AGJ-Zwischenruf: Menschenwürde und Kinderrechte ernstnehmen – Geflüchtete Minderjährige aus Griechenland und von der griechisch-türkischen Grenze aufnehmen!

AGJ-Zwischenruf: Menschenwürde und Kinderrechte ernstnehmen – Geflüchtete Minderjährige aus Griechenland und von der griechisch-türkischen Grenze aufnehmen!

Zwischenruf als PDF

„Kindern und Jugendlichen auf der Flucht muss unmittelbar geholfen werden, indem ihnen insbesondere sichere humanitäre Zugänge in die EU ermöglicht werden“. Dies wurde von der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ bereits 2015 gefordert.1 Dass diese Forderung knapp fünf Jahre später wiederholt werden muss, ist mehr als nur erschreckend und macht betroffen. 

Seit langem zeichneten sich die unhaltbaren Zustände in Lagern in Griechenland ab, wurden auf der einen Seite immer wieder stark kritisiert2, auf der anderen Seite aber auch allzu oft einfach nur hingenommen. Derzeit leben etwa 40.000 Geflüchtete in und um die Erstaufnahmelager auf den griechischen Inseln in der Ägäis. Diese Einrichtungen haben allerdings lediglich eine Kapazität von ca. 6.500 Plätzen. Am dramatischsten ist die Lage auf Lesbos, wo etwa 20.000 Geflüchtete in einem für max. 2.800 Menschen ausgelegten Lager untergebracht sind.3 Ungefähr ein Drittel der Geflüchteten sind Kinder und Jugendliche. Für sie ist diese Situation besonders belastend, absolut menschunwürdig und in höchstem Maße gefährdend.4 Die Lager bieten so gut wie keine Gesundheitsversorgung, mangelhafte Hygienebedingungen, keine Stromversorgung und kaum Zuflucht vor winterlicher Kälte. An kindgerechte Schutz- und Spielmöglichkeiten sowie Bildungsangebote ist kaum zu denken. Zudem werden Hilfsorganisationen zunehmend Zielscheibe gewalttätiger Attacken von rechtsradikalen Gruppierungen, sodass viele ihre humanitäre Hilfe zumindest teilweise einstellen mussten.5

Seit Ende Februar 2020 hat sich die Lage an der türkisch-griechischen Grenze weiter zugespitzt, nachdem der türkische Präsident Erdoğan Geflüchtete zur Grenzüberquerung in die EU ermutigt hatte. Laut Angaben der UN-Migrationsorganisation IOM befinden sich nun rund 13.000 Geflüchtete an der Grenze zu Griechenland, darunter viele Kinder.6 Medienberichte verweisen darauf, dass Geflüchtete, die ihre Heimat wegen Krieg, Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen verlassen haben, hier von griechischen Grenzsoldaten an der Überquerung der türkisch-griechischen Grenze gehindert werden. Dies geschieht unter Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas.7 

Die mit Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention eingegangenen Verpflichtungen erfüllen

Die AGJ ist schockiert über die zögerliche Haltung der deutschen Bundespolitik und die Handlungsunwilligkeit der Europäischen Union, die auf der Notwendigkeit einer von allen Mitgliedsstaaten getragenen europäischen Lösung beharrt, wohl wissend, dass diese zurzeit nicht im Konsens aller Mitgliedsstaaten zu erreichen ist. In Anbetracht der untragbaren Situation in den griechischen Lagern und an der griechisch-türkischen Grenze weist die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ nochmals ausdrücklich darauf hin, dass Kinder und Jugendliche in erster Linie Kinder und Jugendliche sind und genau als solche das Recht auf Schutz haben – und dies unabhängig davon, ob sie nach Europa geflüchtet oder hier geboren sind. Ungeschützt sind sie der Gefahr ausgesetzt, Opfer von Ausbeutung, Missbrauch und Gewalt zu werden. Die Vertragsstaaten der Vereinten Nationen – damit auch alle Staaten der EU, inklusive Deutschland – haben sich in der UN-Kinderrechtskonvention zur Anerkennung und Wahrung von Kinderrechten verpflichtet. Das Verhalten der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und ihrem wirtschaftlich stärksten Land, Deutschland, steht jedoch in krassem Gegensatz zu den postulierten Verpflichtungen. Kinder und Jugendliche erleben in griechischen Erstaufnahmelagern sowie an der griechisch-türkischen Grenze tagtäglich statt Menschlichkeit und die Achtung ihrer Menschenwürde Gewalt, Elend, Hoffnungslosigkeit und den Verlust von Lebenssinn. Die Geschehnisse der letzten Tage und Wochen zeigen eine mehr als nur beschämende Verweigerung humanitärer Hilfe sogar gegenüber den Schutzbedürftigsten. Das Leid von Geflüchteten und insbesondere das von Kindern wird stattdessen dazu benutzt, politische Macht zu demonstrieren, Druck zu erzeugen und auf dem Rücken der Schwächsten eigene Interessen durchzusetzen.

Die AGJ fordert daher die deutsche Bundesregierung und die Europäische Union auf, endlich ihrer Verantwortung gerecht zu werden, die mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen und damit geflüchteten Kindern und Jugendlichen den ihnen zustehenden Schutz zu gewähren. Sie benötigen eine kind- und jugendgerechte Umgebung, den Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung und sichere Orte zum Aufwachsen. Das seelische und physische Wohl der oftmals ohnehin schon traumatisierten Kinder und Jugendlichen muss mit allen verfügbaren Kräften sichergestellt werden. 

