Vielfalt gestalten, Rechte für alle Kinder und Jugendlichen stärken!

„Vielfalt gestalten, Rechte für alle Kinder und Jugendlichen stärken!“

Empfehlungen zum Reformprozess SGB VIII der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

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Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ verfolgt die derzeitigen bundespolitischen Diskussionen über eine umfassende Novellierung des SGB VIII. Hervorgehobene Themen sind

  • Kinderrechte
  • Weiterentwicklung der Hilfeplanung und Stärkung der Beteiligungsrechte,
  • die Große bzw. Inklusive Lösung,
  • die Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung,
  • Änderungen bei der Betriebserlaubnis/Heimaufsicht,
  • die Absicherung der Rechte von Pflegekindern in Dauerpflegeverhältnissen sowie
  • Änderungen angestoßen durch die Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes.

Die AGJ hat sich zu den diversen Einzelthemen/-fragen intensiv ausgetauscht und ist über das AGJ-GESPRÄCH ‚Wie soll das gehen? Zentrale Herausforderungen bei der Umsetzung der „Größen Lösung“‘ auch in den Dialog mit Vertreterinnen und Vertretern der Behindertenhilfe getreten.
In den vorliegenden Empfehlungen werden Forderungen und Vorschläge aus diesem Diskurs gebündelt, mit denen sich die AGJ in dem laufenden Reformprozess SGB VIII positioniert.

1. Kinderrechte stärken und dabei die bedeutsame Stellung von Eltern und Personensorgeberechtigten stützen

Die Stärkung der Rechte des Kindes ist ein zentrales Anliegen der AGJ: Kinder und Jugendliche sind Subjekt und Träger eigener, unveräußerlicher Grundrechte. Die AGJ hat sich im Dezember 2015 dafür ausgesprochen, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern[1].

  • Rechtsinhaberschaft des zentralen Hilfeanspruchs

Nach bisheriger Rechtslage sind Inhaber des Rechtsanspruchs auf Hilfen zur Erziehung (§ 27 SGB VIII) der/die Personensorgeberechtigte/n. Anspruch auf Eingliederungshilfe (§ 35a SGB VIII, § 53 SGB XII) hat der junge Mensch mit Behinderung bzw. drohender Behinderung. Im Anschluss an ihre bereits nach Abschluss der von ASMK und JFMK eingesetzten Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung“ geäußerte Position[2] empfiehlt die AGJ – und dies auch unabhängig davon, ob es zur Einführung der „Inklusiven Lösung“ kommt – den Rechtsanspruch zukünftig auch, aber nicht ausschließlich den Kindern und Jugendlichen einzuräumen[3]. Sie spricht sich nachdrück-lich dafür aus, dass der neugestaltete Rechtsanspruch auf Hilfe spiegelbildlich sowohl dem jungen Menschen als auch den Personensorgeberechtigten zusteht. Dies präferiert sie auch gegenüber einer ausschließlichen Rechtsinhaberschaft durch das Kind oder den/die Jugendliche/n.
Kinderrecht und Elternrecht sollten auf keinen Fall gegeneinander gesetzt werden. Die bisherige Polarität der Diskussion um die Rechtsinhaberschaft (entweder Personensorgeberechtigte oder Kind/Jugendliche/r) wird weder den Anliegen von Kindern und Jugendlichen mit ihren Bindungen sowie vielfältigen Fürsorge-, Förderungs- und Erziehungsbedürfnissen gegenüber ihren Eltern als Hauptbezugspersonen, noch den Unterstützungsbedarfen der Personen-sorgeberechtigten gerecht. Vielmehr gilt es zu betonen, dass die Förderung von Kindern und die Stärkung der Eltern zusammenwirken (vgl. § 1 Abs. 3 SGB VIII, § 1 KKG).
Die Rechtsfolge gewährter Leistungen in der Kinder- und Jugendhilfe sollte daher weiterhin stets die ganze Familie in den Blick nehmen. Die AGJ hält  einen inklusiv-systemischen Ansatz der Hilfen für unbedingt sinnvoll, bei der die Rechtsinhaberschaft nicht nach verschiedenen Hilfeformen zu differenzieren oder gar den unterschiedlichen in Betracht kommenden Aspekten im Hilfeanspruch (z. B. Förderung von Entwicklung – Teilhabe – Erziehung, vgl. dazu unter 2) je anderen Adressatengruppen zuzuordnen ist. Sie lehnt daher eine Aufspaltung des Rechtsanspruchs im Sinne von „Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe“ für junge Menschen, „Hilfen zur Erziehung“ für die Eltern ab.
Eine Veränderung der Rechtsinhaberschaft hat in erster Linie Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Rechtswahrnehmung in der Gestaltung der Hilfebeziehung. Auch bei alleiniger Rechtsinhaberschaft des jungen Menschen  verbliebe die Wahrnehmung des Rechts bei den Personensorgeberechtigten, die Rechtsansprüche ihres Kindes im Rahmen des Vertretungsrechts gem. § 1629 BGB geltend machen würden. Zwar können gem. § 36 SGB I Jugendliche ab 15 Jahre Sozialleistungen selbst beantragen, dies jedoch nur, soweit ihre Eltern nicht widersprechen. Auch dieser Umstand spricht aus Sicht der AGJ dafür, durch die Ausgestaltung des Rechts die Verbindung von Kinderrecht und Elternrecht zu betonen.
Die vorgeschlagene beidseitige Ausgestaltung entspräche dem Standard des Hilfeplanverfahrens als konsensorientiertem Aushandlungsprozess. Gleich-zeitig würde ein beidseitiger Rechtsanspruch weiter sensibilisieren für die Perspektive der jungen Menschen, deren Beteiligung bei der Hilfeplanung eine Stärkung verdient. Durch einen Anspruch der Minderjährigen
und der Personensorgeberechtigten im Gesetz könnten Fachkräfte den Blick auf die Kinder und den notwendigen Konsens aller Beteiligten auch in komplexen Lebenssituationen gegenüber den Eltern besser verdeutlichen. Gleichzeitig können sie in diesem kindzentrierten Ansatz auch den Blick auf die Eltern und deren Bedarfe richten.

  • Stärkung der Beteiligungsrechte und Weiterentwicklung des Hilfeplanverfahrens

Die AGJ sieht Potenziale, die Beteiligungsrechte durch eine Umstrukturierung des § 36 SGB VIII zu stärken[4]. Durch eine Umgestaltung kann gegenüber der Praxis ausdrücklicher betont werden, dass die Leistungsberechtigten bereits in die Entscheidungsfindung über die Art der geeigneten Hilfe einzubeziehen sind.
Vorstellbar wären z. B. folgende Änderungen:
- in Abs. 1 werden die alters- und entwicklungsangemessene Mitwirkung sowie die Rechte der Kinder und Jugendlichen (Subjektstellung) verankert. Darauf folgend,
- in Abs. 2 des § 36 SGB VIII wird der genaue Verfahrensablauf erläutert (an welchen Stellen/zu welchem Zeitpunkt vor und während des Hilfeplanverfahrens sind die Adressatinnen und Adressaten wie beteiligt?). Die Beteiligung der Betroffenen ist im gesamten Beratungs- und Gewährungsprozess sicherzustellen, nicht wie derzeit erst nach der Entscheidung der Fachkräfte über die angezeigte Leistung lediglich mit Blick auf deren Ausgestaltung der Hilfe (vgl. § 36 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB VIII). Es sind Ergänzungen aufzunehmen, die die Träger der Kinder- und Jugendhilfe dazu anhalten, geeignete fachliche Verfahren und Standards für die Beteiligung der Adressatinnen und Adressaten bei der Ermittlung des individuellen Hilfebedarfs und der Gestaltung der passenden Hilfe anzuwenden.
- In Abs. 3 wird auf die besonderen Vorgaben zum Hilfeplanverfahren Bezug genommen, wie sie z. B. in § 35a Abs. 1, 1a SGB VIII und § 36 Abs. 1 S. 2 SGB VIII benannt sind.
Diese Gliederung des § 36 SGB VIII bietet die Chance, die Ansatzpunkte und Ermöglichung der Partizipation erfolgversprechender vorzuzeichnen. Dabei wären insbesondere auch die Beteiligungsrechte von Kindern/Jugendlichen im Hilfeplanverfahren zu stärken, um einen nachhaltigeren Erfolg erzielen zu können.
Aus Sicht der AGJ ist zudem stärker als bisher in der Hilfeplanung und der damit verbundenen Perspektivklärung insbesondere bei Fremdunterbrin-gungen das kindliche Zeitempfinden zu berücksichtigen.
Um den Bedarf ganzheitlich ermitteln zu können, ist das Hilfeplanverfahren so weiterzuentwickeln,  dass eine Förderung im Hinblick auf Erziehung, Entwicklung und Teilhabe erfolgt (vgl. dazu unter 2). Das ist nicht nur eine Erkenntnis aus der Kinder- und Jugendhilfe sondern auch aus der angestrebten Reform der Eingliederungshilfe – unabhängig von der Inklusiven Lösung. Unabdingbar ist zudem, die Steuerungsfähigkeit der Jugendämter in diesem Zusammenhang zu stärken. Dafür braucht es allerdings eine entsprechende personelle Ausstattung, die den quantitativen und qualitativen Anforderungen gerecht wird (dazu unter 8).

  • Rechtsanspruch der Kinder und Jugendlichen auf niedrigschwellige Beratung – ohne Not und Konfliktlage

Um die Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen langfristig zu stärken, hat die AGJ bereits in ihren Empfehlungen „Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung“ vom 03./04. Dezember 2015 folgende Änderung in § 8 SGB VIII angeregt[5]:
Das Recht der Kinder und Jugendlichen, sich in allen Angelegenheiten der Erziehung und Entwicklung an die Jugendämter zu wenden (derzeit § 8 Abs. 2 SGB VIII), sollte als Grundnorm nach vorne gezogen werden und die Frage der Beteiligung (derzeit Abs. 1) dem folgen. In Abs. 3 sollte Kindern/Jugendlichen, unabhängig von der Zustimmung der Personensorge-berechtigten, ein Anspruch auf Beratung ermöglicht werden. Außerdem spricht sich die AGJ dafür aus, in § 8 SGB VIII Formulierungen aufzunehmen, die auf eine frühzeitige, niedrigschwellige Zugänglichkeit von Beratung und auf eine alters- und entwicklungsangemessene Beratung und Beteiligung von Kindern/Jugendlichen hinwirken. In Orientierung am Vorschlag des unabhän-gigen Beauftragten gegen sexuellen Kindesmissbrauch wäre den jungen Menschen der Anspruch auf entwicklungsgerechte und leicht zugängliche Beratung einzuräumen. Es wäre sicherzustellen, dass die Beratung ohne Kenntnis des Personensorgeberechtigten durchgeführt werden kann, solange durch die Mitteilung an den Personensorgeberechtigten der Beratungszweck vereitelt würde.
Eine weitere Konkretisierung des Beratungsanspruchs auf bestimmte Personen- bzw. Adressatengruppen (innerhalb der Gruppe der Kinder und Jugendlichen) in der Ausführung des § 8 SGB VIII sollte nicht vorgenommen werden[6]. Die Jugendämter sollten jedoch in § 8 SGB VIII ergänzend verpflichtet werden, Kinder und Jugendliche in geeigneter Form über die ihnen zustehenden Rechte und Leistungen zu informieren.

