Europapolitischer Zwischenruf: Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen in Europa verteidigen! Europa mit einer jugend- und bildungspolitischen Agenda erneuern!

Europapolitischer Zwischenruf:
Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen in Europa verteidigen!
Europa mit einer jugend- und bildungspolitischen Agenda erneuern!

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Positionspapier als PDF

Europa am Scheideweg

Europa steht am Scheideweg. Diese Einsicht mag angesichts der Dramatik der vielschichtigen Krise, in der sich die EU seit 2010 befindet, kaum noch überraschen. Überraschend hingegen ist, dass sich diese Einsicht noch immer nicht in ausreichendem Maße im Handeln der politisch Verantwortlichen in Deutschland und auf europäischer Ebene niederschlägt. Sieben Jahre nach dem Beginn der Staatsschulden-, Banken- und Wirtschaftskrise scheint die politische Talfahrt des europäischen Projektes noch lange nicht gestoppt. Im Gegenteil: Das vergangene Jahr hat mit dem Brexit-Votum einen neuen Tiefpunkt markiert. Die Entscheidung der Britinnen und Briten für den Austritt ihres Landes aus der EU ist als Symptom für die schwindende politische Einigungskraft des europäischen Projekts, den erstarkenden Populismus, Nationalismus und die sinkende Akzeptanz der EU bei den europäischen Bürgerinnen und Bürgern zu verstehen. Es besteht die Gefahr, dass die europäische Idee weiter geschwächt wird. Trotzdem herrschen in weiten Teilen von Politik und Zivilgesellschaft nach wie vor Gleichgültigkeit und Distanz gegenüber den europäischen Entwicklungen und ihren möglichen Folgen.

Dieser Gleichgültigkeit will die AGJ diesen Zwischenruf entgegensetzen, mit dem sie klar Stellung für ein starkes, soziales Europa bezieht. Neben Politik und Verwaltung hat insbesondere die Zivilgesellschaft eine große Verantwortung für den Fortbestand und die Weiterentwicklung des europäischen Projektes. Für die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland heißt das, dass sie sich sehr viel offensiver in den europapolitischen Diskurs begeben und sich für die europäische Idee einsetzen muss, wenn sie nicht will, dass die eng mit Europa verbundenen Lebenswelten und Zukunftschancen aller Kinder und Jugendlichen zunehmend in Frage gestellt und gefährdet werden.

Europäische Errungenschaften und Werte verteidigen, Europa erneuern

Die EU wurde als Friedensprojekt begründet und als Garantin für den wirtschaftlichen Wohlstand, für die gesellschaftliche Kohäsion und Modernisierung sowie für die Wahrung der Menschenrechte weiterentwickelt. In Zeiten hoher (Jugend-)Arbeitslosigkeit, wachsender Armut und erstarkender Abstiegsängste in Teilen der Bevölkerung scheint diese historische Leistung an Strahlkraft verloren zu haben. Die zahlreichen Errungenschaften des europäischen Einigungsprojektes werden zunehmend als selbstverständlich angesehen oder im Zuge sozialer, kultureller und politischer Abschottungstendenzen ausgehöhlt.

Die AGJ ist überzeugt, dass

  • das bis vor Kurzem noch unvorstellbare (Wieder-)Auseinanderdriften Europas gestoppt werden muss! Es braucht eine bewusste Rückbesinnung auf die Errungenschaften und Werte des europäischen Projektes!
  • eine tiefgreifende Erneuerung hin zu einem sozialen Europa erfolgen muss! Die europäischen Werte der Demokratie, Solidarität, Offenheit, Vielfalt, Gerechtigkeit und des Friedens sowie des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts müssen das Fundament für eine Neuausrichtung des europäischen Projektes und für konkrete politische Reformen der EU bilden.

