Frühpädagogische Studiengänge im Spannungsfeld von Spezialisierung und Generalisierung

Frühpädagogische Studiengänge im Spannungsfeld von Spezialisierung und Generalisierung

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

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In Deutschland werden jährlich ca. 8.200 Absolventinnen und Absolventen an 451 Berufsfachschulen ausgebildet, die je nach Bundesland die Abschlüsse Kinderpflegerin/Kinderpfleger, Sozialassistentin/Sozialassistent oder Sozial-pflegerin/Sozialpfleger erwerben. Über die Anzahl der Absolventinnen und Absolventen, die im Anschluss an diese in aller Regel zweijährige Ausbildung eine Fachschulausbildung zur Erzieherin bzw. zum Erzieher anschließen, liegen aktuell keine Zahlenangaben vor. Weiterhin werden an ca. 423 Fachschulen und Fachakademien jährlich etwa 16.000 Erzieherinnen und Erzieher ausgebildet. Diese Ausbildung ist generalistisch orientiert und qualifiziert für den Kindertagesstättenbereich und andere Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe. Die Dauer dieser Ausbildung wird in den Bundesländern spezifisch geregelt; zur Zeit können vier Ausbildungsvarianten voneinander unterschieden werden: eine fünfjährige Gesamtausbildung (zweijährige berufliche Vorbildung, zweijährige Fachschulausbildung, einjähriges Berufspraktikum), eine fünfjährige Gesamtausbildung mit integriertem Berufspraktikum in die Fachschulausbildung, eine vierjährige Gesamtausbildung (einjährige berufliche Vorbildung, zweijährige Fachschulausbildung, einjähriges Berufspraktikum) und eine vierjährige Gesamtausbildung mit zweijähriger beruflicher Vorbildung und zweijähriger Fachschule.[1] 

Im Laufe von nur sechs Jahren ist in Deutschland zusätzlich zu diesen Ausbildungsgängen in einem weitgehend ungesteuerten Prozess ein vielfältiges hochschulisches Studienangebot im Bereich der Frühpädagogik[2] mit mittlerweile mehr als 60 verschiedenen Studiengängen entstanden. Die Studiengänge sind grundständig oder bauen auf eine Ausbildung auf; sie setzen dabei eine allgemeine Hochschulzulassung, die Fachschulausbildung und/oder eine berufliche Tätigkeit als Erzieherin oder Erzieher voraus. Sie werden teilweise berufsbegleitend und aufbauend auf dem Ausbildungs-abschluss der Erzieherin bzw. des Erziehers angeboten. In Einzelfällen soll die Anschlussfähigkeit zwischen Fachschule und Hochschule durch ein integriertes Ausbildungskonzept erleichtert werden. 

Über die strukturelle und inhaltliche Klarheit und Übersichtlichkeit dieser Studiengänge wird  derzeit viel diskutiert; es mehren sich Bemühungen um ordnende Vereinbarungen.[3] Mit der vorliegenden Positionierung bringt sich die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ in die entsprechende fachpolitische Debatte über Anforderungen an frühpäda-gogische Studiengänge im Spannungsfeld von Spezialisierung und Generalisierung ein. 


Unübersichtlich und überspezialisiert: Die gegenwärtigen frühpädagogischen Studienangebote  

Frühpädagogische Studiengänge können überwiegend an Fachhochschulen, aber auch an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen belegt werden. Die überwältigende Mehrzahl der Angebote führt zum Abschluss Bachelor of Arts. Daneben gibt es wenige, zum Teil berufsbegleitende / weiterbildende Masterprogramme.[4]

Infolge der thematischen und strukturellen Breite der Angebote besteht die Gefahr, dass das Ziel der gegenseitigen Anerkennung und Durchlässigkeit nicht erreicht werden kann: Inhaltlich weisen die Studiengänge einen Mangel an gemeinsamer generalistischer Basis und eine jeweilige Verkürzung auf Einzelaspekte der Frühpädagogik auf; strukturell gelten zum Beispiel unterschiedliche Zugangsregelungen und Studiendauern. Darüber hinaus fehlt es den Studiengängen aus Sicht von Anstellungsträgern oftmals an Praxisrelevanz und Bedarfsorientierung.[5]

Zu der beschriebenen Bandbreite von Angeboten und der damit verbundenen strukturellen und inhaltlichen Vielfalt kam es

  • vor dem Hintergrund der Diskussion über spezifische Anforderungen bei der Akademisierung der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern (in Abgrenzung von oder gar als Ersatz der Fachschulausbildung), 
  • durch das Bemühen um standortspezifische frühpädagogische Studienangebote der Hochschulen, die im Rahmen der wettbewerbs-orientierten Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland einerseits über Gestaltungsautonomie verfügen und andererseits einem Profilierungszwang unterliegen 
  • bei ungenügender Einbeziehung der Praxis in den Gesamtprozess; Praxisvertreter und Anstellungsträger kritisieren vor diesem Hintergrund die mangelnde Transparenz und Unübersichtlichkeit der Studiengänge. 