  • Unabhängige Ombudschaft und interne Beschwerdestellen

Die AGJ weist auf das von ihr beschlossene Diskussionspapier „Ombudschaften, Beteiligungs- und Beschwerdeverfahren in Einrichtungen und Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe“ vom 27./28. Juni 2013 hin. Sie schlägt die Einführung gesetzlicher Regelungen vor, die die verbindliche Einrichtung externer, unabhängiger Ombudschaften  vorsehen. Deren Verortung ist landesrechtlich zu normieren. Ferner spricht sie sich dafür aus, dass die Träger der öffentlichen Jugendhilfe in § 79 SGB VIII zu niedrigschwelligen Beteiligungsverfahren und Beschwerdemöglichkeiten verpflichtet werden. Dies stellt einen Baustein zur Qualitätssicherung und -entwicklung dar, wie er für die Träger der freien Jugendhilfe in § 45 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII durch die Einfügungen des Bundeskinderschutzgesetzes bereits verbindlich geregelt wurde. Darüber hinaus haben die Träger der öffentlichen und freien Jugendhilfe den  Zugang zu externen unabhängigen Ombudstellen sicherzustellen.

  • Selbstorganisation von Betroffenen fördern

Junge Menschen sind als Expertinnen und Experten ihrer Lebensverhältnisse anzuerkennen. Die AGJ hält eine Unterstützung besonderer Formen der Beteiligung von derzeitig und ehemals fremduntergebrachten Kindern und Jugendlichen für erforderlich. An geeigneter Stelle im Gesetz ist daher die Förderung von selbstorganisierten Vertretungen (Heimkinder-/Pflegekinderrat, Netzwerke von Care-Leavern o. ä.) zu implementieren.

2. Gesamtzuständigkeit für alle Kinder und Jugendlichen im SGB VIII

Die Umsetzung einer inklusiven Lösung im SGB VIII wird von der AGJ seit vielen Jahren nachdrücklich unterstützt[7]. Die Initiative des BMFSFJ wird daher von der AGJ begrüßt. Der mit weitreichender Beteiligung geführte Diskussionsprozess um das Bundesteilhabegesetz hat hierfür eine politische Chance eröffnet, auf die viele seit langem warten. Von wichtigen Akteuren aus Politik, Fachwelt und Praxis, die jahrzehntelang Bedenken formuliert haben, gibt es inzwischen Signale der grundsätzlichen Unterstützung des Reformprozesses oder zumindest eines deutlich gebremsten Widerstands[8].
Doch die Herausforderungen in der rechtlichen Gestaltung der Reform sind beträchtlich. Die Schaffung rechtlich wie fachlich überzeugender Regelungen sind entscheidend dafür, ob die Reform die nötige Unterstützung erfahren kann oder nicht. Im Folgenden wird dargestellt, welche Voraussetzungen und Faktoren für die AGJ von besonderer Bedeutung sind.

  • frühzeitige qualifizierte Einbeziehung der Verbände und Interessenvertretungen

Begeisterung und Engagement für einen Veränderungsprozess lassen sich am besten durch offene Kommunikation und qualifizierte Beteiligung wecken. Die AGJ nimmt eine erhebliche Bereitschaft sowohl von Seiten der Kinder- und Jugendhilfe als auch der Behindertenhilfe wahr, zum Erfolg der Reform beizutragen. Dies ist eine große Chance, denn die beabsichtigte Reform berührt die Rechte der Adressatinnen und Adressaten, der Leistungsträger und -erbringer beider Systeme in ihren Grundfesten. Bedenken in einer offenen Debatte zu begegnen und sie nicht vorschnell als interessengeleitet zu etikettieren, dürfte deshalb ein ebenso maßgeblicher Gelingensfaktor für die Reform sein wie der Vertrauensaufbau in einem transparenten Beteiligungsprozess. Die AGJ appelliert daher eindringlich an einen offenen Diskurs über konkretisierte Gesetzesüberlegungen, der schon beginnt, bevor ein Referentenentwurf vorgelegt wird (z. B. über den inklusiven Tatbestand). Welche Bedeutung ein partizipativ gestalteter Gesetzgebungsprozess haben kann, hat sich z. B. 2009 bis 2011 bei den beiden Anläufen zur Verabschiedung eines Bundeskinderschutzgesetzes erwiesen.

  • zum Verständnis von Inklusion

Der Begriff Inklusion beschreibt konzeptionell eine Gesellschaft, in der jeder Mensch gleichermaßen akzeptiert und Vielfalt geschätzt wird. Alle Menschen sollen – unabhängig von Geschlecht oder Gender, Alter, Herkunft oder Migrationshintergrund, Religionszugehörigkeit, sexueller Orientierung, Bildung oder sozialer Lebenslage, von eventueller körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderungen sowie sonstigen individuellen Besonderheiten oder sozialen Zuschreibungen – an dieser Gesellschaft gleichberechtigt und selbstbestimmt teilhaben können. Behinderung ist nach diesem Verständnis keine Eigenschaft, die einer Person innewohnt, sondern entsteht erst durch eingeschränkte Teilhabe, die ein Mensch im Kontext seiner Umwelt erfährt.

Neben der notwendigen Grundvoraussetzung einer Zusammenführung aller Kinder und Jugendlichen in einem Leistungssystem, dem SGB VIII, und den damit verbundenen Anforderungen an die gesetzliche Gestaltung möchte die AGJ bereits jetzt ausdrücklich darauf hinweisen, dass eine „Inklusive Lösung“ mehr impliziert, und diese daher mit der jetzt beabsichtigten Reform nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann. Dies betrifft zum einen die Frage, mit welchen Hilfen einer Exklusion auf Grund anderer individueller Besonderheiten und sozialen Zuschreibungen begegnet werden kann (aus aktuellem Anlass möchte die AGJ dabei erneut besondere Aufmerksamkeit auf die exkludierenden Auswirkungen von Armut, Fluchterfahrungen und Migrationshintergrund lenken[9]). Zum anderen sind weiterführende Überlegungen dazu zu treffen, wie durch gesetzliche Änderungen eine Inklusive Lösung auch bezogen auf die anderen Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe erreicht und so in der Praxis begonnene Anstrengungen z. B. für inklusive Kindertagesbetreuung, inklusive Kinder- und Jugendarbeit sowie inklusive Jugendverbandsarbeit unterstützt werden können.
Die AGJ hält es für sinnvoll, bereits zum jetzigen Zeitpunkt zu verdeutlichen, dass innerhalb des SGB VIII und damit für die Kinder- und Jugendhilfe ein weites Verständnis von Inklusion gilt, und schlägt daher vor, an einer zentralen Stelle im Allgemeinen Teil des SGB VIII (z. B. in § 1 SGB VIII oder § 9 SGB VIII) eine entsprechende Bestimmung aufzunehmen.

  • zur Gestaltung des inklusiven Rechtsanspruchs auf Hilfe

Die AGJ spricht sich für die Einführung eines inklusiven Leistungsrechts aus. Hierfür ist der bisherige Anspruch auf Hilfen zu Erziehung (§ 27 SGB VIII) neu zu fassen und mit den Ansprüchen auf Eingliederungshilfe (§ 35a SGB VIII, §§ 53 ff. SGB XII) in einem sog. „inklusiven Tatbestand“ zusammenzuführen. Die Schaffung eines solchen einheitlichen Leistungsanspruchs für alle Kinder und Jugendliche, der sämtliche bisher mit Rechtsansprüchen hinterlegten Hilfebedarfe erfasst, liegt auf der Linie des Inklusionsgedankens. Allerdings gilt es zu beachten, dass die Vielfalt der individuellen Lebensumstände von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien tatsächlich differenziert erfasst wird und nicht vor dem Hintergrund eines einheitlichen Leistungstatbestands nivelliert wird. Folgende Aspekte sind der AGJ hierbei wichtig:

- Rechtsinhaberschaft

Die AGJ empfiehlt eine Rechtsinhaberschaft des Kindes/Jugendlichen und der Personensorgeberechtigten (siehe dazu unter 1).

- aufzugreifende Bestandteile einer inklusiven Regelung

Der Vorschlag der von der ASMK und JFMK eingesetzten Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung“ war, einen neuen Leistungstatbestand im SGB VIII einzuführen, damals als „Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe“ bezeichnet.[10] Dies wurde von der AGJ unterstützt[11]. Diese zwei Strukturmerkmale greifen jedoch zu kurz und sind in jedem Fall um den Aspekt „Erziehung“ zu erweitern. Eine inklusive Lösung muss sicherstellen, dass nicht nur Kindern und Jugendlichen mit Behinderung ihre bekannt-bewährten Leistungsansprüche erhalten bleiben, sondern dass auch Kinder und Jugendliche mit erzieherischem Bedarf sowie deren Personensorgeberechtigten weiterhin zumindest in gleichem Umfang wie bisher mit Unterstützung rechnen können. Dies wird nur zu erreichen sein, wenn sich der bisherige Zugangsweg zu Ansprüchen auf Hilfen zur Erziehung in § 27 Abs. 1 SGB VIII ohne grundlegende Veränderungen in einem neuen inklusiven Tatbestand wiederfindet.

- Verhältnis der Bestandteile zueinander - oder: Wie kann eine abstrakt-generelle Vorschrift Vielfalt gerecht werden?

