Erasmus für alle? EU-Programm für eigenständige Jugendpolitik!

Erasmus für alle? EU-Programm für eigenständige Jugendpolitik! 

Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ zum Vorschlag der EU-Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des EU-Programms „ERASMUS FÜR ALLE“ für allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport  KOM(2011) 788 / 3 

Stellungnahme als PDF

Unter dänischer EU-Ratspräsidentschaft verhandeln der Rat der EU und das Europäische Parlament aktuell über ein Programmpaket, das ab 2014 unter anderem im Jugendbereich seine Wirkung entfalten soll. Die Kommission hat am 23. November 2011 einen Vorschlag für die Bereiche allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport vorgelegt. Darin werden die bisherigen Programme Lebenslanges Lernen (Comenius, Leonardo da Vinci, Erasmus und Grundtvig), JUGEND IN AKTION sowie internationale Kooperations-programme aus dem Bildungsbereich (Erasmus Mundus, Tempus, Alfa, Edulink sowie Zusammenarbeit mit industrialisierten Ländern) in einem Programm namens „Erasmus für alle“ zusammengeführt. Die Strukturierung dieses Programmentwurfs richtet sich jedoch nicht an den Bereichen allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport aus, sondern an drei übergeordneten thematischen Aktionsfeldern: Individuelle Lernmobilität, Zusammenarbeit für Innovation und gute Praxis sowie Unterstützung für politische Reformen.

Mit der vorliegenden Stellungnahme nimmt die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ eine jugendpolitische Bewertung dieses Programmentwurfs vor. Die AGJ hat schon früh deutlich formuliert, dass sie ein eigenständiges Jugendprogramm mit eigener Haushaltslinie bevorzugt hätte.[1] In Übereinstimmung mit Bund, Ländern und zivilgesellschaftlichen Akteuren warnte sie vor einer Integration der Bereiche Bildung, Jugend und Sport in einem bildungs- und arbeitsmarktpolitisch ausgerichteten Gesamtprogramm, weil die Förderziele eines solchen Programms – ungeachtet vertraglicher Aufgaben der EU – auf unmittelbare wirtschaftliche Verwertbarkeit beschränkt wären, weil der klar profilierte Jugendbereich geschwächt würde und weil zentrale Zielgruppen ausgeschlossen blieben. 

Die Erfüllung der im Folgenden formulierten Anforderungen an das Programm ist notwendig, um ein taugliches Förderinstrument der jugendpolitischen Zusammenarbeit in Europa bereitzustellen, mit dem die Bedeutung von nicht formalem und informellem Lernen anerkannt, das europäische Bewusstsein junger Menschen befördert und die Teilhabe auch benachteiligter und individuell beeinträchtigter Jugendlicher gesichert wird.
 

Politische Zielsetzungen: gesellschaftliches Engagement, soziale Eingliederung und Solidarität der Jugend

Das neue Programm sollte unter anderem als Katalysator für die Weiterentwicklung von Jugendarbeit/Jugendhilfe auf europäischer und nationaler Ebene sowie für grenzüberschreitende Kooperationen wirken. Dies kann es jedoch nur dann leisten, wenn es die beiden übergeordneten Ziele der EU-Jugendstrategie verfolgt, nämlich sowohl mehr Möglichkeiten und mehr Chancengleichheit für alle jungen Menschen im Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen, als auch gesellschaftliches Engagement, soziale Eingliederung und Solidarität aller jungen Menschen zu fördern.

Der Programmentwurf der Kommission stellt jedoch keinen hinreichenden Beitrag zur Erfüllung der vertraglichen Aufgabe der EU dar, Jugendliche am demokratischen Leben in Europa zu beteiligen und damit zur Ausbildung eines europäischen Bewusstseins und zur Gestaltung einer von Toleranz und Vielfalt geprägten EU der Bürgerinnen und Bürger beizutragen. 

Die von der Kommission per Begleittext vorgeschlagene Konzentration des Jugendbereichs auf Jugendbegegnungen, Freiwilligendienst, Aktivitäten mit Partnerländern sowie Trainings- und Netzwerkaktivitäten für Multiplikatoren und Fachkräfte lässt insbesondere um Jugenddemokratieprojekte und Jugendinitiativen fürchten, die Jugendliche selbst entwickeln und mit großer Wirkung eigenverantwortlich umsetzen. Jugendinitiativen finden zwar im Begleittext Erwähnung, könnten aber dennoch wegfallen, wenn – wie von der Kommission vorgesehen – nur öffentliche und private „Einrichtungen“ als Antragsteller zugelassen werden. 