Generalistisch und verpflichtend: Die notwendige sozialpädagogische Grundausbildung

Eine grundständige sozialpädagogische Berufsqualifizierung ist eine unerlässliche Grundlage für die Bewältigung der vielfältigen Anforderungen im frühpädagogischen Bereich, welcher als Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe ein wichtiger Teil der Sozialen Arbeit ist. Hingegen sind die derzeit angebotenen Studiengänge zur frühen Kindheit von einem Trend zur Spezialisierung (z. B. Fachdidaktik in den Bereichen Sprache und Bewegung) geprägt, was nicht zuletzt zu Zweifeln der Anstellungsträger in Bezug auf andere Berufs- und Einsatzfähigkeiten von Absolventinnen und Absolventen mit einem solchen Hochschulabschluss führen kann. 

Um im Zuge der grundsätzlich zu begrüßenden „Akademisierung der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern“[6] und der Umsetzung des Bologna-Prozesses eine grundständige sozialpädagogische Ausbildung zu gewährleisten, muss ein generalistischer Kern gesichert werden, um den Absolventinnen und Absolventen den Einsatz auch in anderen Aufgabenfeldern der Sozialen Arbeit zu ermöglichen. Dies kann geschehen, indem beispielsweise entsprechende Pflichtmodule in jedem der frühpädagogischen Studiengänge installiert werden. Die Vermittlung eines solchen generalistischen Kerns dient der Klarheit und Eindeutigkeit des Studiengangs und der Durchlässigkeit sowohl zu anderen frühpädagogischen Studiengängen als auch zu Studiengängen der Sozialen Arbeit. Dies stärkt die berufliche Identität. 

Für die Errichtung eines übersichtlichen und praxisorientierten Qualifizierungssystems für die Hochschulausbildung im Bereich Frühpädagogik bedarf es einer bundeseinheitlichen Basis, welche durch aktuelle Bemühungen der Länder denkbar wird. Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ begrüßt das Vorhaben der Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK), sich gemeinsam mit der Kultus-ministerkonferenz (KMK) auf einen entsprechenden Orientierungs-rahmen für Hochschulen zu einigen und dabei sowohl die Hochschulseite als auch die Anstellungsträger sowie die Ausbildung zur Erzieherin beziehungsweise zum Erzieher an den Fachschulen und Fachakademien für Sozialpädagogik einzubeziehen.[7] 

Aufgabe der Hochschulen ist es, bei der Ausgestaltung der frühpädagogischen Studienangebote die Anschlussfähigkeit an eine Fachschulausbildung und an berufsbegleitende Weiterbildungsangebote sowie die Durchlässigkeit hin zu weiterführenden Studiengängen durch entsprechende Module und Anerkennungsmöglichkeiten sicherzustellen. 

Im Sinne der Erkennbarkeit und Anerkennung von frühpädagogischen Bachelorabschlüssen, die auf Grundlage eines solchen Orientierungs-rahmens erworben werden, wäre außerdem eine bundeseinheitliche Berufsbezeichnung hilfreich.[8] Zumindest aber sollte die Integration eines einheitlichen Elementes in die Abschlussbezeichnung vereinbart werden. Damit wäre einerseits das grundständige sozialpädagogische Hochschul-studium im Bereich Frühpädagogik gekennzeichnet, andererseits aber auch Raum gegeben für die standortspezifische Profilierung der Hochschulen. 


Spezialisiert und anschlussfähig: Die Hochschulausbildung für Leitungen, Fachberatung und Wissenschaft

Neben grundständigen hochschulischen Studiengängen existieren auch solche, die als berufsbegleitende/weiterbildende Studiengänge eine Qualifizierung für Leitungsfunktionen vorsehen. Ungeklärt ist zurzeit, inwieweit nicht auch grundständige Ausbildungsgänge auf die Übernahme von Leitungsfunktionen vorbereiten. Keine Angaben sind außerdem aktuell dazu möglich, in welchem Umfang die Absolventen und Absolventinnen nach erfolgreichem Studienabschluss tatsächlich auf Leitungsfunktionen in die Praxis der Kindertagesstätten zurückkehren. Sollte auch in Zukunft an der Zweiteilung von grundständigen Ausbildungswegen und berufsbegleiten-den/weiterbildenden Studiengängen für eine gesonderte Qualifizierung für Leitungsfunktionen festgehalten werden, dann ist es aus Sicht der AGJ erforderlich, neben dem Qualifikationsrahmen für breit angelegte, grundständige Studiengänge der Frühpädagogik auch die Entwicklung eines separaten Qualifikationsrahmens zu diskutieren, der Studiengänge als eine Möglichkeit der Qualifizierung für Leitungsfunktionen umfasst sowie Studiengänge mit einer Fachberatungs- oder akademischen Zielperspektive einschließt. Sicherzustellen wären dabei wiederum die Anschlussfähigkeit und Durchlässigkeit hin zu anderen Studiengängen der Sozialen Arbeit und damit auch zu weiteren Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe. 