Bereits an anderer Stelle hat die AGJ zum Ausdruck gebracht, dass bei der rechtstechnischen Gestaltung des neuen Hilfeanspruchs das Verhältnis zwischen der Förderung von Erziehung, Entwicklung und Teilhabe von erheblicher Bedeutung ist[12]. Die von der ASMK und JFMK eingesetzte Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung“ forderte zu Recht, dass für den neugestalteten Leistungsanspruch dem Grunde nach unerheblich sein soll, ob der Hilfebedarf erzieherisch oder behinderungs-bedingt ist[13]. Während der Abschlussbericht noch die Entwicklung als Ausgangspunkt gewählt hatte, hat sich das BMFSFJ – zumindest zwischenzeitlich - besonders an dem Begriff der Teilhabe als übergeordnetem Kriterium orientiert[14].
Die AGJ bezweifelt, dass der einheitliche, inklusive Leistungstatbestand von einer Konstruktion getragen sein kann, in der als Tatbestand festgelegt ist, dass aufgrund von Erziehungs- oder Entwicklungsdefiziten eine Teilhabeeinschränkung vorliegen muss, um die Rechtsfolge auszulösen. Vielmehr hält es die AGJ für wichtig, den Ansatz des derzeitigen Anspruchs auf Hilfen zur Erziehung zu bewahren, der sich insofern notwendig und sinnvollerweise von den Ansprüchen auf Eingliederungshilfe nach §§ 35a SGB VIII, 53 ff. SGB XII unterscheidet[15]. Der in § 27 Abs. 1 SGB VIII vorausgesetzte erzieherische Bedarf ist nicht erst gegeben, wenn bei dem Kind oder dem/der Jugendlichen Entwicklungsbeeinträchtigungen vorliegen oder zu prognostizieren sind bzw. wenn aufgrund einer Nichtgewährleistung der erforderlichen Erziehung bereits eine Teilhabebeeinträchtigung eingetreten ist oder eine solche droht. Hierin lägen zusätzliche Hürden, die im Vergleich zum derzeitigen § 27 Abs. 1 SGB VIII die Ansprüche der Kinder, Jugendlichen und Personenberechtigten signifikant einschränken würden. Die AGJ warnt davor, zusätzliche Erfordernisse zum erzieherischen Bedarf zu normieren.

- Rechtsfolge

Die AGJ befürwortet die Pläne des Bundesministeriums, einen teiloffenen Katalog von Hilfeformen zu normieren – wie er sowohl in den §§ 27 Abs. 2 S. 1 i. V. mit 28 ff. SGB VIII als auch in §§ 54, 56, 57 SGB XII enthalten ist. Das Anliegen, die Hilfeformen im Zuge dessen darauf zu überprüfen, wie die Potenziale für Inklusion dabei gestärkt werden können, wird unterstützt.

  • Gestaltung der Anspruchsprüfung und Weiterentwicklung der Hilfeplanung

Mit einer Neugestaltung des Leistungsanspruchs geht auch eine Neugestaltung der Anspruchsprüfung und eine Weiterentwicklung der Hilfeplanung einher. Diese bedarf besonderer Aufmerksamkeit, denn neben dem inklusiven Tatbestand liegt hier der Angelpunkt der Zusammenführung der Systeme. Es geht um die Neuordnung des Zusammenspiels der verschiedenen Akteure sowie ihrer methodischen Herangehensweisen.
Wie schon die von der ASMK und JFMK eingesetzte Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung“ feststellte[16], kann die Kinder- und Jugendhilfe mit ihren Prinzipien der Hilfeplanung (Fachlichkeit, Beteiligung, Prozesshaftigkeit) einen Beitrag zur bedarfsgerechten, personenzentrierten Gewährung von Leistungen leisten. Zentral sei dabei, dass die Steuerungsverantwortung in der Kinder- und Jugendhilfe beim öffentlichen Träger liege.
Diese Prinzipien waren und sind ein wesentliches Argument, das für eine Inklusive Lösung im SGB VIII spricht. Die AGJ ist der Auffassung, dass die Bedarfsprüfung und Auswahl der geeigneten Leistung mit Berücksichtigung von Erziehungs-, Entwicklungs- und Teilhabeaspekten unter Federführung der fallverantwortlichen Fachkräfte in den Jugendämtern stattfinden muss. Die Methodik des sozialpädagogischen Fallverstehens muss dabei in ein konstruktives Zusammenwirken entsprechend dem Bedarf mit psychotherapeutischem oder medizinischem Sachverstand gebracht werden.
Auch hier hält die AGJ eine offene, qualifizierte Diskussion für erforderlich, in der der Frage nachgegangen wird, ob sich tatsächlich ein gemeinsames Bewertungssystem und darauf aufbauend übergreifende Kategorisierungen für die unterschiedlichen Bedarfe finden lassen. Letztlich geht es um nichts Geringeres als zu klären, ob und in welchen gemeinsamen Kategorien Vielfalt erfasst werden kann, ohne diese zu verkürzen.
Die in der AGJ repräsentierten Akteure der Kinder- und Jugendhilfe haben verschiedentlich bezweifelt, ob die  u. a. vom BMFSFJ erwogene Anlehnung an die ICD-10 und ICF[17] sowohl bezogen auf die erzieherischen als auch die behinderungsbedingten Bedarfe geeignet ist. Es handelt sich um ein Klassifikationsmanual, das der Feststellung von Störungsbildern in geistiger, körperlicher oder seelischer Hinsicht dient und aus der medizinischen Diagnostik von Beeinträchtigungen mit Krankheitswert stammt. Der innerfamiliären Erziehung wird in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen (ICF-CY) nur ein geringer und wenig ausdifferenzierter Raum eingeräumt. Es wird daher darauf zu achten sein, dass bei der beteiligungsorientierten Hilfeplanung unter Berücksichtigung von Erziehungs-, Entwicklungs- und Teilhabeaspekten eine ganzheitliche Unterstützung von jungen Menschen und ihrer Familien im Vordergrund steht und damit ein eher defizitorientierter Blick auf Kinder und Jugendliche verhindert wird. Das Ziel ist, die Systeme Kinder- und Jugendhilfe sowie das Gesundheitswesen stärker aufeinander zu beziehen[18].
* keine Wesentlichkeit von Behinderung als Anspruchsvoraus-setzung
Die AGJ schließt sich der Auffassung an, dass es im Kinder- und Jugendalter keine Begrenzung der Leistungsansprüche durch die Tatbestandsvoraussetzung „Wesentlichkeit“ der Behinderung geben sollte, wie sie im SGB XII derzeit noch verankert ist.

  • Übergang in die Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff. SGB XII bzw. einem Leistungsanspruch im Bundesteilhabegesetz – oder: ab welchem Alter nicht mehr inklusiv?

Mit der Einführung der Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe ist zwingend der Übergang ins Erwachsenensystem im Rahmen eines verbindlich zu gestaltenden Übergangsmanagements neu zu regeln. An dieser Schnittstelle zeigen sich bereits nach bisheriger Rechtslage nicht unerhebliche Probleme in der Praxis: Zum Teil werden § 35a SGB VIII-Hilfen als Hilfe für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII) fortgeführt, zum Teil werden Leistungsberechtigte an die Sozialhilfeträger weiterverwiesen. Ein geordnetes Übergangsmanagement und/oder ein gemeinsames Gespräch zur Übergabe der Fallverantwortung ist bislang verbindlich nicht vorgesehen und wird in der Praxis wohl eher selten von sich aus praktiziert.
Die AGJ begrüßt die Planung des BMFSFJ, klare gesetzliche Regelungen zum Zuständigkeitswechsel einschließlich einer Verpflichtung zum Übergangsmanagement (u. a. zeitlicher Ablauf, verbindliche Beteiligung beider Träger, Inhalte des Teilhabeplans für den Übergang, aber auch Verbindlichkeit des Teilhabeplans für beide Leistungsträger) einzuführen. Sie unterstützt, dass § 41 SGB VIII prinzipiell auch für junge Menschen mit Behinderungen anwendbar sein und dessen Geltungsbereich unberührt bleiben soll (vgl. zu Vorschlägen ohne Inklusionshintergrund unter 5).
Aus dieser Konstruktion ergeben sich jedoch nicht unerhebliche Abgrenzungsfragen. Die AGJ befürchtet, dass eine scharfe Grenze des Zuständigkeitswechsels für Leistungsberechtigte der Eingliederungshilfe mit Erreichen der Volljährigkeit (18 Jahre) zu erheblichen Problemen führen würde. Auf Grund der Zielkonflikte, Leistungsberechtigte möglichst früh an ein anderes Leistungssystem abzugeben bzw. möglichst spät zu übernehmen, befürchtet die AGJ, dass Jugendliche mit besonders kostenintensiven Hilfen (d.h. insb. bei außerfamiliärer Unterbringung) systematisch daraufhin einer medizinischen Diagnose zugeführt würden, ob eine Behinderung vorliegt und dauerhafte Beeinträchtigungen anzunehmen sind und deshalb Hilfen nach § 41 SGB VIII als nicht geeignet abgelehnt werden können. Bereits im Kontext der Care-Leaver-Debatte ist deutlich geworden, dass Teile der Praxis schematisch und nicht am Bedarf orientiert junge Menschen an andere Systeme abgeben (vgl. daraus folgende allgemeine Forderung zu § 41 SGB VIII unter 5). Die AGJ befürchtet eine Diagnosewelle bei heranrückender Volljährigkeit, einen erneut defizitorientierten Blick mit stigmatisierenden Differenzierungen. Der inklusive Ansatz würde an dieser Stelle konterkariert. Die AGJ folgt auch dem Hinweis von Seiten der Vertreterinnen und Vertreter der Behindertenhilfe, dass der familienorientierte Ansatz der Hilfen in der Kinder- und Jugendhilfe gerade auch für junge Menschen mit dauerhaften Behinderungen besonders wertvoll ist[19]. Aus diesem Grund spricht sich die AGJ für ein Festlegen der Altersgrenze auf 21 Jahre aus.
In der Altersphase 18 bis 21 Jahre werden besonders zukunftsentscheidende Weichenstellungen im Hinblick auf die Berufsfindung getroffen. Insbesondere der Übergang junger Menschen in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) wird nicht selten kritisch betrachtet, da das (zwar vorgegebene) Ziel des Übergangs in den ersten Arbeitsmarkt nach einer Aufnahme in eine WfbM selten erreicht wird. Das System der Sozialhilfe hat ein nachvollziehbares Interesse, dass bei einer Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe keine Vordispositionen durch Aufnahmen in WfbM getroffen werden, für die es ohne vorherige Einbeziehung später und auf Dauer kostenpflichtig wäre. Hinzu kommt, dass das erste Jahr Berufspraktikum und  Berufsfindung durch die Bundesagentur für Arbeit finanziert wird. Auf Grund der besonderen Problematik des Übergangs in WfbM regt die AGJ an, die vorrangige Zuständigkeit in dieser – und nur dieser! – Frage der Eingliederungshilfe zuzuordnen und gleichzeitig bis Vollendung des 21. Lebensjahrs einen Kostenerstattungsanspruch gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe einzuräumen. Die fachliche Zuständigkeit für alle anderen Fragen (z. B. stationäre Unterbringung, ambulante Hilfen außerhalb von Werkstätten) verbliebe bei der Kinder- und Jugendhilfe im SGB VIII. Hierdurch würde beiden Systemen der Anreiz genommen, auf Grund von Kostenfragen die jungen Menschen vorschnell oder eben auch verspätet in die WfbM zu geben bzw. nicht ausreichend intensiv nach Alternativen zu suchen. An den Entscheidungen sind der junge Mensch, seine Personensorgeberechtigten bzw. Betreuer/innen und die involvierten Sozialleistungssysteme (Kinder- und Jugendhilfe, Eingliederungshilfe, Bundesagentur für Arbeit) zu beteiligen.

