Guter Ganztag?! Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter mit Qualität verbinden. Zwischenruf

Guter Ganztag?! Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter mit Qualität verbinden

Zwischenruf der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

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Der Rechtsanspruch auf Ganztagsangebote im Grundschulalter ist ein Vorhaben der Regierungskoalition von hoher gesellschaftlicher Relevanz, das sowohl unter dem Blickwinkel der Ermöglichung von Teilhabe für die Kinder wie auch der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für die Eltern Zuspruch erhält. Aufgrund der Kulturhoheit der Länder, die den Bereich Schule einschließt, bedarf die Verwirklichung dieses Vorhabens einer engen Rückkoppelung mit den Ländern. Die Gespräche hierzu intensivieren sich. Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ fordert Bund und Länder dringend auf, Qualitätsaspekte in die Überlegungen zum Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter einzubeziehen und die damit verbundenen Fragen keinesfalls aufzuschieben.

Mit Spannung werden derzeit die Eckpunkte erwartet, die die Bund-Länder-Arbeitsgruppe als Grundlage für den Gesetzesentwurf zum Rechtsanspruch auf ganztägige Bildungs- und Betreuungsangebote im Grundschulalter ab 2025 entwickelt. Nachdem der Bund die ursprünglich vorgesehenen zwei Milliarden Euro Sondervermögen für Investitionskosten nochmals um weitere 1,5 Milliarden Euro aufstockte [1] und auch eine Beteiligung an den Betriebskosten versprach [2], nimmt das Vorhaben erneut Fahrt auf. Ein Aspekt fehlt jedoch gänzlich in der derzeitigen Diskussion: die Thematisierung von Qualitätsfragen. Finanzierungsfragen überlagern die Relevanz objektiver Bedarfe und subjektiver Erwartungen junger Menschen und ihrer Familien an Ganztagsbildung.

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ hat bereits im Dezember 2019 ein Positionspapier zu einem kinder- und jugendgerechten Ganztag beschlossen und dort Perspektiven auf guten Ganztag, Gelingensbedingungen und konkrete von der AGJ mitgetragene Forderungen zusammengeführt [3]. Bereits dabei stellte die AGJ fest, dass es bisher keinen Konsens über qualitative Standards, nicht einmal eine klare Begriffsklärung zum Ganztag gibt. Die AGJ versteht Ganztagsbildung und ganztägige Angebote im Sinne von Bildung, Erziehung und Betreuung [4]. Für die AGJ sind die Ausgangspunkte aller Überlegungen im Kontext Ganztagsbildung die Bedarfe und Bedürfnisse von jungen Menschen und somit insbesondere die Qualität des Angebots. Die AGJ warnt nachdrücklich vor einer Engführung der Diskussion auf Betreuungs- und Vereinbarkeitsfragen – auch und gerade im Kontext der Debatte um den Rechtsanspruch für Kinder im Grundschulalter!

Zeit in öffentlicher Verantwortung muss sinnvoll gestaltet sein

Die AGJ geht davon aus, dass – wenn junge Menschen mehr Zeit in öffentlicher Verantwortung verbringen (sollen) – eine besondere staatliche Verantwortung für den dabei gesetzten gesellschaftlichen Rahmen ihrer Entwicklung besteht. Dieses Erfordernis wird noch verstärkt, da über das Angebot des Ganztags im Interesse insbesondere benachteiligter junger Menschen auch Bildungs- und Teilhabechancen verwirklicht werden sollen.
Die Erfahrungen um die Ausweitung des Rechtsanspruchs auf Kindertagesbetreuung [5] haben gezeigt, dass verbindliche Regelungen zu Qualitätsaspekten von Anfang an erforderlich sind, da ansonsten Qualitätsfragen mühevoll nachträglich aufgegriffen werden müssen [6].