Jugendpolitisches Profil: Eigenes Kapitel, spezifische Aktivitäten und Budgets

Jugendpolitik ist ein zentrales Element im fortdauernden Prozess der europäischen Integration. Die EU hat sich ihr jugendpolitisches Profil im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes zur Förderung von aktiver Bürgerschaft, Solidarität und demokratischem Engagement junger Menschen sowie zur Unterstützung ihrer Mobilität und grenzüberschreitender Kooperation im Laufe der letzten Jahre erarbeitet.[2]

Dabei hat das EU-Jugendprogramm die Rolle eines zentralen Instruments zur Unterstützung junger Menschen im Sinne von Wertevermittlung und Persönlichkeitsentwicklung übernommen, und dies unabhängig von einer auf die Entwicklung des „Humankapitals“ reduzierten Sichtweise. 

Die von der Kommission mit dem neuen Programm angestrebte Förderung von Bildung und Ausbildung zielt jedoch sehr deutlich auf Innovation, Produktivität und Wachstum und auf die Vermehrung arbeitsmarktrelevanten Wissens und entsprechender Fertigkeiten. Darin sieht die AGJ die Gefahr einer jugendpolitischen Schwächung der EU und der Instrumentalisierung des Programms für rein wirtschaftspolitische Zwecke. 

Um dies zu vermeiden und um die Souveränität von europäischer Jugendpolitik zu garantieren, ist ein eigenständiges Jugendprogramm, mindestens jedoch eine eigene Säule mit eigenem Kapitel im Rechtstext erforderlich. 

Aus Sicht der AGJ spricht grundsätzlich nichts gegen die von der Kommission vorgeschlagenen übergeordneten Aktionsfelder (individuelle Lernmobilität, Zusammenarbeit für Innovation und gute Praxis, Unterstützung für politische Reformen). Der Jugendbereich benötigt jedoch eine eigene Maßnahmenlogik und eine entsprechende Erweiterung über reine Mobilitätsmaßnahmen hinaus. So ist eine zentrale Gestaltungsform von Jugendarbeit das Zusammen-kommen junger Menschen in der Gruppe, aus der heraus sowohl selbstorganisierte als auch angeregte Bildungsprozesse und schließlich weiteres Engagement in Europa hervorgehen. Das sollte in der Gesamtausrichtung des Programms berücksichtigt werden und bei der Förderung erkennbar sein.

Für die inhaltliche Ausgestaltung einer Programmsäule für den Jugendbereich bilden die bestehenden Aktionsbereiche des Programms JUGEND IN AKTION einen geeigneten Referenzrahmen: Jugendbegegnungen, Jugendinitiativen, Europäischer Freiwilligendienst, Jugendprojekte der partizipativen Demokratie und Projekte mit benachbarten Partnerländern, Trainings- und Vernetzungs-maßnahmen für Fachkräfte sowie Begegnungen junger Menschen mit Verantwortlichen der Jugendpolitik. 

Darüber hinaus müsste es weitere jugendpolitische Zukunftsthemen Europas enthalten, die sich heute schon abzeichnen. Dazu gehören etwa die Rolle junger Menschen in der demographischen Entwicklung, die Bedeutung von E-Demokratie und E-Partizipation sowie die interkulturelle Öffnung von Jugendarbeit/Jugendorganisationen.

Schließlich sollten auch im Bildungskapitel des neuen Programms sektor- und zielgruppenspezifische Programmteile für die Bereiche Schule, Berufsbildung, Hochschulbildung und Erwachsenenbildung vorgesehen werden.

Um eine politisch nicht wünschenswerte Konkurrenz der Bereiche Schul-, Berufs- und Hochschulbildung sowie Jugend und Sport – die im schlimmsten Fall in direkt konkurrierende Anträge münden könnte – zu vermeiden, müssen spezifische Ziele und Aktivitäten konsequent und angemessen budgetär und für die Laufzeit des Programms verbindlich im Rechtstext festgeschrieben werden. 


