Kind- und jugendgerechte Ganztagsbildung. Positionspapier

Kind- und jugendgerechte Ganztagsbildung

Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

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Zusammenfassung

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ formuliert inhaltliche Leitplanken, die eine Qualität von ganztägigen Angeboten beschreiben und sie als Zeit in öffentlicher Verantwortung markieren. Sie versteht Ganztagsbildung als ganzheitlichen Auftrag aller Träger und Strukturen, die Kinder und Jugendliche über den Tag begleiten. Der Ausgangspunkt für die AGJ sind die objektiven Bedarfe und subjektiven Erwartungen junger Menschen an Ganztagsbildung, aus denen Gelingens-bedingungen eines guten Ganztags abgeleitet werden. Aufgabe von Ganztagsbildung ist, Kinder und Jugendliche in ihrer individuellen persönlichen bildungsbiografischen und sozialen Entwicklung bestmöglich zu fördern. Voraussetzung dafür ist, dass die Kinder- und Jugendhilfe selbst substanziell Mitgestalter von Ganztagsbildung wird. Die AGJ benennt sieben Gelingensbedingungen für gute Ganztagsbildung: Kinder- und Jugendhilfe und Schule sowie weitere Akteure entwickeln gemeinsam eine Ganztagskonzeption, die eine partnerschaftliche Kooperation zwischen Lehrkräften und Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe ermöglicht und die Zusammenarbeit mit den Eltern als Chance wahrnimmt. Für alle Beteiligten müssen verlässliche Rahmenbedingungen und Strukturen geschaffen werden (Finanzierung, Räume, Mobilität, Steuerungsverantwortung). Es müssen Kooperationspartner gewonnen werden, um die Angebote der Ganztagsbildung im Sozialraum zu vernetzen. Die Fachlichkeit der verschiedenen professionellen und ehrenamtlichen Akteure gilt es gemeinsam fortzuentwickeln und insgesamt eine kind- und jugendorientierte Ganztagsbildung zu fokussieren.

Einleitung

Die Diskussion um Qualität und Quantität von Ganztagsangeboten wird derzeit von der geplanten Einführung eines Rechtsanspruches auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter geprägt. Hier wird deutlich, dass es bisher keinen Konsens über qualitative Standards und keine Begriffsklärung zu Ganztag gibt. Vor diesem Hintergrund definiert die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ in diesem Papier Ganztagsangebote als Ganztagsbildung im Sinne von Erziehung, Bildung und Betreuung. Im Koalitionsvertrag der 19. Wahlperiode ist der Rechtsanspruch einerseits unter der Überschrift „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ und andererseits unter der Überschrift „Offensive für Bildung“ ausformuliert. Diese Aufteilung schließt an die generelle Debatte zu den Erwartungen und Ansprüchen an ganztägige Erziehung, Bildung und Betreuung an und stellt einen Balanceakt dar zwischen einem Betreuungsbedarf auf Seiten der Eltern und der bildungs- und sozialpolitischen Forderung nach gleichen Chancen für alle Kinder und Jugendlichen. Ganztagsbildung wird also mit einem Versprechen des Abbaus von Bildungsbenachteiligung durch bislang stark herkunftsbedingte Bildungschancen verbunden. Es schließen sich Hoffnungen auf einen Ort gleichberechtigter Teilhabe für alle an – unabhängig von (bestehenden oder zugeschriebenen) Exklusionsfaktoren wie Bildungsbenachteiligung, Behinderung, Migrationshintergrund oder Armut.

Ganztagsbildung ist somit ein von vielen Seiten mit Hoffnungen und Ansprüchen verknüpfter Begriff. Die Frage, was sich eigentlich Kinder und Jugendliche für ihren „ganzen Tag“ wünschen und welche Angebote sie wollen, wird jedoch kaum gestellt. Aus Sicht der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ ist relevant, dass sich Akteure auf allen Ebenen damit befassen, wie gute und qualitativ hochwertige Ganztagsbildung unter der Berücksichtigung der Bedürfnisse und Bedarfe von Kindern und Jugendlichen gestaltet werden kann. Die AGJ will eine Qualitätsdebatte anstoßen, die in der aktuellen Diskussion um den Rechtsanspruch auf Ganztag bisher zu kurz kommt. Denn: Eine Diskussion zu den Zielen, der Ausgestaltung und den Gelingensbedingungen von ganztägiger Erziehung, Bildung und Betreuung ist sowohl im Grundschulalter wie auch im Jugendalter von großer Relevanz. Deshalb nimmt die AGJ mit diesem Papier sowohl die Perspektive von Kindern als auch von Jugendlichen ein. Eine Ursache für die bislang verkürzte Debatte sieht die AGJ darin, dass angesichts des enormen quantitativen Ausbaus der Ganztagsschulen und einer Fokussierung auf arbeitsmarkt- und familienpolitische Fragen die Qualität des Ganztags in den Hintergrund geraten ist.