Bei der Ausgestaltung eines solchen Rahmens für die Spezialisierung muss im Besonderen auch die Vermittlung wissenschaftlichen und forschungs-basierten Arbeitens in den Blick genommen werden. Dies impliziert auch die Sicherstellung adäquater Rahmenbedingungen für hochwertige Forschung und Lehre, was nicht zuletzt der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses für frühpädagogische Studiengänge und damit der qualifizierten Ausbildung der Lehrkräfte für die entsprechenden hochschulischen Ausbildungsgänge dienen würde.[9]

 

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Hamburg, 27. April 2010 

 

[1] Vgl. hierzu ausführlicher den Beitrag von Angelika Diller „Erzieherinnen, Kindheitspädagogen & Co. – Neue Ausbildungs- und Studienprofile im Bereich Bildung, Betreuung und Erziehung, in: Der pädagogische Blick, Heft 1, 2010  
[2] sozialpädagogische Ausbildung für die Altersgruppe bis zu zehn Jahren
[3] Der Versuch, ein geordnetes Verfahren für die Studiengänge der „Frühen Kindheit“ zu gestalten, ist maßgeblich durch die Haltung der KMK in der Bund-Länder-Kommission (BLK) beeinflusst worden. 2001 und 2002 beantragte die Alice-Salomon-Hochschule in Zusammenarbeit mit dem Pestalozzi-Fröbel-Haus (Fachschule für Sozialpädagogik) einen Studiengang of Education (B.A.) als Modellversuch. Dieser wurde nach Rücksprache mit anderen Hochschulen sowie nach zwei öffentlichen Hearings in die BLK eingebracht und von Seiten der KMK jeweils abgelehnt. In der Begründung für die Ablehnung wurde die Notwendigkeit eines solchen Studiengangs grundsätzlich infrage gestellt und die spätere Beschäftigung dieser Absolventinnen und Absolventen in Tageseinrichtungen für Kinder angezweifelt. Erst 2003 bewilligte dann der Berliner Senat im Alleingang diesen Modellversuch. Damit war ein koordiniertes Verfahren sowie die Evaluation dieses Studiengangs durch die BLK nicht mehr gegeben. Die Ablehnung durch die KMK beeinflusste das Verhalten der Hochschulen in dieser Angelegenheit maßgeblich.
[4] Im Rahmen des Programms "Profis in Kitas" (PiK) der Robert Bosch Stiftung listet das Institut für Bildungs- und Sozialpolitik der FH Koblenz aktuell angebotene B.A.- und M.A.-Studiengänge im Portal "Frühpädagogik studieren!" auf (www.fruehpadagogik-studieren.de). zur Vielfalt der Studiengänge vgl. auch Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hrsg.) (2008): Erzieherinnenausbildung in der Hochschule. Studienmodelle im Überblick, Frankfurt am Main; Viernickel, Susanne (2008): Von Breitband zu Schmalspur? Die neuen frühpädagogischen Bachelor-Studiengänge, Sozial Extra, 3/4, 21-27; Viernickel, Susanne (2008): Reformmodelle für die Ausbildung des frühpädagogischen Fachpersonals, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 123-138
[5] Diverse Beiträge im Rahmen des AGJ-Expertengespräches „Soziale Arbeit in Bachelor-/Master-Studiengängen: Kompetenzen von Fachkräften – Erwartungen von Anstellungsträgern“ am 5. November 2009 in Berlin brachten dies zum Ausdruck.
[6] Unter dem Stichwort „Akademisierung der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern“ werden die Entwicklungen hin zu einer neuen frühpädagogischen Hochschulausbildung subsumiert. Diese erfolgen neben der bestehenden Fachschulausbildung mit dem Abschluss „Erzieherin“ beziehungsweise „Erzieher“ und resultieren in anderen Berufsbezeichnungen, über deren Vereinheitlichung diskutiert wird – so schlägt die Bundesarbeitsgemeinschaft - Bildung und Erziehung im Kindesalter (BAG-BEK) den (fachlich umstrittenen) Abschluss „Kindheitspädagogin“ beziehungsweise „Kindheitspädagoge“ vor. Die AGJ hat sich 2004 mit einem Diskussionspapier für die längerfristige Akademisierung der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern mit hochschulnaher Neuverortung beziehungsweise Integration der sozialpädagogischen Fachschulausbildung in das System der akademischen Qualifizierungslandschaft ausgesprochen (vgl. Qualifizierung von Fachkräften für die Kinder- und Jugendhilfe. Bestandsaufnahme und Anregungen zur Diskussion der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ) (Juni 2004)). 
[7] vgl. Beschluss der Jugend- und Familienministerkonferenz (4./5. Juni 2009): Bachelor-Abschlüsse im Bereich der Kindertagesbetreuung und der Berufsbezeichnung
[8] vgl. Anforderungen an Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen. Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (02./03. Dezember 2009)
[9] vgl. Entwicklungsperspektiven der universitären Pädagogik der frühen Kindheit. Diskussionspapier des Erziehungswissenschaftlichen Fakultätentages (28. November 2008)