eines Vormunds / einer Vormundin das Jugendamt verpflichtet ist, unverzüglich einen Asylantrag für die jungen Geflüchteten zu stellen, sofern dies angezeigt erscheint (§ 42 Abs. 2 Satz 5 SGB VIII). Für die unbegleitet geflüchteten Kinder und Jugendlichen und ihre Familien können Fehlentscheidungen in beiden Richtungen schwerwiegende Konsequenzen haben. Werden Asylanträge nicht rechtzeitig gestellt, kann dadurch ein möglicher Familiennachzug gegebenenfalls vereitelt werden. Expertinnen und Experten halten allerdings nur in seltenen Ausnahmefällen unverzügliches Handeln für sachgerecht. Sie warnen vielmehr, dass häufig durch die strengen asylverfahrensrechtlichen Mitwirkungs- und Betreibenspflichten (§§ 15, 33 AsylG) verfrühtes Handeln für die unbegleitet geflüchteten Kinder und Jugendlichen zu erheblichen ausländerrechtlichen Nachteilen führen kann. Die Ablehnung eines Asylantrags könne alternative Möglichkeiten der Perspektivklärung und Aufenthaltsabsicherung unumkehrbar versperren, etwa wenn dadurch der Weg zu Ausbildung und Beschäftigung versperrt wird (§ 60a Abs. 6 AufenthG). Die Online-Umfrage des BumF enthält Hinweise, dass zumeist pauschal für alle unbegleitet geflüchteten Kinder und Jugendliche Asylanträge schon vor Bestellung der Vormundschaft gar nicht erwogen werden (2018: circa 72 Prozent; 2017: circa 78 Prozent), mancherorts aber auch pauschal für alle (2018: circa 12 Prozent; 2017: circa 8 Prozent) oder für alle aus bestimmten Herkunftsländern (2018: circa 3 Prozent; 2017: circa 2 Prozent) eingereicht werden. Das Gesetz zur Durchsetzung der besseren Ausreisepflicht verstärkt offenbar die Tendenz pauschaler Asylanträge. Die eigentlich geforderten Einzelfallent-scheidungen werden offenbar verhältnismäßig selten getroffen (2018: circa 13 Prozent; 2017: circa 12 Prozent).

Zu erkennen ist, dass asyl- und aufenthaltsrechtliche Entscheidungen einer sorgfältigen Auseinandersetzung mit dem konkreten Einzelfall und der dahinterstehenden Fluchtgeschichte und einer fundierten Einschätzung auf Grundlage der Rechtslage und Entscheidungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bedürfen. Erforderlich ist aufgrund der Mitwirkens- und Betreibenspflichten ferner eine kontinuierliche, besondere Aufmerksamkeit der rechtlichen Vertretung sowie größte Sorgfalt bei der Organisationsverantwortung, etwa bei Abwesenheit der rechtlichen Vertretung. Diese Anforderungen sind im Verfahrensstadium der (vorläufigen) Inobhutnahme – auch nach der Verteilentscheidung – kaum und erst recht nicht durch Fachkräfte des Allgemeinen Sozialen Dienstes ohne entsprechende Spezialisierung und Struktur zu gewährleisten. Die gegenwärtigen rechtlichen Vorgaben legitimieren formal zur rechtlichen Vertretung und heben die dort entstehenden Pflichten hervor, sie laufen aber sowohl auf Grund des gegebenen Zeitdrucks als auch der Qualifizierungsanforderungen in der Praxis leer.