Geflüchtete junge Menschen aufnehmen, Verantwortung übernehmen und europäische Lösung anstreben

Es ist dringend notwendig, auf europäischer Ebene eine Flüchtlingspolitik umzusetzen, die an den europäischen Werten der Demokratie, Solidarität, Offenheit, Vielfalt, Gerechtigkeit und des Friedens sowie des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts orientiert ist. Die Weigerung von EU Mitgliedsstaaten, Geflüchtete aufzunehmen und auf diesem Fundament zu einer europäischen Lösung zu gelangen, kann nicht mehr länger folgenlos hingenommen werden. Die völkerrechtswidrigen Verstöße gegen menschenrechtliche Grundsätze, wie die Außerkraftsetzung des individuellen Asylrechts, die Verteidigung der europäischen Grenze mittels Gewalt gegen Geflüchtete sowie die Verweigerung von Hilfe auch für besonders schutzbedürftige Menschen, müssen auf das Schärfste verurteilt werden. Das europäische Projekt gibt seine Grundfesten auf, wenn es nicht an der Idee eines solidarischen Miteinanders, der Wahrung der Menschenrechte und der Orientierung an der Rechtsstaatlichkeit festhält. Die EU ist gefordert, ihre eigenen Grundsätze (erneut) zur Grundlage ihres Handelns zu machen. Die deutsche Bundesregierung muss ihre Position nutzen, um eine europäische Vereinbarung zu erreichen. Bis dies erreicht ist, gilt es, mit allen erdenklichen Mitteln die Lage der Geflüchteten zu verbessern und den Schutz und die Sicherheit der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien zu gewährleisten. 

Die Ankündigung der Bundesregierung vom 8. März 2020, in einer „Koalition der Willigen“ einmalig 1.000 bis 1.500 besonders schutzbedürftige Kinder und Jugendliche in Europa aufzunehmen, kann dabei nur als erster Schritt verstanden werden. Die Zusage reicht jedoch weder hinsichtlich ihres Umfangs noch hinsichtlich der genannten Aufnahmekriterien aus, um der Notsituation der betroffenen Minderjährigen zu begegnen.8 Viele deutsche Kommunen und einige Bundesländer haben in den vergangenen Monaten freie Kapazitäten für die Aufnahme von minderjährigen Geflüchteten signalisiert und sich als „sichere Häfen“ angeboten. Ihre Bereitschaft geht über den Koalitionsbeschluss der Bundesregierung hinaus; sie sollte im Interesse der geflüchteten Kinder und Jugendlichen aufgegriffen und als Zeichen der Achtung der Menschenwürde und der Anerkennung der Kinderrechte umgesetzt werden können! 

Die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland signalisiert ebenfalls ihre Bereitschaft und Fähigkeit zur Aufnahme und Betreuung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen. Die AGJ – als Zusammenschluss der Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe – bekräftigt und unterstützt dies nachdrücklich und fordert die Bundesregierung dazu auf, endlich Verantwortung für die geflüchteten Kinder und Jugendlichen in Europa zu übernehmen und gleichzeitig in den Bestrebungen einer europäischen Lösung nicht nachzulassen. 

Geschäftsführender Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ 
Berlin, 13. März 2020
 

Fußnoten

* Ansprechperson für diesen Zwischenruf ist in der AGJ die zuständige Referentin des Arbeitsfelds II „Kinder- und Jugend(hilfe)politik in Europa“: Annika Dahrendorf (annika.dahrendorf@agj.de)
1 Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2015): Geflüchtete Kinder und Jugendliche sind Kinder und Jugendliche! Eckpunktepapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ zum Thema „Junge Flüchtlinge – Eine Herausforderung für Europa“.
2 Zum Beispiel: BumF (2019): Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Griechenland. Ein Bericht von Equal Rights Beyond Borders“; BumF (2019): Offener Brief: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Griechenland aufnehmen!
3 Hellenic Republic Ministry of citizen protection national coordination center for border control, immigration and asylum (2020). Online unter: https://infocrisis.gov.gr/8142/national-situational-picture-regarding-the-islands-at-eastern-aegean-sea-10-3-2020/?lang=en
4 UNHCR: www.unhcr.org/dach/de/40463-unhcr-begruesst-bemuehungen-zur-aufnahme-von-schutzsuchenden-aus-griechenland.html
5 Zum Beispiel: www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/lesbos-fluechtlinge-tuerkei-griechenland-migration-eu
6  www.iom.int/news/more-13000-migrants-reported-along-turkish-greek-border.
7 Zum Beispiel: www.deutschlandfunk.de/griechisch-tuerkische-grenze-wieder-berichte-ueber.1939.de.html?drn:news_id=1108580; www.tagesschau.de/ausland/grenze-tuerkei-griechenland-103.html
8 Bewertung an Zahlen und Fakten: BumF (2020): Beschluss zur Aufnahme von geflüchteten Minderjährigen aus Griechenland nur eine Mogelpackung? Online unter: https://b-umf.de/p/beschluss-zur-aufnahme-von-gefluechteten-minderjaehrigen-aus-griechenland-nur-eine-mogelpackung/