Eine jugend- und bildungspolitische Agenda für ein soziales Europa

Die AGJ sieht es als vordringlich an, sich im Zuge einer Erneuerung Europas mehr als bisher für die Schaffung positiver Lebensperspektiven für Kinder und Jugendliche einzusetzen, und fordert dazu eine jugend- und bildungspolitische Agenda mit folgenden Zielsetzungen und Kernaspekten:

  • Europa (kind- und jugend)gerechter machen!

Ein soziales Europa muss konsequent Verantwortung für die Gestaltung von Lebenslagen und für das gelingende Aufwachsen junger Menschen übernehmen. Die sozialen Rechte junger Menschen müssen gestärkt, Chancengerechtigkeit für alle Kinder und Jugendlichen muss verwirklicht werden. Damit einhergehend braucht es dringend mehr Engagement und gezielte politische Initiativen zur Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut und deren Folgen, zur Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit, für verbesserte Zugänge zu (Aus-) Bildung sowie zur besonderen Unterstützung derjenigen, die nicht in (Aus-)Bildung oder Beschäftigung sind.

Ein soziales Europa braucht auch eine starke Jugendpolitik. Politisches Handeln in Europa muss auf der Grundlage von Kinder- und Jugendrechten und mit der Verpflichtung zu einer einmischenden Politik stattfinden, die junge Menschen, ihr Wohlbefinden, ihre gesellschaftliche Teilhabe und ihre Autonomie in den Mittelpunkt stellt. Die bisherige europäische Zusammenarbeit im Jugendbereich hat sich als wichtige Initiative zur Stärkung und Sichtbarmachung von Jugendarbeit und -bildung, Jugendhilfe und -politik in Europa erwiesen. Auch nach 2018 braucht es eine auf einen längeren Zeitraum angelegte EU-Jugendstrategie, welche mit einem verbindlicheren Rahmen versehen werden sollte. Die europäische Zusammenarbeit im Jugendbereich muss als Ressortpolitik stärker auf Themenfelder fokussiert werden, in denen die EU einen klaren jugendpolitischen Auftrag hat (insb. grenzüberschreitende Mobilität, aktive europäische Bürgerschaft und Engagement in und für Europa, europäisches youth work, Stärkung von Vielfalt und Bekämpfung von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Bewältigung aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen). Gleichzeitig sollte Jugendpolitik in Europa als Querschnittpolitik verstanden und als solche intensiviert werden. So ist beispielsweise die Einführung eines Jugend-Checks zur Berücksichtigung der Belange junger Menschen bei politischen Gestaltungsprozessen auf EU-Ebene anzustreben.

  • Europa demokratischer und partizipativer machen!

Ein soziales Europa braucht das Engagement seiner Bürgerinnen und Bürger. Die Übernahme von Verantwortung, die Beteiligung und Mitbestimmung insbesondere von jungen Menschen in Diskussions- und Entscheidungsprozessen in bzw. über Europa muss grundlegendes Prinzip des politischen Handelns in der EU und ihren Mitgliedsstaaten werden.

Die Förderung eines lebendigen europäischen Gemeinwesens mit einer starken europäischen Zivilgesellschaft ist eine zentrale Stellschraube für eine breite Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Erforderlich sind die systematische, strukturierte Einbindung der Zivilgesellschaft in die Gestaltung europäischer Politik im Rahmen eines kontinuierlichen zivilen Dialogs und die Entwicklung von Modellen politischer Partizipation, die eine Beteiligung sämtlicher Ebenen – sowohl horizontal als auch vertikal – ermöglichen. Und es braucht entsprechende Programme, die eine solche Entwicklung unterstützen, sowie nicht zuletzt mehr Orte, Gelegenheiten und Bereitschaft, einander zu begegnen und zuzuhören.

Demokratie und bürgerschaftliches Engagement funktionieren nicht ohne Bildung und Information. Erforderlich ist daher ein gemeinsamer Aktionsplan für europäische bürgerschaftliche Bildung mit dem Ziel, europäisches Lernen, europabezogenes Wissen und Information über die vielfältigen Möglichkeiten, Europa mitzugestalten, voranzubringen.

