Kinderschutz in Corona-Zeiten
Am 23. Juni 2022 fand das vierte „Transfer-Frühstück“ des Projekts „Transfer-Talks: Kinder- und Jugendhilfe nach Corona“ der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ statt. Im Rahmen dieser digitalen Veranstaltungen wurden innerhalb einer Frühstückslänge neue Forschungsergebnisse zu einem Schwerpunktthema vor dem Hintergrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie vorgestellt und diskutiert. Das vierte Transfer-Frühstück widmete sich den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Kinderschutz. Durch die Veranstaltung, an der etwa 160 Interessierte teilnahmen, führte die Erziehungswissenschaftlerin und Podcasterin Katrin Rönicke.
Grußwort der AGJ-Vorsitzenden
Die AGJ-Vorsitzende Prof.‘in Dr. Karin Böllert begrüßte die Teilnehmenden des vierten Transfer-Frühstücks und führte aus, dass der Kinderschutz in Deutschland Urpriorität sei für die verantwortlichen Institutionen. Diese hätten während der Pandemie aller Widrigkeiten zum Trotze ein hohes Engagement im Aufrechterhalten der Meldestrukturen an den Tag gelegt. Gleichzeitig habe der letzte Familienbericht aufgezeigt, dass Eltern eine besondere Verantwortung für das gute Aufwachsen und die Eröffnung von Zielperspektiven ihrer Kinder haben. Elternschaft an sich stehe jedoch in Zeiten der Corona-Pandemie vor besonderen Herausforderungen, verbunden mit einer Intensivierung der Verantwortungswahrnehmung von Eltern gegenüber ihren Kindern.
Input 1 – Prof. Dr. Babette Renneberg (Freie Universität Berlin)
Prof. Dr. Babette Renneberg, Universitätsprofessorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Freien Universität Berlin, stellte Ergebnisse aus der Studie „Elternschaft in Corona-Zeiten“ vor, die die FU Berlin zusammen mit der Charité auf Basis von sowohl repräsentativen, als auch Onlinestichproben seit August 2020 durchführt.
Zentrale Ergebnisse sind, dass es bereits im August 2020 ein erhöhtes Level an Elternstress, Angst und Depressivität gab, welches auch in 2021 anhielt. Es wurden sowohl repräsentative Stichproben als auch Online-Stichproben durchgeführt. Die Ergebnisse beider Stichproben unterscheiden sich insoweit, als dass der elterliche Stress, Angst und Depressivität bei der Online-Befragung höher eingeschätzt wurde als bei der repräsentativen Stichprobe. Gleichzeitig wurde auch die Zunahme von verbaler emotionaler Gewalt berichtet. Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, Sorgen um die Entwicklung der Pandemie sowie eingeschränkte Betreuung und Bildung werden als größte Belastungen empfunden. Daneben zeigte sich ein erhöhtes Auftreten von Kindesmisshandlungen. Es lässt sich feststellen, dass Subgruppen von Eltern sehr belastet sind und Gewalt zunimmt. Elternstress spielt also eine zentrale Rolle für das Auftreten von Gewalt und es brauche familienorientierte Prävention und Intervention, um dem entgegenzuwirken.
Gleichzeitig lassen sich jedoch auch pandemiebedingte positive Veränderungen wahrnehmen: Vermehrte Wertschätzung und Dankbarkeit, engere Beziehungen innerhalb der Familie sowie mehr Zeit mit Menschen wurden als bereichernd empfunden. Das soziale Miteinander innerhalb der Familie sowie positive Aktivitäten spielen darüber hinaus eine entlastende Rolle.