  • Schnittstelle Schule - Schulbegleitung / Inklusionshelfer

Die AGJ hat bereits deutlich gemacht, dass Schulbegleitung allein kein inklusives Schulsystem gewährleisten kann[20]. Sie nimmt wahr, dass sich das hier vorrangig zuständige System Schule der Herausforderung Inklusion inzwischen verstärkt annimmt. Dennoch sind die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sowie (noch) die Träger der Sozialhilfe weiterhin mit einer erheblichen Zahl von berechtigten Anträgen auf Eingliederungshilfe gem. §§ 35a SGB VIII, 53 SGB XII konfrontiert, da die inklusive Beschulung trotz bestehenden Anspruchs tatsächlich anders nicht sichergestellt ist. Die Eingliederungshilfe hat dadurch die Funktion einer Ausfallbürgschaft. Schulträger, aber auch die Träger der Eingliederungshilfe erproben derzeit Konzepte, wie über Pool-Lösungen als Infrastrukturangebot Bedarfe gedeckt werden können, die sonst über den individuellen Rechtsanspruch auf Hilfe aufgefangen werden müssten.
Aus Sicht der AGJ wird die Förderung infrastruktureller Lösungen für inklusive Beschulung unterstützt. Allerdings werden individuelle Rechtsansprüche die Teilhabe an angemessener Schulbildung auch in einem novellierten SGB VIII weiterhin unbedingt absichern müssen (vgl. zur Stärkung sozialräumlich-infrastruktureller Angebote unter 4).

  • Neugestaltung der Kostenheranziehung

Auch die Regelungen zu der Kostenheranziehung bedürfen einer Überführung in ein gemeinsames, einheitliches System. Bisher unterscheiden sich die Heranziehung der jungen Menschen und ihrer Eltern zu den Kosten der Leistungen im SGB VIII und SGB XII grundlegend. Die AGJ begrüßt den vom BMFSFJ an dieser Stelle begonnenen offenen Diskussionsprozess.
Die AGJ geht davon aus, dass im Vergleich beider Systeme die Regelungen des SGB VIII für die Bürgerinnen und Bürger transparenter und für die Verwaltung einfacher zu handhaben sind. Sie befürwortet daher die grundsätzliche Orientierung an den Kostenheranziehungsgrundsätzen des SGB VIII, was im Interesse der Leistungsberechtigten und Verwaltung zudem die Rechtssicherheit fördert.
Aus Sicht der AGJ ist von herausragender Bedeutung, dass die Kostenfreiheit ambulanter Hilfen bewahrt bleibt. Nur so wird das so elementare Ziel der Niedrigschwelligkeit dieser Leistungen erhalten bleiben.
Bei der Kostenheranziehung für Hilfsmittel i.S.d. § 26 SGB IX regt die AGJ an, zunächst zu klären, welche Hilfsmittel hiervon konkret betroffen sein werden. Zudem ist bezogen auf die Zuständigkeit für die Gewährung von Hilfsmitteln darauf zu achten, dass die Zusammenführung der Eingliederungshilfen für junge Menschen unter der Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe nicht die (tatsächlich gesehen wesentlich häufigere) Zuständigkeit anderer Sozialleistungssysteme berührt (insb. SGB V, SGB VI, SGB XI).
Teilstationäre Angebote der Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff. SGB XII, die insbesondere von der Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe berührt werden, sind die heilpädagogische Kindertagesbetreuung sowie die Angebote der WfbM. Für beide gilt im System des SGB XII eine Privilegierung (als Frühförderung, wegen Bildungsbezug bzw. der Teilhabe am Arbeitsleben). Die AGJ hält eine Gleichstellung von Angeboten der heilpädagogischen Kindertagesbetreuung mit den Kostenbeitragsregelungen für die Kindertagesbetreuung gem. § 90 SGB VIII i. V. mit Landesrecht für sinnvoll. Härtefälle könnten über die Zumutbarkeitsprüfung gem. § 90 Abs. 3, 4 SGB VIII aufgefangen werden. Hinzukommt, dass für Angebote im Freizeitbereich nach Eintritt ins schulpflichtige Alter nach den Regelungen der Kinder- und Jugendhilfe ein deutlich erleichterter, da ambulanter i.d.R. auch kostenfreier Zugang bestünde. Dieser könnte selbst einer zunächst möglicherweise gegebenen erhöhten Heranziehung vor dem Eintritt ins schulpflichtige Alter gegenübergestellt werden.
Bezogen auf die stationären Leistungen empfiehlt die AGJ sich insoweit am Unterhaltsrecht zu orientieren, als ab einer bestimmten Einkommenshöhe die Kostenbeiträge abflachen und nicht weitersteigen. Kommt es nach der Reform zu einer höheren Belastung einiger Kostenbeitragspflichtiger, ist eine Übergangsregelung i.S.e. – zumindest vorübergehenden – Besitzstands-wahrung / Vertrauensschutz anzustreben. Die AGJ spricht sich dafür aus, die parallele Existenz zweier Kostenheranziehungssystem zeitlich deutlich zu begrenzen, da diese die positiven Effekte des Effizienzgewinns der Verwaltung beseitigen würden.
Eine neue Regelung im SGB VIII, in der eine an bisherige Regelungen im SGB XII anschließende Privilegierung wegen Bildungsbezugs bei der Kostenheranziehung verankert wäre, erscheint der AGJ demgegenüber weniger praktikabel. Sie nimmt an, dass auch bei gesetzlicher Festschreibung eines weiten Bildungsverständnisses erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten entstünden und dieses vermutlich wie im bisherigen System zu großen regionalen Unterschieden führen würde. Zudem würde das Ziel einer inklusiven Beschulung in Regelschulen bei einer Privilegierung der Kostenheranziehung nur bei Leistungen mit gesonderter Beschulung unterlaufen.
Bezogen auf die Kostenheranziehung von jungen Volljährigen weist die AGJ darauf hin, dass diese im Rahmen der Behindertenhilfe bei einer stationären Unterbringung mit nur noch sehr geringen Kostenheranziehungsbeträgen konfrontiert sind, wohingegen diese in der Kinder- und Jugendhilfe gem. § 94 Abs. 6 S. 1 SGB VIII in der Regel mit 75 % ihres Einkommens herangezogen werden. Entsprechend der schon seit längerem geäußerten fachlichen Kritik an der anreizreduzierenden Kostenbeteiligung junger Volljähriger im SGB VIII sollte diese Regelung überarbeitet werden, so dass die jungen Volljährigen deutlich entlastet werden.

  • Gestaltung einer Übergangsphase bis zur Gesamtzuständigkeit

Die Inklusive Lösung hat umwälzende Auswirkungen auf verwaltungsorganisatorischer Ebene. Sie wird auch das Professionsverständnis der involvierten Fachkräfte bei allen Leistungsträgern und -erbringern verändern müssen und ist in ihrer Umsetzung auf wertschätzende Haltungen der Fachkräfte angewiesen. Die AGJ hält es daher für wichtig, der Praxis durch eine angemessene  Übergangsphase von 5 bis 7 Jahren Zeit einzuräumen, in der sie schrittweise die Umsetzung der Inklusiven Lösung fachlich und organisatorisch vorbereiten kann. Fachliche Herausforderungen ergeben sich durch den Wechsel von Personal aus der Eingliederungshilfe nach SGB XII in die Kinder- und Jugendhilfe, durch die notwendige fachliche Qualifikation beider Personalgruppen und durch den Umstand, dass die Eingliederungshilfe auf unterschiedlichen örtlichen Ebenen angesiedelt ist. Der Prozess des Übergangs bedarf der intensiven Förderung und Überprüfung durch Bund und Länder. Zudem sind die derzeit existierenden (Rahmen-)Leistungsverträge den neuen Anforderungen einer Inklusiven Lösung anzupassen.

3. Weiterentwicklung und Qualifizierung der Pflegekinderhilfe

Vorschläge zur Weiterentwicklung und Qualifizierung der Pflegekinderhilfe werden derzeit u.a. im Dialogforum Pflegekinderhilfe erarbeitet. Im Folgenden benennt die AGJ die für sie zentralen Aspekte im Hinblick auf eine Novellierung von SGB VIII-Regelungen.

  • Frühzeitige Perspektivklärung

Vor allem für Kinder und Jugendliche, aber auch für alle anderen Beteiligten im Pflegekinderwesen bedeutet eine unsichere Perspektive der Pflegeverhältnisse eine große Belastung (vgl. zur stärkeren Berücksichtigung des kindlichen Zeitempfindens unter 1). Im Hinblick auf eine möglichst frühzeitige Perspektivklärung für fremduntergebrachte Kinder/Jugendliche ist zu prüfen, ob in § 36 SGB VIII eine Regelung aufgenommen wird, nach der  - mit vorliegendem Einverständnis der Personensorgeberechtigten – die Perspektivklärung frühzeitig einzuleiten ist. Ferner ist in einem dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des/der Jugendlichen entsprechenden Zeitabstand das Fortbestehen einer Rückkehroption in die Herkunftsfamilie dokumentiert zu prüfen. Im Interesse des Kindes spricht sich die AGJ darüber hinaus dafür aus, rechtlich klarzustellen, inwieweit das Jugendamt eine Perspektivklärung vorbereiten darf und muss, wenn das Einverständnis der Personensorgeberechtigten sowie eine Entscheidung des Familiengerichtes nach § 42 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 SGB VIII über einen längeren Zeitraum nicht vorliegt.
Die AGJ schließt sich zudem den Empfehlungen der Kinderrechtekommission des deutschen Familiengerichtstags an, in § 33 SGB VIII eine Regelung aufzunehmen, „wonach Pflegekinder in den Fällen, in denen eine Unterbringung auf Dauer wahrscheinlich ist, vorrangig bei Pflegepersonen untergebracht werden, die über eine befristete Pflege hinaus für eine Dauerpflege in Betracht kommen. Ist dagegen eine Rückführung wahrscheinlich, sollte eine Vermittlung zu Pflegepersonen erfolgen, die besonders geschult sind, diese Übergänge im Kontakt mit der Herkunftsfamilie den Bedürfnissen des Kindes oder des/der Jugendlichen entsprechend zu gestalten.“[21]

  • „Kinder kommen nie allein“ – Beratung und Unterstützung der Eltern in der Herkunftsfamilie gewährleisten

Die Arbeit mit der Herkunftsfamilie ist zentraler Bestandteil in der Pflegekinderarbeit. Die AGJ ist der Ansicht, dass es eines konkreteren Anspruches auf Beratung und Unterstützung der Herkunftseltern bedarf, da die Regelung des § 37 Abs. 1 SGB VIII („Zusammenarbeit bei Hilfen außerhalb der eigenen Familie“) tatsächlich vielerorts nicht hinreichend umgesetzt wird. In Betracht kommt z. B. die Einfügung eines neuen § 18a SGB VIII („Beratung und Unterstützung bei Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen“).
Es ist festzulegen, dass durch Beratung und Unterstützung die Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie innerhalb eines im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes oder des/der Jugendlichen vertretbaren Zeitraums so weit verbessert werden, dass diese das Kind oder den/die Jugendliche/n wieder selbst erziehen kann. Gleichzeitig soll darauf hingewirkt werden, dass die Beziehung des jungen Menschen zur Herkunftsfamilie entsprechend seinen Bedürfnissen unter Beachtung des Kindeswohls gestaltet wird. Vor, während und nach einer Rückführung ist eine Begleitung aller Beteiligten (Kinder/Jugendliche, Herkunfts- und Pflegeeltern) gesetzlich zu verankern. Ist eine nachhaltige Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie nicht erreichbar und wird daher keine Rückkehroption gesehen, so soll mit den beteiligten Personen eine andere, dem Wohl des Kindes oder des/der Jugendlichen förderliche und auf Dauer angelegte Lebensperspektive erarbeitet werden. Die Herkunftseltern sind (weiterhin) zu unterstützen, um eine Beziehungskontinuität entsprechend den Erfordernissen des Einzelfalls auch in solchen Konstellationen sicherzustellen.