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin,  27./28. Juni 2019


Fußnoten

[1] In diesem Papier wird an die früher gängige Bezeichnung „Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF)“ angeknüpft, obgleich seit dem Inkrafttreten des genannten Umverteilungsgesetzes in vielen Kontexten der im Gesetz verwendete Begriff „Unbegleitete minderjährige Ausländer“ (UMA) genutzt wird. So soll eine Wahrnehmbarkeit der tatsächlichen Erfahrungen der betroffenen jungen Menschen hergestellt werden.
[2] Inkrafttreten der SGB VIII-Änderungen durch das Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher vom 28.10.2015, BGBl. I S. 1802.
[3] Als Übergangsregelung bestand bis zum 31.12.2016 zudem die Pflicht der Vormundbestellung nach Ablauf eines Monats nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme, da bis dahin eine Verlängerung der vorläufigen Inobhutnahme auf eine Dauer von zwei Monaten möglich war (§ 42d Abs. 3 SGB VIII).
[4] Beispielhaft unter Vielen: AGJ-Stellungnahme vom 25. Juni 2015, S. 5f., abrufbar als PDF online unter: www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2015/AGJ-StN_RefE-Gesetz_auslaendische_Kinder_und_Jugendliche.pdf; BumF-Stellungnahme vom Okt. 2015, S. 4, abrufbar als PDF online unter: b-umf.de/src/wp-content/uploads/2017/12/Schriftlicher-Bericht-f%C3%BCr-die-%C3%B6ffentliche-Anh%C3%B6rung-zum-Entwurf.pdf; DIJuF-Hinweise vom 22. Juni 2015, S. 7, abrufbar als PDF online unter: www.dijuf.de/tl_files/downloads/2015/DIJuF-Hinweise_Umsetzung_Anhebung_Grundfreibetrag_v._19.06.2015.pdf.
[5] Bericht vom 20.09.2018, BT-Drs. 19/4517; AKStat, Monitor Hilfen zur Erziehung 2018, online abrufbar als PDF unter: www.hzemonitor.akjstat.tu-dortmund.de/fileadmin/user_upload/documents/Monitor_Hilfen_zur_Erziehung_2018.pdf.
[6] Seit 2017 enthält die Online-Umfrage auch Fragen zur Notvertretung.
[7] Materialien abrufbar online unter: b-umf.de/material/.
[8] Teilnehmendenzahl 2017: 2211, davon 1347 vollständig ausgefüllte Fragebögen; Teilnehmendenzahl 2018: 1083, davon vollständig ausgefüllte Fragebögen: 723.
[9] Trenczek/Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42a Rn. 18.
[10] Kepert/Dexheimer in LPK-SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 42 Rn. 61 und § 42a Rn. 16.
[11] Änderung des § 42 SGB VIII durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (KICK), BGBl. I S. 2729, Gesetzesbegründung findet sich in BT-Drs. 15/3676, S. 37.
[12] In der Begründung zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher“ wird ausdrücklich auf die eventuelle Notwendigkeit kurzfristiger Maßnahmen zur rechtlichen Aufenthaltssicherung hingewiesen, BT-Drs. 18/5921, S. 24.
[13] Kepert/Dexheimer in LPK-SGB VIII, § 42a Rn. 17.
[14] BT-Drs. 18/5921, S. 25.
[15] Vergleiche zum Beispiel BAGLJÄ-Empfehlung Nr. 128 „Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen, Verteilungsverfahren, Maßnahmen der Jugendhilfe und Clearingverfahren“ in der 2. aktualisierte Fassung 2017, S. 24, abrufbar als PDF online unter: www.bagljae.de/assets/downloads/5b362538/128_handlungsempfehlungen-zum-umgang-mit-unbge.pdf.
[16] Unter anderem Trenczek/Frankfurter Kommentar SGB VIII, § 42 Rn. 35; González Méndez de Vigo, Gesetzliche Rahmung: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im SGB VIII, in: Brinks, S./Dittmann, E./Müller, H. (Hrsg.), Handbuch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, 2017, S. 20, 32 f, online abrufbar als PDF unter: themennetzwerk-fluechtlingskinder.de/fileadmin/dokumente/gesetzliche_rahmung_unbegleitete_minderj%C3%A4hrige_fl%C3%BCchtlinge_im_sgb_viii_ism.compressed.pdf.
[17] Kepert/Dexheimer in LPK-SGB VIII, § 42a Rn. 16.
[18 ]Tabelle 52 zur Übersicht angewendeter Methoden im UMA-Bericht der Bundesregierung, BT-Drs. 19/4517;
Deutscher Caritasverband – Referat Migration und Integration (Hrsg.), Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland – Rechtliche Vorgaben und deren Umsetzung, 2017, S. 29ff.; kritische schwedische Studie zu medizinischer Alterseinschätzung Mostard/Tamsen, Error rates for unvalidated medical age assessment procedures, International Journal of Legal Medicine (2019) 133:613–623, online abrufbar unter: link.springer.com/epdf/10.1007/s00414-018-1916-3.
[19] BT-Drs. 19/4517, S. 64.
[20] Kepert/Dexheimer in LPK-SGB VIII, § 42f Rn. 8.
[21] BGH, Beschluss vom 24.01.2018 – XII ZB 383/17, FamRZ 2018, 601.
22 BT-Drs. 19/4517, S. 70f.
23 Lechner/Huber, Ankommen nach der Flucht, 2017, S. 88-91, online abrufbar unter: www.dji.de/ueber-uns/projekte/projekte/unbegleitete-und-begleitete-gefluechtete-jugendliche-lebenslagen-und-integrationsprozesse-aus-der-perspektive-junger-gefluechteter.html.
[24] BT-Drs. 19/4517, S. 33.
[25] Trenczek/Frankfurter Kommentar SGB VIII, § 42b Rn. 12; Lamontain, Umsetzung des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher, JAmt 2016, S. 110, 111.
[26] Ablehnendes Gutachten des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge vom 17.7.2017, online abrufbar unter: www.deutscher-verein.de/de/gutachten-2017-zur-frage-der-zulaessigkeit-der-anwendung-von-zwangsmitteln-bei-der-verteilung-von-unbegleiteten-auslaendischen-jugendlichen-sowie-der-oertlichen-zustaendigkeit-fuer-die-anordnung-der-vormundschaft-2636,1206,1000.html.
[27] González Méndez de Vigo, Gesetzliche Rahmung: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im SGB VIII, in: Brinks/S./ Dittmann, E./Müller, H. (Hrsg.), Handbuch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, 2017, S. 20, 29.
[28] Es wurden keine entsprechenden Beschlüsse auf den AGJF-Sitzungen am 22./23.03.2018 in Hannover und am21./22.3.2019 in Mainz gefasst.
[29] Eschelbach/Frankfurter Kommentar, § 88a Rn. 6.
[30] Eschelbach/Frankfurter Kommentar SGB VIII, § 88a Rn. 5.
[31] Katzenstein/González Méndez de Vigo/Meysen: Das Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher JAmt 2015, 530, 532.
[32] Unter anderem BGH, Beschluss vom 4.12.2013 – XII ZB 57/13, NJW 2014, 865; BGH, Beschluss vom 13.09.2017 -XII ZB 497/16, NJW 2017, 3520.
[33] BT-Drs. 18/11546.