Entscheidungs- und Verfügungsgewalt von Rat und Parlament, Gesamtbudget 

Die Kommission hat bislang (lediglich im Begleittext) eine prozentuale Mindestzuordnung zu einzelnen Sektoren in Höhe von insgesamt nur 56 Prozent des Gesamtbudgets vorgesehen. Eine erhebliche Entscheidungs- und Verfügungsgewalt über die restlichen 44 Prozent will sich die Kommission im Laufe des Programmzeitraums lediglich mit dem Programmausschuss teilen, mit dem „Anpassungen“ bezüglich der Vergabe von Mitteln und der politischen Prioritäten abgestimmt werden sollen. Eine jeweils nötige Zustimmung etwa des Parlaments sieht die Kommission nicht vor. 
Im Sinne von Transparenz, Verlässlichkeit und politischer Gestaltungshoheit von Rat und Parlament sowie mit Blick auf die Verwaltungsaufgaben der Kommission sollte aus Sicht der AGJ ein weit höherer Anteil (mindestens 80 Prozent) des Budgets sowie der politischen Prioritäten für die gesamte Programmlaufzeit festgelegt werden. 

Auch das Format einer Verordnung als rechtliche Grundlage für das neue Programm, das die Kommission anstrebt, könnte ihr im Vergleich zur bisherigen Beschluss-Form einen größeren Handlungsspielraum gegenüber den Mitgliedstaaten verschaffen. 
Ein möglicher Verlust der bewährten Form der partnerschaftlichen Ausgestaltung und Operationalisierung des Programms durch Mitgliedstaaten und Kommission zugunsten einer technokratischen, einzelstaatlich ausgerich-teten Programmumsetzung wäre zu bedauern.

In Bezug auf das Gesamtbudget des Programms begrüßt die AGJ das Bestreben der Kommission um eine massive Erhöhung um 70 Prozent. Zu warnen ist jedoch vor finanziellen  Versprechungen, denen bislang noch die notwendige Grundlage (über Umverteilung oder zusätzliche Einnahmen der EU) fehlt. 

Tatsächliche Budgetsteigerungen müssten aus Sicht der AGJ – anders als von der Kommission vorgesehen – in Form vergleichbarer Zuwächse auf alle Sektoren verteilt werden. Restmittel sollen nach einem im Rechtstext festzulegenden Verfahren verteilt werden. 


Fachpolitische Verantwortung und Kompetenz 

Der Programmvorschlag unterliegt den Prinzipien Zusammenlegung, Vereinfachung und Konditionalität: Laut Kommission sollen durch das neue integrierte Programm „die Effizienz erhöht, die Beantragung von Finanzhilfen vereinfacht, unnötige Überschneidungen und Doppelarbeit vermieden sowie Zersplitterung reduziert werden.“[3] Dieses Anliegen begrüßt die AGJ, insofern unter Effizienzgesichtspunkten nicht nur der notwendige Aufwand, sondern auch der definierte Nutzen angemessen berücksichtigt wird.[4]

Jedoch sind Befürchtungen hinsichtlich eines Bedeutungsverlustes jugendpolitischer Anliegen angebracht, da die Kommission in ihrem Entwurf des Rechtstextes klar den Bildungsbereich und insbesondere die Hochschulbildung priorisiert: „Im Rahmen des neuen Programms sollen bis zu 5 Millionen Menschen – fast zweimal so viele wie derzeit – die Möglichkeit erhalten, im Ausland zu studieren, zu lehren oder eine Schulung zu absolvieren.“[5] 

Die bildungs- und arbeitsmarktpolitisch ausgerichtete Grundorientierung von „Erasmus für alle“ zöge nach den Vorstellungen der Kommission eine entsprechende Ressortzuständigkeit nach sich, was dazu führen würde, dass Entscheidungen zur Ausgestaltung und Umsetzung des Programms durch die (in vielen Fällen) jugendpolitisch nicht verantwortlichen Bildungsministerien der EU-Mitgliedstaaten getroffen würden und dass ein zentrales Förderinstrument für internationale Jugendarbeit in deren Verwaltungsbereich fiele. Das würde aus Sicht der AGJ zulasten verantwortlichen und kompetenten jugendpolitischen Handelns gehen und die eingeforderte Sichtbarkeit von nicht formalem und informellem Lernen, von Jugendpolitik und Jugendarbeit gefährden. 