Input 2 – Dr. Thomas Mühlmann (Forschungsverbund TU Dortmund/DJI, Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik)
Dr. Thomas Mühlmann, Geschäftsführer der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat), stellte auf Basis seiner Forschung aktuelle Daten zu Gefährdungseinschätzungen der Jugendämter vor. Die Zahl der 8a-Verfahren hat sich 2020 insgesamt ähnlich entwickelt, wie es auch ohne Pandemie zu erwarten gewesen wäre. Im zeitlichen Verlauf zeigten sich allerdings pandemiespezifische Einflüsse auf die Fallzahlen. Unter den Annahmen, dass die Pandemie zusätzliche Belastungen für Familien und zusätzliche Gefährdungssituationen für Kinder und Jugendliche verursacht habe, dass dies nicht durch Entlastungen ausgeglichen wurde, und dass andere Institutionen (außer Jugendämtern) möglicherweise weniger eigene Gefährdungseinschätzungen durchgeführt haben, kann dies ein Hinweis darauf sein, dass das Dunkelfeld angewachsen ist.
Allerdings sind Fallzahlen nie „eingebrochen“ und Unterschiede bei den Fallmerkmalen erscheinen nach jetzigem Wissensstand moderat. Dies deutet darauf hin, dass Kommunikations- und Kooperationsstrukturen sowie Arbeitsabläufe des Kinderschutzes insgesamt mit hoher Priorität aufrechterhalten wurden. Aufgrund der kommunalen Unterschiedelassen sich diese Ergebnisse jedoch nicht auf einzelne Jugendämter übertragen.
Diskussion
Es wurde festgestellt, dass die Teilnehmer*innen der Studie „Elternschaft in Corona-Zeiten“, bei denen insgesamt ein erhöhter Elternstress festzustellen war, vermehrt weibliche, finanziell bessergestellte Personen mit höherem Bildungsniveau waren. Vor diesem Hintergrund kam die Frage auf, ob dies im Umkehrschluss bedeutet, dass Personen mit eher niedrigem Bildungsniveau bereits vor der Pandemie erhöhtem Stress durch u. a. die Folgen von materieller Deprivation ausgesetzt waren und aufgrund dessen kein erhöhtes Stresslevel festzustellen ist. Prof. Dr. Renneberg verneinte dies, da dieses Ergebnis nur ein Indikator dafür sei, dass vermehrt die bessersituierte Personengruppe an den Stichproben teilgenommen hat. Es fehle beispielsweise, aufgrund der Sprachbarriere, an Daten über Familien mit Migrationshintergrund. Außerdem müssten auch verstärkt benachteiligte Familien erreicht werden, um hier ein deutlicheres Bild zeichnen zu können. Es bestehe die Sorge, dass es Gruppen von Personen gibt, denen es nicht gut geht und dass die Kinder aufgrund dessen weniger durch ihre Eltern geschützt und mehr Gewalt erleben würden.
Bezüglich der Ergebnisse der 8a-Zusatzerhebung kam aus dem Plenum der Hinweis, dass die statistischen Ergebnisse in gewissen Kommunen von denen der bundesweiten Erhebungen abweichen. Dies bestätigt Herr Dr. Mühlmann und führt aus, dass es durchaus kommunale Unterschiede geben kann. Des Weiteren wies er darauf hin, dass es bei der Vermutung, es könnte durch die Pandemie mehr Gefährdungen gegeben haben, offenbar um Erhöhungen geht, die im Bundesdurchschnitt nicht aufgefallen sind bzw. gemeldet wurden.
Ausblick
Eine Übersicht zu den Themenschwerpunkten der Podcast-Folgen, im Rahmen derer Vertreter*innen aus Wissenschaft und Praxis zu den jeweiligen Themen ins Gespräch kommen, finden sich hier.
Das Projekt „Transfer-Talks“ wird im Rahmen von AUF!leben – Zukunft ist jetzt. gefördert. AUF!leben – Zukunft ist jetzt. ist ein Programm der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Das Programm ist Teil des Aktionsprogramms Aufholen nach Corona der Bundesregierung.
Wir danken an dieser Stelle nochmal herzlich unseren Referierenden für die wertvollen Inputs sowie allen Teilnehmenden für das große Interesse und die rege Beteiligung!