  • Qualifizierungsanforderungen

Da keine rechtliche Verbindlichkeit in Bezug auf Qualifizierungsanforderungen von Pflegeeltern besteht, werden regional sehr unterschiedliche Voraussetzungen für die Inpflegenahme von Kindern und Jugendlichen gesetzt. Die AGJ regt an, dass mit Blick auf die unterschiedliche Handhabung das BMFSFJ prüft, wie bundesrechtlich  diese Disparitäten überwunden werden können.

  • Pflegekinderdienst in Trägerschaft der freien Jugendhilfe

Die Beteiligung der freien Jugendhilfe eröffnet für die Vollzeitpflege quantitativ und qualitativ weitere Perspektiven. Die AGJ empfiehlt zu prüfen, ob die Beratung und Begleitung von Pflegeeltern nach § 37 Abs. 3 SGB VIII in den Leistungskatalog des § 78a SGB VIII aufzunehmen, so dass die Regelungen der §§ 78 b bis 78g auch für die Erbringung dieser Leistung bei den freien Trägern der Jugendhilfe Anwendung finden.

4. Förderung sozialräumlicher Angebote

Die AGJ hat sich bereits verschiedentlich dafür ausgesprochen, durch Neuregelungen im SGB VIII eine stärkere Nutzung von Handlungsoptionen der Praxis für eine vermehrte Schaffung sozialräumlicher Angebote anzuregen[22].

- Welche Chancen beinhalten sozialräumliche Angebote?

Die Prinzipien des sozialräumlichen Arbeitens können nach Auffassung der AGJ zur Verbesserung der Betreuung, Förderung und Unterstützung von Adressatinnen und Adressaten führen und sollten insbesondere bei niedrigschwelligen ambulanten Hilfen in die Ausgestaltung der Hilfe einbezogen werden. Ziel ist es, durch niedrigschwellige Angebote einen erleichterten, selbstinitiierten Zugang zu Hilfen zu schaffen. Hierfür sollen Hürden im Zugang gesenkt werden. Der selbstaktivierte Zugang soll Betroffenen ermöglichen, Hilfen selbstbestimmt in Anspruch nehmen zu können. Die AGJ sieht im Kontext der individuellen Hilfen zur Erziehung i. V. mit § 36a Abs. 2 SGB VIII Spielraum, entsprechende Angebote zu konzipieren und unter definierten Rahmenbedingungen eine direkte Inanspruchnahme zuzulassen und diese Angebote auch einzelfallübergreifend zu finanzieren.
Zu achten ist allerdings darauf, dass bei einer Stärkung infrastruktureller Angebote individuelle Rechtsansprüche und das Wunsch- und Wahlrecht nicht unterlaufen werden, sondern dass diese weiterhin die Grundlage bilden. Ist in der Infrastruktur der individuelle Bedarf Leistungsberechtigter nicht ausreichend gedeckt, ist dem über den Rechtsanspruch auf individuelle Hilfe Rechnung zu tragen (vgl. so auch konkret zu Schulbegleitung unter 2). Sozialräumliche Leistungen und individuelle Leistungsansprüche ergänzen sich und sind nicht gegeneinander auszuspielen. Es gilt, Niedrigschwelligkeit und Sozialraumorientierung als fachliche Standards so zu etablieren und mit bzw. als Hilfen zur Erziehung zu gestalten, dass individuelle Rechtsansprüche und das Wunsch- und Wahlrecht uneingeschränkt erfüllt werden können. Ob und in welchen Bereichen hierdurch perspektivisch ein Rückgang von Fallzahlensteigerungen erwirkt werden kann, ist im Kontext eines mehrjährigen Evaluationsprozesses zu überprüfen.

- Förderung von Infrastrukturleistungen durch Rechtsänderungen erleichtern

Sinnvoll erscheint der AGJ vor diesem Hintergrund, ergänzend zur bestehenden Regelung in § 27 Abs. 2 Halbs. 2 SGB VIII („Art und Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall; dabei soll das engere soziale Umfeld des Kindes oder des Jugendlichen einbezogen werden.“) niedrigschwellige Zugangsmöglichkeiten stärker zu betonen (dazu unter 5). Innerhalb der Finanzierungsregelungen des SGB VIII könnten Änderungen ebenfalls die bereits existierenden Möglichkeiten einer Finanzierung sozialräumlicher Angebote beleben.
Bezogen auf die Zuwendungsfinanzierung regt die AGJ an, die in § 74 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB VIII geforderte Erbringung einer angemessenen Eigenleistung seitens der jeweiligen Träger entweder zu streichen oder durch eine Umgestaltung in § 74 Abs. 3 SGB VIII ein Absehen hiervon möglich zu machen[23].
Zu prüfen ist ferner, wie erreicht werden kann, dass Infrastrukturleistungen nicht nur nach § 74 SGB VIII gefördert werden können, sondern vermehrt auch über den Abschluss von Vereinbarungen nach § 77 SGB VIII ihre Konzeptionierung, Finanzierung sowie Qualitätsentwicklung und -überprüfung der Leistungsinhalte finden[24]. Die AGJ regt an, im Vorfeld des Reform-prozesses SGB VIII zu diskutieren, wie im Gesetz Impulse zur qualitätsorientierten Entwicklung entsprechender Angebote gesetzt werden können.
Hinsichtlich der Vereinbarungen nach §§ 78a ff. SGB VIII kann sich die AGJ eine Ergänzung in § 78b Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII vorstellen, auf Grundlage derer in den Vereinbarungen die Sozialraumorientierung der (teil)stationären Einzelfallhilfen thematisiert wird. Allerdings wird eine Mitfinanzierung sozialräumlicher Arbeit im Rahmen (teil)stationärer Unterbringung die Kosten des einzelnen Platzes erhöhen. Die verlässliche Belegung zu diesem höheren Preis dürfte daher nur bei entsprechendem (kommunal)politischen Willen und regionalem Bezug der Einrichtung zu erwarten sein. Das Risiko der Leistungsinanspruchnahme bei Vereinbarungen nach §§ 78a ff. SGB VIII liegt dabei allein bei den Leistungserbringern/freien Trägern: Gem. § 78b Abs. 2 SGB VIII haben alle geeigneten Träger einen Anspruch auf Abschluss einer Vereinbarung, das Leistungsentgelt wird ihnen aber nur gewährt, soweit Leistungsberechtigte das Angebot in Anspruch nehmen.
Besonderes Augenmerk ist auf eine Veränderung der Regelung des § 77 SGB VIII zu richten. Die Norm hat im Hinblick auf ambulante Leistungen per se besondere Bedeutung, da für diese die §§ 78a ff. SGB VIII nur nach entsprechender Öffnung durch Landesrecht anwendbar sind. Sie findet Anwendung sowohl bei rechtsanspruchsgesicherten Leistungen im jugend-hilferechtlichen Dreieck wie auch bei nicht anspruchsgesicherten Leistungen im zweiseitigen Finanzierungsverhältnis. Für die Finanzierung niedrigschwelliger, sozialräumlicher Angebote erscheint es sinnvoll, die Voraussetzungen für zulässige unmittelbare Austauschverträge zwischen Trägern der öffentlichen und freien Jugendhilfe zu konkretisieren. Insbesondere wird dabei die Frage zu reflektieren sein, wie eine Trägerauswahl für zulässig erklärt werden kann, wenn im gleichen Angebot sowohl Leistungen nach Entscheidung des Jugendamts als auch nach direkter Inanspruchnahme erbracht werden sollen. Hier wird – ebenso wie zu § 74 SGB VIII –  u. a. die Frage zu beantworten sein, welche Bedeutung die Trägerauswahl hat (vgl. die Diskussion um die Anwendbarkeit des Vergaberechts). Insbesondere wird zu klären sein, wie zum nachhaltigen Aufbau von Infrastruktur die notwendige Trägerauswahl einen qualitätsorientierten gesetzlichen Rahmen finden kann.
In § 79a SGB VIII könnte als zusätzliches (weiter)zuentwickelndes Qualitätsmerkmal „eine durch Jugendhilfeplanung fundierte sozialräumliche Orientierung“ aufgenommen werden.

5. Weitere Aspekte in der Weiterentwicklung der Hilfen und Angebote

  • Hilfe für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII) und Care-Leaver

Die AGJ hält es für wichtig, die Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe im Alter zwischen 18 und 21 verbindlicher zu gestalten (vgl. zu Forderungen im konkreten Zusammenhang von § 41 SGB VIII und der Inklusiven Lösung bereits unter 2). Die AGJ hat sich daher bereits verschiedentlich für die Zuerkennung eines zwingenden individuellen Rechtsanspruches auf notwendige und geeignete Hilfen für junge Volljährige in § 41 SGB VIII ausgesprochen[25]. Da in der Praxis zu beobachten ist, dass die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Hilfe ab Erreichen der Volljährigkeit regional sehr unterschiedlich gehandhabt wird, spricht sie sich darüber hinaus für die Einfügung einer Verpflichtung aus, auf Grund derer vor Beendigung einer stationären Unterbringung gesondert darzulegen ist, dass der / die junge Volljährige die Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung nicht mehr bedarf. So wäre sichergestellt, dass die bereits bestehenden Prüfverpflichtungen zur Anwendung kommen.