Derzeit gibt es für die Programme Lebenslanges Lernen und JUGEND IN AKTION je einen eigenen Programmausschuss, in dem jeweils Vertreterinnen und Vertreter zuständiger Ministerien über Schwerpunkte, Budgetplanung und Fortentwicklung der Programme  entscheiden und einen grenzüberschrei-tenden fachpolitischen Austausch pflegen. Aus Sicht der AGJ muss diese Struktur beibehalten werden; gebraucht werden fachpolitisch kompetente und verantwortliche Gremien der Jugendpolitik. 


Programm für alle Jugendlichen 

Hinsichtlich des auf den ersten Blick begrüßenswerten Ziels der Kommission, den Verwaltungsaufwand zu mindern und mehr Geld für mehr Teilnehmende freizusetzen, werden aus Sicht der AGJ dann ungewollte Wirkungen erzielt, wenn „Entbürokratisierung“ zulasten der Nutzbarkeit für alle Jugendlichen geht. 

Die AGJ gibt zu bedenken, dass ein jugendpolitisch verankertes Programm Maßnahmen für alle Jugendlichen unabhängig von ihrem sozialen und kulturellen Hintergrund, ihrem formalen Bildungskontext, ihrem Geschlecht oder möglichen Behinderungen vorhalten sollte. Dem damit verbundenen Anspruch von Jugendlichen auf gleiche Teilhabechancen entspricht die Umsetzung des Jugendprogramms in den Trägerstrukturen der Jugendhilfe, zu deren Qualitätsmerkmalen die Befriedigung besonderer sozialpädago-gischer Bedarfe gehört.

Der Rechtstextentwurf gibt nur wenige Hinweise darauf, dass dieses Programm mit dem Namensbestandteil „für alle“ auch benachteiligte und individuell beeinträchtigte Jugendliche erreichen möchte. Konzepte und Maßnahmen zur Umsetzung dieses Anliegens – etwa bezüglich der angestrebten Senkung der Schulabbrecherquote – fehlen. 

An dieser Stelle kritisiert die AGJ nicht nur das Ausbleiben von Konsequenzen in der angestrebten inhaltlichen Programmgestaltung, sondern auch das Vorhaben der Kommission, Förderregelungen im Sinne einer Vereinfachung generell zu pauschalisieren. Besonderen Bedarfen werden zu eng definierte Pauschalen nicht gerecht, diese Zielgruppe droht aus dem Blick zu geraten. Aus Sicht der AGJ muss der Stellenwert der benachteiligten und individuell beeinträchtigten Jugendlichen im Programm erhöht werden – dies erfordert sowohl gesonderte Projektformate fern vom „Erasmus“-Mainstream als auch eine angemessene Erhöhung des gesamten Programmbudgets, damit die Erschließung neuer Zielgruppen nicht zulasten bisheriger Förderziele geht. 


 „Erasmus für alle“?

Der Name „Erasmus für alle“ mit seiner klaren Konnotation von Exzellenzförderung und Mobilität Hochschulstudierender ist aus Sicht der AGJ keinesfalls geeignet für ein Programm, das auch der Teilhabe junger Menschen außerhalb des formalen Bildungssystems dienen soll und das neben Mobilitätsmaßnahmen Projekte der Partizipation und der aktiven Bürgerschaft fördern soll [6] 
Darüber hinaus ist die von der Kommission zum Zwecke der Öffentlichkeitsarbeit vorgesehene Bezeichnung „Erasmus Jugendbeteiligung“ für denjenigen Programmsektor, der das nicht formale Lernen junger Menschen fördern soll, eine Mogelpackung, solange hier (bis auf potentielle Maßnahmen zum Strukturierten Dialog) keine explizite Förderung von Jugendbeteiligung vorgesehen wird. 