Rechte und Bedarfe von Kindern und Jugendlichen bei Einführung des Rechtsanspruchs hervorheben

Für die AGJ steht daher außer Frage, dass schon bei der Einführung des Rechtanspruchs, welcher den Zugang zu ganztägigen Bildungs- und Betreuungsangeboten absichern soll, eine an den Rechten und Bedarfen der Adressat*innen ausgestaltete Umsetzung umfassend mitgedacht werden muss.
Gesetze auf Bundes-, europäischer und internationaler Ebene sichern Kindern und Jugendlichen ein Recht auf Mitgestaltung und Beteiligung zu; Kinder und Jugendliche sind Expert*innen in eigener Sache, die Bedeutung ihrer Beteiligung für eine bedürfnis- und bedarfsgerechte Ausgestaltung ist fachlich unumstritten. Eigentlich müsste daher der ernstgemeinte Blick auf und die Befassung mit den Bedarfen von Kindern und Jugendlichen im Kontext der Ausgestaltung von Ganztagsbildung Priorität haben. Dennoch entspricht der Aufbau von Angeboten der Ganztagsbildung noch immer nicht den systematischen Anforderungen, wie sie aus Sicht von Kindern und Jugendlichen einzufordern sind.[7] Der Blick auf die Förderung ihrer umfänglichen Persönlichkeitsentwicklung, ihres Rechts auf Mitbestimmung und auf Berücksichtigung ihrer subjektiven Interessen und Meinungsäußerungen sowie ihres Rechts auf Ruhe, Erholung sowie freie und selbstbestimmte Freizeitgestaltung kommt zu kurz. Insbesondere sind im Rahmen eines öffentlich verantworteten Ganztags solche Freiräume einzuräumen, in denen junge Menschen selbstbestimmt ihre Freizeit gestalten, Interessen gemeinsam mit anderen entwickeln, eigene „Projekte“ vorantreiben können. Es braucht Zeit und Raum zur freien Verfügung – ohne Zielformulierungen und Lernintentionen. Bewegung, Ruhe und selbstgestaltbare Räume sollten selbstverständlich sein. Ganztagsbildung sollte ein Ort sein, an dem Kinder und Jugendliche mit diesen Bedürfnissen abgeholt werden und der somit positiv auf ihre soziale und emotionale Entwicklung wirkt.
Angebote und Strukturen, die junge Menschen über den ganzen Tag anregen, diese in Lernprozessen und in ihren Interessen begleiten, von ihnen mitgestaltet werden und in denen sie sich wohlfühlen, sind die Voraussetzung dafür, dass Ganztagsbildung adressat*innengerecht ihre Ziele von mehr Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit erreichen kann. Nur so stellt Ganztagsbildung für Kinder und Jugendliche eine Chance dar, unabhängig von den Eltern Interessen zu entwickeln, ihre Persönlichkeit zu entfalten und sich zunehmend freier im Sozialraum zu bewegen. Ein solcher Auftrag sollte normiert werden, um gegenüber der Praxis die gesetzgeberische Erwartung zu verdeutlichen, dass neben dem Zugang zu Ganztagsangeboten (Quantität der Betreuung) auch deren Gestaltung (Qualität durch Konzepte zur Verwirklichung der Rechte von Kindern und Jugendlichen) maßgeblich ist.

Strukturelle Mindestqualitätsstandards bei Einführung des Rechtsanspruchs

Die AGJ hat sich den Forderungen unter anderem des Bundesjugendkuratoriums [8] nach strukturellen Qualitätsstandards angeschlossen, die bei der Einführung eines Rechtsanspruches auf Ganztagsbetreuung mindestens erfüllt werden müssen:

  • Die Ganztagsangebote sollen einschließlich des Schulunterrichts an fünf Tagen pro Woche für acht Stunden sichergestellt sein.
  • Bis auf jährliche Schließzeiten von vier Wochen ist auch eine Ferienbetreuung zu gewährleisten, die alle Akteure der Ganztagsbildung zu verantworten haben.
  • Ein angemessener Personalschlüssel, der in Kinder- und Jugendhilfe und Schule üblich ist.
  • Gemäß § 72 SGB VIII gilt das Fachkräftegebot.
  • Es muss eine qualitativ gute Mittagsverpflegung für alle Kinder erfolgen.

Die AGJ hält für notwendig, dass Angebote von außerschulischen Partnern auch von ehren- bzw. nebenamtlichen Personen betreut werden können, die eine entsprechende trägerspezifische Qualifikation haben (zum Beispiel Juleica-Inhaber*innen, Übungsleiter*innen im Sport).