  • Schulsozialarbeit

Eine bundesrechtliche Regelung von Schulsozialarbeit steht vor der besonderen Herausforderung, dass zwar eine Gesetzgebungskompetenz für eine Normierung im SGB VIII besteht, Schulrecht hingegen Ländersache ist. Hinzu kommt die Tatsache, dass innerhalb der Länder die Trägerschaft der Schulsozialarbeit unterschiedlich geregelt ist (bspw. ist in Nordrhein-Westfalen der Träger der Schulsozialarbeit i. d. R. die Schule, womit auch die Fach- und Dienstaufsicht der Schule obliegt; in Mecklenburg-Vorpommern ist hingegen die Kinder- und Jugendhilfe der zuständige Träger, der nur dann Angebote der Schulsozialarbeit finanziert, wenn verbindliche Regelungen zwischen den Kooperationspartnern Schule und Kinder- und Jugendhilfe bestehen). Die AGJ befürchtet, dass eine Regelung im Bereich der Leistungsparagraphen (z. B. neuer § 13a / § 15 SGB VIII) automatisch die Kostenverantwortung des Systems der Kinder- und Jugendhilfe bestimmt. Die AGJ lehnt eine generelle Kostenverantwortung der Kinder- und Jugendhilfe für Schulsozialarbeit ab. Die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Eltern, pädagogische Maßnahmen im Unterricht oder der Umgang mit als „verhaltensschwierig“ empfundenen Schüler/innen während der Unterrichtszeit sind originäre Aufgabe der Schule und fallen vorrangig in deren Gesamtzuständigkeit.

  • Soziale Arbeit an Schulen / schulbezogene Kinder- und Jugendhilfe

Die AGJ erkennt an, dass der Lebensort Schule für die Kinder- und Jugendhilfe zunehmend von Bedeutung ist. Die Gestaltung des Lebensortes Schule muss aus Sicht der AGJ gemeinsam von den Systemen Kinder- und Jugendhilfe und Schule verantwortet werden (Öffnung für Soziale Arbeit an Schulen z. B. über einen niedrigschwelligen Zugang zu Leistungen der Hilfen zur Erziehung, Freizeitangebote von Verbänden). Um die gemeinsame Verantwortung rechtlich zu verankern, hält die AGJ eine Regelung in §§ 81 ff. SGB VIII  und den Landesschulgesetzen für geeignet. Es bedarf weiterer Überlegungen, wie das Problem bewältigt werden kann, dass bei zwei Kostenträgern stets die Gefahr besteht, dass sich einer von beiden aus der Verantwortung zurückzieht (vgl. zum Sonderproblem Schulbegleitung / Inklusionshelfer unter 2).

  • Kooperationsverpflichtungen innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe

Die Weiterentwicklung der Leistungen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe setzt verpflichtende Kooperationsbeziehungen zwischen Regelangeboten und Einzelfallhilfen der Kinder- und Jugendhilfe voraus[26].
So ist  im Sinne einer sozialräumlichen Ausrichtung von Hilfen zur Erziehung beispielsweise in einem neuen Abs. 5 in § 27 SGB VIII sicherzustellen, dass Erziehungshilfen, sofern dies einzelfallbezogen und einzelfallübergreifend sinnvoll ist, insbesondere auch in Beratungseinrichtungen und Bildungsin-stitutionen (z. B. Kindertageseinrichtungen und Schulen) auf Grundlage sozial-räumlicher Kooperationen erbracht werden können.
Es wird weiterhin empfohlen, die Finanzierung von niedrigschwelligen Hilfen zur Erziehung mit direkter Inanspruchnahme mit Verweis in § 27 SGB VIII auf § 36a Absatz 2 SGB VIII rechtlich klarzustellen. Verbunden damit wäre die Aufnahme eines entsprechenden Passus in § 36a Absatz 2 SGB VIII, der auch die einzelfallübergreifende Finanzierung von weiteren ambulanten Angeboten nach §§ 27 ff. SGB VIII zulässt.
Es ist davon auszugehen, dass Kinder bis zum 6. Lebensjahr, die im Rahmen von Hilfen zur Erziehung betreut werden, oftmals auch eine Tageseinrichtung besuchen. Daher ist eine Ergänzung in § 22a Abs. 1, Satz 1 SGB VIII denkbar, die die Träger der öffentlichen Jugendhilfe dazu anhält sicherzustellen, dass Fachkräfte in ihren Tageseinrichtungen auch mit Diensten und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zusammenarbeiten, die Erziehungshilfen durchführen. Über Voraussetzungen, Zielstellungen und fachliche Rahmungen (z. B. Einbeziehung in die Hilfeplanung, Sozialdatenschutz) sollten zunächst entsprechende Regelungen auf Landesebene in Absprache mit den Kommunen getroffen werden.

  • Wechselseitige Kooperationsverpflichtungen an Schnittstellen

Bereits in ihren Empfehlungen „Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung“ vom 03./04. Dezember 201527 hat die AGJ angeregt, auch in anderen Leistungssystemen und Sozialgesetzbüchern rechtlich wechselseitige Kooperationsverpflichtungen zu schaffen: Konkrete Zielvereinbarungen und Umsetzungsschritte sollten zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und den Kooperationspartnern vor Ort ausgehandelt werden. Die Finanzierungsformen der Kooperationen (sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe) müssten dann ebenfalls diskutiert und geregelt werden.
Weiter wäre die Implementierung spezifischerer Regelungen als § 81 SGB VIII zur Kooperation der Kinder- und Jugendhilfe mit Schule und anderen Systemen sinnvoll. Vorstellbar wäre bspw. in Kapitel 5 einen neuen 5. Abschnitt einzufügen, in dem in §§ 81a ff. Kooperationsregelungen zu den verschiedenen Schnittstellen (Soziale Arbeit in Schulen sowie Kooperationen mit Jobcenter, Arge, Gesundheitswesen usw.) eingefügt werden. In den Normen sollte dann u. a. auch festgelegt werden, „wer mit wem“ kooperiert, was das Ziel der Kooperation ist und wer wofür die jeweilige Finanzverantwortung trägt. Spiegelbildliche Regelungen zu Kooperations-verpflichtungen sind in anderen Gesetzgebungskontexten vorzusehen.

6. Weiterentwicklung der §§ 45 ff. SGB VIII (Betriebserlaubnisverfahren / Heimaufsicht)

Die AGJ hat sich mit den Vorschlägen der Bund-Länder-AG auseinandergesetzt, wie die §§ 45 ff. SGB VIII weiterentwickelt werden sollen. Zum Zeitpunkt der Verabschiedung dieser Empfehlungen deuten sich Präzisierungen in verschiedenen Paragraphen hinsichtlich der Eingriffs- und Kontrollkompetenzen an.
Da nach bisheriger Rechtslage die zuständigen überörtlichen Träger eher den Charakter einer Betriebserlaubnisbehörde haben, ist es wichtig herauszu-arbeiten, ob eine Modifikation hin zu einer fortlaufenden, anlassunabhängigen Aufsicht beabsichtigt ist. So enthält § 46 SGB VIII aktuell die Rechtsgrundlage für eine örtliche Prüfung nach den Erfordernissen des Einzelfalls. Es ist sinnvoll zu konkretisieren, ob von der Betriebserlaubnisbehörde  auch regelhafte, nicht-einzelfallbezogene Prüfungen erwartet werden. Dann wären Auftrag und Befugnisse in einer eigenen Vorschrift ausdrücklich zu regeln. Würde hingegen in der Vorschrift zu den anlassbezogenen Prüfungen nur ein Satz ergänzt, wonach die örtlichen Prüfungen jederzeit erfolgen können, bliebe für die AGJ fraglich, ob damit nur „ohne vorherige Ankündigung“ gemeint ist oder auch die Erwartung verbunden wird, dass solche Prüfungen regelmäßig und eben nicht mehr ausschließlich nach den Erfordernissen des Einzelfalls geschehen sollen. Sollte sich der Gesetzgeber für eine regelhafte, anlassunabhängige Aufsicht entscheiden, wäre dies mit erheblichen zusätzlichen Personalressourcen verbunden.
Die AGJ begrüßt ausdrücklich Bestrebungen die in § 45 Abs. 6 SGB VIII enthaltende Anknüpfung an den Begriff der Kindeswohlgefährdung zu beseitigen und stattdessen eine Gewährleistungsverpflichtung für Mindestanforderungen an die Strukturqualität zu implementieren. Sie begrüßt auch die Einfügung einer gegenseitigen Informationspflicht zwischen den örtlichen Trägern der Jugendhilfe und dem überörtlichen Träger über Ereignisse, die das Wohl der Kinder und Jugendlichen in der Einrichtung beeinträchtigen können.
Änderungen mit dem Ziel, eine bessere Kontrolle von Auslandsmaßnahmen zu ermöglichen, erscheinen in Anbetracht bekanntgewordener, medienwirksamer Einzelfälle sinnvoll. Die Vorschläge sind jedoch genau darauf zu untersuchen, ob sie auf Grund der teils sehr unterschiedlichen ausländischen Rechtslage überhaupt greifen können (z. B. gibt es nicht in allen Ländern vergleichbare Verfahren zu §§ 45 ff. SGB VIII) und/oder mit ihr unbeabsichtigte Nebenwirkungen ausgelöst werden. So ist zu beachten, dass einer Unterbringung im grenznahen Bereich nicht unnötige Hindernisse eingeräumt werden oder dass je nach Verortung der Norm auch Hilfen außerhalb von Einrichtungen erfasst sein können. Dies könnte z. B. bei dem Umzug einer Pflegefamilie im grenznahen Raum Probleme aufwerfen.
Es ist bekannt, dass in Einrichtungen untergebrachte Kinder und Jugendliche bei (anlass- wie nicht-anlassbezogenen) Prüfungen die sie betreffenden Konflikte gegenüber der Offizialperson häufig nicht (offen) ansprechen (vgl. deshalb zur Förderung der Selbstorganisation von Betroffenen  unter 1).
Die Überlegungen, familienanaloge Leistungen in Kleinsteinrichtungen aus dem Anwendungsbereich der §§ 45 ff SGB VIII herauszulösen und der dann explizit zu regelnden kommunalen Aufsicht zu überantworten, stehen vor der Herausforderungen, eine praktikable Abgrenzung zu finden. Der Nutzen einer entsprechenden Regelung wird mit den Risiken unintendierter Nebenwirkungen ins Verhältnis zu setzen sein.