Die Hochrechnung der Kommission zur angestrebten Steigerung der Teilnehmendenzahl im Jugendbereich um 30 Prozent ist zwar öffentlichkeitswirksam, muss aber hinterfragt werden: Die Kommission legt bei den Ausgangsdaten nur die Mobilitätsmaßnahmen zugrunde und zählt die 25.000 jungen Menschen, die bislang jährlich an Jugendinitiativen und Jugenddemokratieprojekten teilnehmen, schlicht nicht mit. In der Tat würde eine Steigerung im Bereich Jugendmobilität erreicht, diese ist jedoch durch Verzicht auf die Initiativen und Demokratieprojekte kalkuliert. Würden alle bisherigen Teilnehmenden im Jugendbereich in den Ausgangsdaten berücksichtigt, ergebe sich sogar eine Reduzierung um ca. 50.000 Teilnehmende im Programmzeitraum. 


Dezentrale und nutzerorientierte Verwaltung 

Nach dem Programmvorschlag der Kommission soll es künftig nur noch jeweils eine nationale Agentur pro Mitgliedstaat geben, die für die Verwaltung der Mittel nach vereinheitlichten Richtlinien für die Bereiche Hochschulbildung, berufliche Bildung, Erwachsenenbildung, Schulbildung, Jugendaktivitäten und Sport zuständig ist. 

In Deutschland – ähnlich wie in anderen EU-Mitgliedstaaten, in denen die Politikbereiche Bildung und Jugend verschiedenen Ministerien zugeordnet sind – müssten demzufolge vier bisherige Agenturen zu einer Großinstitution verbunden werden. Dabei wäre ein Kompetenzverlust zu befürchten, der durch die Auflösung vorhandener europäischer Netzwerke fachpolitisch ausgerichteter Nationalagenturen der Programmländer noch gesteigert würde. 

Die Argumentation der Kommission, durch Zusammenlegung der Agenturen oder gar durch die Schaffung von Dachstrukturen könnten administrative Kosten eingespart werden, ist bislang nicht belegt und erscheint nicht realistisch. 
Darüber hinaus müssten sich die dann allein zuständigen nationalen Behörden (in Deutschland: BMBF) darauf einstellen, dass sie nicht nur wegfallende EU-Mittel, sondern auch die fehlende Infrastruktur der anderen bislang beteiligten Behörden (in Deutschland: BMFSFJ und BMI) durch erhöhte Eigenleistungen auffangen müssten. 

Außerdem steht zu bezweifeln, dass in dem vorgeschlagenen Programm die besonderen Bedürfnisse der Jugendhilfeträger in ihrer Heterogenität und mit ihren nicht formalen und informellen Lernsettings Berücksichtigung finden. Ein großer Pluspunkt des bisherigen EU-Jugendprogramms ist die breite Vielfalt der geförderten Projektträger, zu denen etwa Jugendgruppen, Kleinprojekte, Vereine und Verbände bis hin zu Kommunen gehören. Es ist insbesondere zu befürchten, dass die notwendigen spezifischen Beratungsangebote für (insbesondere benachteiligte) Jugendliche und (insbesondere kleine) Träger verloren gehen. 

Dem Programmentwurf liegt auch insofern eine unrealistische Sichtweise zugrunde, als dass die unterschiedlichen Unterstützungsbedarfe öffentlicher Bildungsträger mit ausgeprägter hauptamtlicher Verwaltung (Schulen, Berufsschulen, Hochschulen) einerseits und insbesondere freier Jugendhilfeträger ohne entsprechenden Verwaltungsapparat andererseits einfach negiert werden. Eine 17jährige ehrenamtliche Jugendgruppenleiterin benötigt für die Antragsstellung bei einem EU-Programm eine andere Form von Unterstützung, als sie ein „One-Stop-Shop“ mit gemeinsamem „Frontoffice“ bieten kann. Die Nationalagenturen sind mehr als finanzverwaltende Institutionen: Sie unterstützen fachkompetent durch zielgruppenspezifische Information, Qualifizierung und Beratung und ermöglichen so erst die Umsetzung des EU-Jugendprogramms in die Praxis.

Die AGJ wird die Entwicklungen hinsichtlich der Zukunft eines EU-Programms im Bereich Jugend auch weiter intensiv begleiten. Hierbei dient ihr insbesondere der Mehrwert für junge Menschen, für die Programmpraxis und für die Politikgestaltung als Maßstab. 