Herausforderungen bei der Gestaltung von Ganztagsangeboten vor Ort

Die AGJ benennt im oben genannten Papier ferner folgende Herausforderungen auf dem Weg zur Umsetzung einer kind- und jugendgerechten Ganztagsbildung:

  • Erforderlich ist eine Konzeption, die von Mitarbeiter*innen von Schule und Kinder- und Jugendhilfe gemeinsam erarbeitet wird. Hierzu müssen in einem ersten Schritt alle beteiligten Akteure zusammenkommen und sich über die Ziele und strukturellen Rahmenbedingungen austauschen. Die Einbeziehung der Schulbegleitung von Kindern und Jugendlichen mit Assistenzbedarf ist sicherzustellen.
  • Insgesamt ist bei der Ganztagsbildung grundlegend sicherzustellen, dass die Bedürfnisse und Bedarfe von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt und konzeptionell eingebunden werden. Altersgerechte Formen der Beteiligung sind in den bestehenden Ganztagsbildungsorten zu entwickeln und bei der Planung neuer Orte systematisch einzubeziehen.
  • Die Akteure der Ganztagsbildung arbeiten gemeinsam und kooperativ, statt nebeneinander her. Hierfür ist eine Klärung der Steuerungsverantwortung vor Ort sowie die Einrichtung eines gemeinsamen Gremiums notwendig, das den Rahmen für regelmäßigen Austausch bietet.
  • Konzeption, Rahmenbedingungen und Ressourcen müssen so gestaltet sein, dass auch Ehren- und nebenamtliche Aktive (zum Beispiel von Trägern der Kinder- und Jugendarbeit) „auf Augenhöhe“ an der Ganztagsbildung mitwirken können.
  • Für eine gelingende Bildungs- und Erziehungspartnerschaft muss der Einbezug von Eltern in verbindlichen Strukturen konzeptionell sichergestellt werden. Konkret müssen Eltern die Möglichkeit haben, ihre Interessen und Bedenken mitzuteilen und diese als ernst genommen erfahren, zum Beispiel durch regelmäßige Elternbefragungen.
  • Unabdinglich ist eine verlässliche, auskömmliche und gesetzlich abgesicherte Finanzierung, die gleichwertige Anstellungsverhältnisse für alle Fachkräfte vorsieht.
  • Gute Ganztagsbildung benötigt geeignete Räumlichkeiten und ein Nahverkehrssystem, welches Ganztagsbildung erreichbar macht.
  • Für ein umfassendes und ansprechendes Ganztagsangebot, das Kinder und Jugendliche gerne wahrnehmen, müssen mehr Orte in den Blick genommen werden als Schule und Kinder- und Jugendhilfe. Ein Netzwerk an regionalen Angeboten diverser Akteure muss geschaffen und in die Ganztagsbildung einbezogen werden.
  • Gemeinsame Fortbildungen sind notwendig für Fachkräfte, die bereits jetzt gemeinsam im Ganztag arbeiten. Weiterführend sind verbindlich festgeschriebene und flächendeckende professionsübergreifende Fortbildungen einzuführen, sowie abgestimmte, gemeinsame Ausbildungsinhalte zu realisieren.

Geschäftsführender Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ, Berlin, 24. August 2020


Fußnoten

*Ansprechperson für diesen Zwischenruf in der AGJ ist die Referentin Eva-Lotta Bueren (eva-lotta.bueren@agj.de).
[1] Öffentliche Anhörung des Bundestagsausschusses Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Entwurf eines Gesetztes zur Einrichtung des Sondervermögens „Ausbau ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder im Grundschulalter“ am 15.06.2020, Wortprotokoll, S. 14. Online unter der Website des Bundestags, hier klicken
[2] Online abrufbar unter der Website des Spiegel hier klicken, Letzter Zugriff am 18.08.2020.
[3] Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2019): Kind- und jugendgerechte Ganztagsbildung. Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ.
[4] Ganztagsbildung ist nach Ansicht der AGJ mehr als Ganztagsschule und Ganztagsbetreuung. Vielmehr umfasst sie verschiedene Konzepte und Institutionalisierungsformen, die formale, non-formale und informelle Bildungsgelegenheiten durch organisatorische und inhaltliche Verschränkung zu einem integrierten Ganzen verbinden. Wesentlich ist dabei die Zusammenarbeit verschiedener Trägerstrukturen, Orte und Professionen.
[5] Gesetz zur Förderung von Kindern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege – Kinderförderungsgesetz, Inkrafttreten 01.08.2013.
[6] Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung – Gute-Kita-Gesetz, Inkrafttreten 01.01.2019.
[7] Zum Beispiel FORUM Jugendhilfe 01/2020, zum Beispiel S. 31 ff.
[8] Vergleiche Bundesjugendkuratorium (2019): Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter. Zwischenruf des Bundesjugendkuratoriums.