7. Impulse aus der Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes

Im Bericht der Bundesregierung zur Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes vom 17. Dezember 2015[28] wird gesetzgeberischer Handlungs-bedarf zu den berührten Regelungsbereichen benannt. Im Bericht selbst und der Dokumentation der Wissenschaftlichen Grundlagen für die Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG)[29] werden zudem Anregungen der Länder und Verbände wiedergegeben, die von der Bundesregierung nicht aufgegriffen werden. Die AGJ äußert sich im Folgenden zu einigen der Aspekte (vgl. zudem zu Unabhängige Ombudschaft und interne Beschwerdestellen sowie zum Rechtsanspruch der Kinder und Jugendlichen auf niedrigschwellige Beratung – ohne Not und Konfliktlage unter 1).

  • Datenweitergabe durch Berufs- oder Amtsgeheimnisträger bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung

Die AGJ rät dringend davon ab, den bereits vor Erlass des Bundeskinderschutzgesetzes intensiv geführten Streit wieder aufleben zu lassen, ob § 4 KKG statt als Übermittlungsbefugnis als Pflicht zur Informationsweitergabe hätte ausgestaltet werden sollen. Ihr sind entsprechende Forderungen aus einzelnen Bundesländern bekannt, aus den Forschungsergebnissen der Evaluation selbst werden diese aber nicht gestützt. Es ist nicht anzunehmen, dass mit einer Ausgestaltung als Informationspflicht eine Verbesserung zugunsten des Kinderschutzes bewirkt würde. Vielmehr ist aus Sicht der AGJ zu befürchten, dass Berufsge-heimnisträger aus Sorge vor einem Verstoß gegen die Informationspflicht ihre eigenen Hilfs- und Einwirkungsmöglichkeiten auf die Familien nicht (mehr) ausnutzen würden, dies liefe der Intention des normierten mehrschrittigen Verfahrens unmittelbar zuwider.
Besondere Aufmerksamkeit ist aus Sicht der AGJ auf den weiter zu steigernden Bekanntheitsgrad des Regelungsinhalts von § 4 KKG zu richten. Kinderschutz stellt an die beteiligten Fachkräfte jeder Professionsgruppe hohe Anforderungen. Hinzu kommt, dass die Auseinandersetzung mit Kindesmisshandlung und Vernachlässigung regelmäßig auch mit Sorge und damit auch einer emotionalen Betroffenheit und Belastung einhergeht. Die AGJ deutet den Wunsch nach einer „Vereinfachung“ der Handlungsvorgaben des § 4 KKG vor diesem Hintergrund. Sie nimmt an, dass die in der Evaluation festgestellten Verständnisprobleme, die Unsicherheiten und Unwissenheit im Umgang mit § 4 KKG nicht in der Regelung selbst begründet ist[30], sondern vielmehr jene Handlungsunsicherheit widerspiegelt, der nicht durch Recht sondern nur durch fachliche Beratung und/oder Fortbildung begegnet werden kann.
Auch die AGJ ist der Auffassung, dass für einen wirksamen Kinderschutz eine gelingende Kooperation zwischen den verschiedenen beteiligten Systemen (u. a. Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheitssystem, aber z. B. auch Polizei, soziale Existenzsicherung) immens wichtig ist. Sie lehnt jedoch politische Bestrebungen ab, die auf eine Einbeziehung der Pädiatrie in alle Kinderschutzfälle (Gefährdungseinschätzung sowie die Entscheidungsfindung) drängen. Zwar ist die Berufsgruppe der Ärztinnen und Ärzte ein zentraler Akteur im Kinderschutz, auf dessen Unterstützung die Kinder- und Jugendhilfe dringend angewiesen ist. Dennoch berühren nicht alle Kinderschutzfälle medizinische Fragen. Deshalb fordert die AGJ die Einbeziehung weiterhin vom Einzelfall abhängig zu machen.
Innerhalb von Kooperationsbeziehungen zwischen verschiedenen Professionen und Systemen besteht - nicht nur, aber besonders - in Kinderschutz(verdachts)fällen ein hohes und überaus verständliches Bedürfnis nach Rückmeldungen. Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe unterliegen in vergleichbarer Weise dem Datenschutz und der Schweigepflicht wie solche des Gesundheitswesens. Bereits nach jetziger Rechtslage sind Rückmeldungen mit Einverständnis der Betroffenen unproblematisch möglich. Die AGJ nimmt an, dass in vielen Fällen das aktive Werben bei den Betroffenen um Einverständnis und eine auf dieser Grundlage erfolgende Rückmeldung jedoch noch zu wenig genutzt wird. Gründe hierfür dürften auch in einer zusätzlichen Arbeitsbelastung liegen, die mit einer Verständigung darüber einhergeht, welche Informationen jeweils weitergegeben werden dürfen/sollen und welche nicht.
Das Recht auf Informationelle Selbstbestimmung erfüllt keinen Selbstzweck, sondern es dient konkret dem Schutz des Vertrauens, welches eine wesentliche Grundlage einer wirkungsvollen Hilfebeziehung darstellt. Vor diesem Hintergrund bedarf es aus Sicht der AGJ daher eher einer Herausarbeitung dessen, worin der gegenseitige Nutzen der Einbeziehung der anderen Stellen im weiteren Verlauf des Hilfe- und Schutzprozesses für beide Seiten liegt, denn einer Rechtsänderung. Aus diesem Grund hält es die AGJ für erforderlich, sorgfältig abzuwägen, wann bezüglich welcher Informationen und wie lange Rückmeldungen erfolgen sollen. Es gilt die Praxis anzuregen, die Möglichkeiten und Potenziale von Rückmeldungen mit Einverständnis der Betroffenen stärker zu nutzen.

  • Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft für Ehrenamtliche

Der Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft für die Gefährdungseinschätzung bezieht sich trotz der weiten Ausdehnung des berechtigten Personenkreises durch das BKiSchG ausschließlich auf Professionelle (Fachkräfte von Trägern der freien Kinder- und Jugendhilfe gem. § 8a Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SGB VIII, aufgelistete Berufs- und Geheimnisträger gem. § 4 Abs. 2 KKG, beruflich in Kontakt mit Kindern und Jugendlichen stehende Personen gem. § 8b Abs. 1 SGB VIII). Der AGJ ist bekannt, dass in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe auch Ehrenamtlichen unstrittig der Zugang zur Beratung gewährt wird. Dennoch regt sie an, durch eine Erweiterung des § 8b Abs. 1 SGB VIII klarzustellen, dass hierfür eine konkrete rechtliche Grundlage (jenseits des allgemeinen Beratungsanspruchs gem. §§ 13, 14 SGB I) besteht.

  • Erweiterte Führungszeugnisse für Ehrenamtliche

Die AGJ begrüßt Überlegungen, die Vorlagepflicht erweiterter Führungszeugnisse für Ehrenamtliche (§ 72a Abs. 2, 4 SGB VIII) zu reformieren. Sie unterstützt insbesondere die damit verschränkten Bestrebungen innerhalb der Regelungen des Bundeszentralregistergesetzes (BZRG) die Möglichkeit der Ausstellung einer „Unbedenklichkeitsbescheinigung“ einzufügen. Nach bisheriger Rechtslage kann keine „eingeschränkte Auskunft“ aus dem Bundeszentralregister erteilt werden, welche ausschließlich Eintragungen zu einschlägigen Vorstrafen i.S.d. Auflistung in § 72a Abs. 1 S. 1 SGB VIII enthält. Es ist auch keine Ausstellung einer „Unbedenklichkeits-/Negativbescheinigung“ möglich, die bestätigt, dass keine einschlägigen Vorstrafen vorhanden sind.
Bei der Gelegenheit einer Änderung des § 72a SGB VIII sollte auch dessen misslungener Abs. 5 eine Novellierung erfahren. Das dort normierte Nichtwahrnehmendürfen widerspricht der Pflicht, den Inhalt zu prüfen.
Eine im Evaluationsbericht der Bundesregierung als zu prüfen benannte Ausweitung des Katalogs einschlägiger Verurteilungen im Kontext des § 72a Abs. 1 S. 1 SGB VIII lehnt die AGJ ab.

8. Weitergehende Herausforderungen

  • Jugendhilfeplanung stärken

Eine Erweiterung und Veränderung der Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe sowie der kommunalen Angebotspalette im Zusammenhang mit dem Reformprozess SGB VIII wird nur dann gelingen, wenn vor Ort neben der Einzelfallsteuerung auch die Jugendhilfeplanung als fallübergreifendes, konzeptionelles Steuerungsinstrument entsprechend etabliert ist. Erst über eine partizipative Jugendhilfeplanung, die Kinder, Jugendliche und ihre Familien einbezieht, kann eine flexible, bedarfsgerechte, inklusive Infrastruktur für junge Menschen und ihre Familien gesichert und das Jugendamt zum strategischen Zentrum werden[31]. Die gesetzlichen Vorschriften in den §§ 79, 80 SGB VIII sind hierfür eine gute Grundlage. Der Blick muss sich daher weniger auf den Reformprozess SGB VIII, sondern auf die Weiterentwicklung der Praxis richten. Es müssen insbesondere ausreichende personelle Ressourcen für die verschiedenen Schritte der Jugendhilfeplanung vorgehalten werden.

  • Gleichwertige Lebensverhältnisse sicherstellen

Die aktuelle Diskussion um eine Verknüpfung der Fragen der Finanzierungsentlastung der Kommunen auf der einen Seite und der Übertragung einer beschränkten Gesetzgebungskompetenz der Länder u. a. im Hinblick auf die Hilfen zur Erziehung und der Eingliederungshilfen auf der anderen Seite bewertet die AGJ äußerst kritisch. Entsprechende Überlegungen beinhalten die Gefahr, dass die Qualität des Reformprozesses von der Kassenlage der Länder und Kommunen abhängig gemacht wird und dem verfassungsrechtlichen Prinzip der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse zuwider läuft.
Die AGJ hat bereits betont, dass auch geflüchtete Kinder und Jugendliche in erster Linie Kinder und Jugendliche sind[32]. Vor diesem Hintergrund ist für die AGJ die Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für diese Adressatengruppe zweifelsfrei. Die Schaffung eines sozialrechtlich eigenständigen Leistungsbereichs für Flüchtlinge widerspricht der Reformvorstellung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe.

  • Transparenz der Kostenfolgen

Eine gesicherte Vorhersage über die Kostenfolgen der Umsetzung der Reform des SGB VIII ist erst auf Basis datenbasierter Analysen möglich, die aktuell noch nicht vorliegen, aber dringend benötigt werden. Ihre Erstellung setzt die Kenntnis konkreter Regelungsinhalte voraus. Eine breite Zustimmung zur Reform ist nicht zuletzt auf eine hierdurch zu gewährleistende Transparenz der Kostenfolgen angewiesen.


Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 25. Februar 2016


[1] AGJ-Positionspapier, Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz, vom 03./04.12.2015 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2015/Positionspapier_Kinderrechte_im_Grundgesetz.pdf.
[2] AGJ-Stellungnahme, Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen, vom 25.09.2013, S. 3 – online abrufbar unter: http://web31.server1.hostingforyou.de/fileadmin/files/positionen/2012/Gesamtzustaendigkeit_KJH.pdf.
[3] Dazu bereits AGJ- Empfehlungen, Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung, vom 03./04.12.2015, S. 7 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2015/Positionspapier_Weiterentwicklung_Hilfen_zur_Erziehung_NEU.pdf.
[4] Dazu bereits AGJ- Empfehlungen, Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung, vom 03./04.12.2015 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2015/Positionspapier_Weiterentwicklung_Hilfen_zur_Erziehung_NEU.pdf.
[5] AGJ- Empfehlungen, Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung, vom 03./04.12.2015, S. 5 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2015/Positionspapier_Weiterentwicklung_Hilfen_zur_Erziehung_NEU.pdf.
[6] Vgl. Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, FORDERUNGSKATALOG. Fachberatung sichern: Bessere Hilfen für von sexueller Gewalt betroffene Mädchen und Jungen. Erarbeitet und weiterentwickelt anlässlich des 2. Hearings: „Kinder und Jugendliche – Beratung fördern, Rechte stärken“, vom 20.11.2012, S. 3 - online abrufbar unter:
https://beauftragter-missbrauch.de/fileadmin/Content/pdf/Presse_Service/Publikationen/UBSKM_Forderungskatalog_2.Hearing_Beratung.pdf.
[7] Z. B. AGJ-Stellungnahme, Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen, vom 25.09.2013 – online abrufbar unter: http://web31.server1.hostingforyou.de/fileadmin/files/positionen/2012/Gesamtzustaendigkeit_KJH.pdf; AGJ-Zwischenruf, Auf dem Weg zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe, vom 25.04.2012 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2012/Zwischenruf_Inklusion.pdf; AGJ-Positionspapier, Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen, vom 24./25.11.2011 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2011/Gesamtzustaendigkeit.pdf.
[8] Vgl. u. a. Protokoll der AG Bundesteilhabegesetz vom 20.01.2015 – online abrufbar unter: http://www.gemeinsam-einfach-machen.de/BRK/DE/StdS/Bundesteilhabegesetz/6_Sitzung/6_sitzung_Protokoll.pdf?__blob=publicationFile.
[9] AGJ-Eckpunktepapier, Geflüchtete Kinder und Jugendliche sind Kinder und Jugendliche!, vom 03./04.12.2015 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2015/Eckpunktepapier_Junge_Fl%C3%BCchtlinge_in_Europa.pdf; AGJ-Diskussionspapier, Kinderarmut und Familienpolitik in Deutschland – eine fachpolitische Einordnung, vom 17./18.09.2015 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2015/Diskussionpapier_Kinderarmut.pdf; AGJ-Positionspapier, Kind ist Kind! – Umsetzung der Kinderrechte für Kinder und Jugendliche nach ihrer Flucht, vom 25./26.06.2015 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2015/Kind_ist_Kind.pdf.
[10] Bericht der von der ASMK und JFMK eingesetzten Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung“ vom 05.03.2013 – online abrufbar unter:
 http://www.bag-if.de/wp-content/uploads/2013/04/Abschlussbericht_Endfassung.pdf.
[11] Vgl. bereits AGJ-Stellungnahme, Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen, vom 25.09.2013 – online abrufbar unter: http://web31.server1.hostingforyou.de/fileadmin/files/positionen/2012/Gesamtzustaendigkeit_KJH.pdf.
[12] Vgl. AGJ- Empfehlungen, Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung, vom 03./04.12.2015, S. 8 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2015/Positionspapier_Weiterentwicklung_Hilfen_zur_Erziehung_NEU.pdf.
[13] Bericht der von der ASMK und JFMK eingesetzten Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung“ vom 05.03.2013, S. 19 – online abrufbar unter:
http://www.bag-if.de/wp-content/uploads/2013/04/Abschlussbericht_Endfassung.pdf; Zur häufig fehlenden Trennschärfe von erzieherischen und behinderungsspezifischen Bedarfskategorien im Kindes- und Jugendalter auch Stellungnahme der Bundesregierung zum 13. Kinder- und Jugendbericht, 13. Kinder- und Jugendbericht - Mehr Chancen für gesundes Aufwachsen - Gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe, 2009, S. 13f. – online abrufbar unter:
http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/13-kinder-jugendbericht,property=pdf,bereich=bmfsfj,rwb=true.pdf.
[14] Protokoll des AGJ-GESPRÄCH am 06.11.2015, S. 3 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/user_upload/FA/I/151106_AGJ-GESPRAECH_Protokoll.pdf.
[15] Bislang besteht ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn „eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist“ (§ 27 Abs. 1 SGB VIII). Nicht erforderlich ist, dass das Kind oder der/die Jugendliche bereits an seiner/ihrer Teilhabe im Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt oder hiervon konkret bedroht ist. In Unterschied dazu setzt der Anspruch auf Eingliederungshilfe nach §§ 35a SGB VIII, 53ff. SGB XII voraus, dass der Leistungsberechtigte Menschen behindert oder von einer Behinderung bedroht ist, also seine/ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die entsprechende Legaldefinition findet sich in § 2 Abs. 1 SGB IX. Obgleich im Rahmen der Erstellung eines Bundesteilhabegesetzes an einer Weiterentwicklung des Behinderungsbegriffs gearbeitet wird, besteht kein Zweifel, dass die Teilhabebeeinträchtigung auch zukünftig einer seiner Bestandteile bleibt.
[16] Bericht der von der ASMK und JFMK eingesetzten Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung“ vom 05.03.2013, S. 14 – online abrufbar unter:
http://www.bag-if.de/wp-content/uploads/2013/04/Abschlussbericht_Endfassung.pdf.
[17] Protokoll des AGJ-GESPRÄCH am 06.11.2015, S. 3 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/user_upload/FA/I/151106_AGJ-GESPRAECH_Protokoll.pdf.
[18] Vgl. zu dem unterschiedlichen Handlungs- und Denkansätzen AGJ-Empfehlungen „Junge Menschen an der Schnittstelle von Kinder- und Jugendpsychiatrie und Kinder- und Jugendhilfe“ vom 17./18.09.2015, S. 4 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2015/Kinder- und Jugendpsychiatrie_und_KJH.pdf.
[19] Protokoll des AGJ-GESPRÄCH am 06.11.2015, S. 4f. – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/user_upload/FA/I/151106_AGJ-GESPRAECH_Protokoll.pdf.
[20] AGJ-Diskussionspapier, Schulbegleitung allein kann kein inklusives Schulsystem gewährleisten, vom 28./29.11.2013 – online abrufbar unter: http://web31.server1.hostingforyou.de/fileadmin/files/positionen/2012/Schulbegleitung.pdf
[21] Vgl.: Kinderrechtekommission des Deutschen Familiengerichtstags e.V., Reformbedarf im Pflegekinderwesen, 2014, S. 24 - online abrufbar:
 http://www.dfgt.de/resources/SN-KiKo_Pflegekinder_Stellungnahme_2014.pdf.
[22] Vgl. insbesondere AGJ-Positionspapier, Die Förderung von Infrastrukturleistungen in der Kinder- und Jugendhilfe stärken, vom 28./29.11.2013 – online abrufbar unter: http://web31.server1.hostingforyou.de/fileadmin/files/positionen/2012/Foerderung_Infrastrukturleistungen__2_.pdf; AGJ- Empfehlungen, Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung, vom 03./04.12.2015, S. 2 - 4 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2015/Positionspapier_Weiterentwicklung_Hilfen_zur_Erziehung_NEU.pdf.
[23] AGJ- Empfehlungen, Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung, vom 03./04.12.2015, S. 3f - online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2015/Positionspapier_Weiterentwicklung_Hilfen_zur_Erziehung_NEU.pdf.
[24] Vgl. Problemdarstellung in AGJ-Positionspapier, Die Förderung von Infrastrukturleistungen in der Kinder- und Jugendhilfe stärken, vom 28./29.11.2013, S. 8 f. – online abrufbar unter: http://web31.server1.hostingforyou.de/fileadmin/files/positionen/2012/Foerderung_Infrastrukturleistungen__2_.pdf.
[25] AGJ-Diskussionspapier, Junge Volljährige nach der stationären Hilfe zur Erziehung. Leaving Care als eine dringende fach- und sozialpolitische Herausforderung in Deutschland, 18./19.09.2014 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/publikationen/Care_Leaver.pdf.
[26] AGJ-Positionspapier, Die Förderung von Infrastrukturleistungen in der Kinder- und Jugendhilfe stärken, vom 28./29.11.2013 – online abrufbar unter: http://web31.server1.hostingforyou.de/fileadmin/files/positionen/2012/Foerderung_Infrastrukturleistungen__2_.pdf.
[27] AGJ- Empfehlungen, Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung, vom 03./04.12.2015, S. 9 - online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2015/Positionspapier_Weiterentwicklung_Hilfen_zur_Erziehung_NEU.pdf.
[28] Online abrufbar unter:
http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung5/Pdf-Anlagen/bericht-evaluation-bundeskinderschutzgesetz,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf.
[29] Mühlmann/Pothmann/Kopp, Wissenschaftliche Grundlagen für die Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes – Bericht der wissenschaftlichen Begleitung der Kooperationsplattform Evaluation Bundeskinderschutzgesetz, 12/2015 – online abrufbar unter: http://www.forschungsverbund.tu-dortmund.de/fileadmin/Files/Aktuelles/Publikationen/Wissenschaftliche_Grundlagen_Eval_BKiSchG_Bericht_AKJStat_2015.pdf.
[30] § 4 KKG beschreibt ein mehrschrittiges Verfahren im Umgang mit Verdachtsfällen und hat zum Ziel den aufgelisteten Berufs- bzw. Amtsgeheimnisträgern als Handlungsleitlinie zu dienen. Die Norm lehnt sich dabei an die Vorgaben des § 8a SGB VIII für die Kinder- und Jugendhilfe an. Es wird ein Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft für die Gefährdungseinschätzung eingeräumt.
[31] AGJ-Diskussionspapier, Jugendhilfeplanung stärken, vom 26./27.02.2015 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2012/Jugendhilfeplanung.pdf.
[32] AGJ-Eckpunktepapier, Geflüchtete Kinder und Jugendliche sind Kinder und Jugendliche!, vom 03./04.12.2015 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2015/Eckpunktepapier_Junge_Fl%C3%BCchtlinge_in_Europa.pdf;  AGJ-Positionspapier, Kind ist Kind! – Umsetzung der Kinderrechte für Kinder und Jugendliche nach ihrer Flucht, vom 25./26.06.2015 – online abrufbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2015/Kind_ist_Kind.pdf.