V

orstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 23. Februar 2012 


[1] Für einen neuen EU-Haushalt mit eigenständigem Jugendprogramm! Positionspapier der  Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (6./7. April 2011)
[2] Meilensteine dabei waren das Weißbuch „Neuer Schwung für die Jugend Europas“ und die „Offene Methode der Koordinierung“ (2001), der „Europäische Pakt für die Jugend“ (2005) und das BEPA-Papier „Investing in Youth“ (2007). Mit der Entschließung des Rates vom 27. November 2009 über einen erneuerten Rahmen für die jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa (2009/C 311/01) wurden die vorgenannten Aktivitäten gebündelt und in eine ganzheitliche Strategie für den Zeitraum 2010 bis 2018 überführt: Unter den allgemeinen Zielsetzungen, mehr Möglichkeiten und mehr Chancengleichheit für alle jungen Menschen im Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen sowie gesellschaftliches Engagement, soziale Eingliederung und Solidarität aller jungen Menschen zu fördern, gibt die Jugendstrategie folgende Aktionsfelder für das jugendpolitische Engagement der EU und ihrer Mitgliedstaaten vor: allgemeine und berufliche Bildung, Beschäftigung und Unternehmergeist, Gesundheit und Wohlbefinden, Teilhabe, Freiwilligentätigkeit, soziale Eingliederung, Jugend in der Welt, Kreativität und Kultur. Dabei sollen sowohl spezielle Initiativen im Jugendbereich als auch sektorübergreifendes Vorgehen gefördert werden. Zu den Merkmalen der Jugendstrategie soll eine neue Rolle für die Jugendarbeit gehören; die Prioritäten und Durchführungsinstrumente sollen in Abstimmung mit den jeweiligen Triopräsident-schaften und unter Billigung durch den Rat der Europäischen Union festgelegt werden. Als jugendpolitische Instrumente werden genannt: Einsatz von EU-Programmen (insbesondere JUGEND IN AKTION) und weiteren EU-Mitteln, Erkenntnisgewinnung und evidenzbasierte Jugendpolitik, voneinander lernen, Fortschrittsberichte (im Rahmen des EU-Jugendberichts der Europäischen Kommission unter Mitwirkung der Mitgliedstaaten), Verbreitung der Ergebnisse, Prozessverfolgung mithilfe von Indikatoren aus anderen politischen Bereichen (z. B. Bildung, Arbeit) und zu entwickelnden jugendpolitischen Indikatoren sowie Konsultationen und „strukturierter Dialog“ mit jungen Menschen und Jugendorganisationen. 
[3] Europäische Kommission: 25 Jahre Erasmus: prägende Erfahrungen – neue Perspektiven (Pressemitteilung IP 12/83)
[4] Evaluationen auf europäischer und nationaler Ebene bestätigen regelmäßig den enormen Mehrwert eigenständiger EU-Jugendprogramme als dezidiert nicht-formale Lerngelegenheit mit positiven Wirkungen auf die Sozialisation junger Menschen. (Vgl. Ergebnisberichte verschiedener Evaluationen zum EU-Programm JUGEND IN AKTION unter 
www.jugendfuereuropa.de/informationsangebote/publikationen/studien-jia). Entsprechende Erkenntnisse lieferte nicht zuletzt die öffentliche Onlinekonsultation der Europäischen Kommission über das künftige europäische Programm im Jugendbereich in 2010. 
[5] Ebd.
[6] EU-Kommissarin Vassiliou zum 25jährigen Bestehen des Programms „Erasmus“: „Erasmus ist eine der größten Erfolgsgeschichten der Europäischen Union: Es ist unser bekanntestes und beliebtestes Programm. Über Erasmus-Austausche können Studierende ihre Fremdsprachenkenntnisse verbessern und Kompetenzen wie Anpassungsfähigkeit erwerben, was ihre Beschäftigungschancen erhöht. Ferner erhalten Lehrende und anderes Bildungspersonal die Möglichkeit, zu sehen, wie Hochschulbildung in anderen Ländern funktioniert, und die besten Ideen mit nach Hause zu nehmen.“ (zitiert nach: Europäische Kommission: 25 Jahre Erasmus: prägende Erfahrungen – neue Perspektiven (Pressemitteilung IP 12/83))