Weitestgehender Ausdruck eines solidarischen Engagements für und in Europa ist derzeit der Europäische Freiwilligendienst. Dieser muss als zentrale Säule des geplanten Europäischen Solidaritätskorps zu einem solidarischen Freiwilligendienst, der allen jungen Menschen in Europa offensteht und die Qualitätsstandards von 20 Jahren europäischer Erfahrung berücksichtigt, ausgebaut werden.

  • Europa inklusiver, offener und vielfältiger machen!

Ein soziales Europa muss allen Kindern und Jugendlichen Chancen und Potentiale für ein gelingendes Aufwachsen bieten. Ein soziales Europa darf es nicht hinnehmen, dass das Wohlbefinden junger Menschen davon abhängt, in welchem Land sie geboren sind. Um dies zu gewährleisten, müssen die europäischen Bildungs- und Teilhabemöglichkeiten für sozial benachteiligte und individuell beeinträchtigte junge Menschen genauso verbessert werden wie die Chancen und Perspektiven von nach Europa eingewanderten oder geflüchteten jungen Menschen. Bei bestehenden und neu aufzulegenden Förderprogrammen auch auf Europaebene sollte die Lebensrealität benachteiligter, beeinträchtigter und geflüchteter junger Menschen stärker berücksichtigt werden.

Ein soziales Europa muss zudem ein Zusammenleben auf Basis der im EU-Vertrag und in der EU-Grundrechtecharta verankerten europäischen Werte gewährleisten. Dabei kommt der politischen Bildung in der ganzen Breite ihrer Angebotsformen eine besondere Bedeutung zu. Sie leistet mit Menschenrechtsbildung, Demokratieerziehung und bürgerschaftlichem Lernen einen unverzichtbaren Beitrag zu einem offenen, vielfältigen Miteinander in Europa und muss daher verstärkt gefördert werden. Politische Bildungsinhalte brauchen Verankerung in allen Bereichen der Jugendhilfe und Schule, und müssen vermehrt auch in der Ausbildung an den Hochschulen vermittelt werden. Überdies sollte die Weiterentwicklung der Einrichtungen und Organisationen der politischen Bildung vorangetrieben werden.

  • Europa erfahrbarer machen!

Ein soziales Europa muss jungen Menschen die Gelegenheit geben, es konkret als politische, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Lebensrealität zu erleben. Es gilt, ein Europa zu schaffen, das auch die jungen Bürgerinnen und Bürger als ihres begreifen können, für das sie eintreten und über dessen Ausgestaltung es sich für sie zu streiten lohnt. Intensive europäische Lernerfahrungen durch grenzüberschreitende Mobilität sind dabei ein wichtiger Bestandteil und folglich ein Recht aller jungen Menschen. Die grenzüberschreitende Mobilität von jungen Menschen und Fachkräften aus allen Bereichen der Jugendhilfe muss auf EU-Ebene durch Aktionspläne, verbindliche Zielwerte und – über 2020 hinaus – durch ein benutzerfreundlicheres Programm Erasmus+ mit einem finanziell besser ausgestatteten Programmbereich JUGEND IN AKTION gefördert werden.

Europa benötigt aber auch wirksame Initiativen von Bund, Ländern und Kommunen, um die europäische Idee zu vermitteln und das europäische Bewusstsein und Engagement zu stärken. Es bedarf europapolitischer Jugendkonzepte und -pläne auf regionaler und lokaler Ebene, die helfen, Europa für junge Menschen durch grenzüberschreitende Mobilität, aber auch in ihrem Alltagsleben vor Ort erfahrbar zu machen. Und nicht zuletzt: Jugendpolitik in Deutschland benötigt immer auch europäische Komponenten und Perspektiven.

Die Kinder- und Jugendhilfe übernimmt Verantwortung für Europa

Die Kinder- und Jugendhilfe hat ein existentielles Interesse am Erhalt der EU. Denn Europa steht für die Werte, für die auch die Kinder- und Jugendhilfe selbst eintritt: für Demokratie, Offenheit und Vielfalt, für Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt. Das europäische Wertefundament zu untergraben heißt, gleichzeitig die Werte der Kinder- und Jugendhilfe infrage zu stellen. In ihrem Engagement für Kinderrechte, für den Schutz von Minderheiten und für ein breit verstandenes Bildungskonzept erhält die Kinder- und Jugendhilfe wichtige Unterstützung durch die EU, sei es in Form von Fördermitteln (wie dem Europäischen Sozialfonds oder Erasmus+), Rechtsschriften (wie der EU-Grundrechtecharta) oder politischen Impulsen (wie den Initiativen im Bereich der jugend- und bildungspolitischen Zusammenarbeit). All dies sind europäische Bezüge und Errungenschaften, die die Alltagsarbeit der Kinder- und Jugendhilfe prägen und immer mehr als selbstverständlich angesehen werden. Doch die Krise der EU macht deutlich, dass sie eben nicht selbstverständlich sind, sondern beständig wahrgenommen, verteidigt und weiterentwickelt werden müssen. Hierzu muss auch innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe dringend Bewusstseinsarbeit geleistet werden.

Eine für die Wichtigkeit Europas sensibilisierte Kinder- und Jugendhilfe wird – noch stärker und offensiver als bisher – Verantwortung für das europäische Projekt übernehmen müssen. Dieses Engagement für Europa kann und sollte als Teil einer Repolitisierung der Sozialen Arbeit verstanden werden. Eine sich als politisch verstehende Kinder- und Jugendhilfe muss sich in europapolitische Debatten einmischen und sich deutlich hörbar für ein demokratisches, solidarisches, gerechtes und offenes Europa positionieren. Es gehört zum Selbstverständnis der Kinder- und Jugendhilfe, dabei als Anwältin der vielen jungen Europäerinnen und Europäer aufzutreten, die selbst zentrale Protagonisten eines erneuerten europäischen Einigungsprojekts sein müssen.

Die Kinder- und Jugendhilfe hat einen klaren sozial-, bildungs-, kultur- und jugendpolitischen Auftrag und verfügt über die Mittel, um Europa für junge Menschen, insbesondere benachteiligte Kinder und Jugendliche, erfahrbar zu machen. Die europäische (Neu-) Ausrichtung sollte sich vermehrt auch in den eigenen Handlungsweisen der Kinder- und Jugendhilfe widerspiegeln. Dies beinhaltet, dass die öffentlichen und freien Träger und die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe Europa in ihrer täglichen Arbeit konsequent mitdenken, europäische Angebote für junge Menschen mehr als bisher zum Gegenstand ihrer Praxis machen und eine stärkere europäische Ausrichtung des fachlichen Dialoges einfordern und aktiv vorantreiben. Dies bedeutet schließlich auch, sich stärker grenzüberschreitend zu vernetzen und sich für zunehmend unter Druck geratende zivilgesellschaftliche Strukturen in anderen europäischen Mitgliedsstaaten stark zu machen.

Kurzum: Europa mit Leben zu füllen, zu verteidigen und weiterzuentwickeln ist keine abstrakte politische Aufgabe. Es ist die Summe der europäischen Projekte, Initiativen und Netzwerke aller gesellschaftlichen Akteure, also auch der Kinder- und Jugendhilfe. Und es ist das Ergebnis der lebensweltlichen europäischen Erfahrungen und Begegnungen der (jungen) Europäerinnen und Europäer, welche die Kinder- und Jugendhilfe entscheidend mitprägt. Daraus ergibt sich eine doppelte europäische Gestaltungsmöglichkeit und -pflicht für die Kinder- und Jugendhilfe: einerseits innerhalb der eigenen Strukturen und andererseits in ihrem Wirken für das gelingende Aufwachsen von jungen Menschen. Es ist das Gebot der Stunde, sich dieser europäischen Gestaltungsmöglichkeit und -pflicht bewusst zu werden und sie aktiv wahrzunehmen!


Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Düsseldorf, 27. März 2017