Ausgangslage

Ganztagsbildung ist nach Ansicht der AGJ mehr als Ganztagsschule und Ganztagsbetreuung. Vielmehr umfasst sie verschiedene Konzepte und Institutionalisierungsformen, die formale, non-formale und informelle Bildungsgelegenheiten durch organisatorische und inhaltliche Verschränkung zu einem integrierten Ganzen verbinden. Wesentlich ist dabei die Zusammenarbeit verschiedener Trägerstrukturen, Orte und Professionen.

Die im folgenden beschriebene Ausgangslage nimmt zunächst die Situation der Ganztagsschulen und der Horte in den Blick.

Ganztagsbildung wird in unterschiedlichen Angeboten und Organisations- und Kooperationsformen für Kinder im Grundschulalter und Jugendliche in der Sekundarstufe I ausgestaltet. Dies umfasst eine Vielzahl an Formen und Zuschnitten, was die zugrundeliegenden Konzepte, die konkrete Ausgestaltung, das Verhältnis von Unterricht und außerunterrichtlichen Angeboten sowie die Zeitstruktur betrifft. Auch die Inanspruchnahme ganztagsschulischer Angebote variiert sowohl zwischen den Schularten als auch zwischen den Bundesländern deutlich.[1]

Die zentralen Orte der Ganztagsbildung für Kinder im Grundschulalter sind der Hort sowie die Ganztagsschule, wobei verschiedene Modelle der Kooperation und Ausgestaltung existieren.[2] Daneben haben sich verschiedene Formen der (Über-)Mittagsbetreuung etabliert, organisiert als „verlässliche Grundschule“ oder durch Elterninitiativen. Die Formen der grundschulischen Ganztagsbetreuung unterscheiden sich in Bezug auf die Verpflichtung zur Teilnahme, den Grad der Verzahnung von Unterricht und Ganztagsangebot, die Trägerschaft durch Schulen oder Kinder- und Jugendhilfe, den zeitlichen Umfang des Angebots und die Verankerung an Schulen oder in Kooperation mit außerschulischen Trägern.

Die Frage, ab wann eine Schule eine Ganztagsschule ist, versucht die Kultusministerkonferenz in ihrer Definition von Ganztagsschule über formale Indikatoren zu beantworten. Demnach handelt es sich um eine Ganztagsschule, wenn für Schülerinnen und Schüler an mindestens drei Tagen die Woche für jeweils sieben Stunden Ganztagsangebote sowie Mittagessen bereitgestellt werden und die Verantwortung für die Ausgestaltung und Aufsicht der Schulleitung obliegt.[3] Qualitative Aspekte, die pädagogischen Konzepte sowie die Inhalte oder Ziele betreffen, finden hierbei keine Beachtung, sodass sich unter dem Sammelbegriff Ganztagsschule regional höchst unterschiedliche Formate herausgebildet haben.

Trotz einer bisher unzureichenden empirischen Datenlage, können aus den vorhandenen Zahlen Rückschlüsse auf den quantitativen Ausbaustand der Ganztagsschulen sowie auf deren Nutzungsgrad gezogen werden. Für das Jahr 2018 weisen die amtlichen Statistiken aus, dass mit 49 Prozent nahezu jedes zweite Kind ein Ganztagsangebot nutzt, wobei hier erhebliche Unterschiede sowohl zwischen Ost- und Westdeutschland als auch zwischen den einzelnen Bundesländern existieren.[4] Weitere Unterschiede bestehen hinsichtlich des zeitlichen Umfangs der Inanspruchnahme pro Tag und pro Woche, was zum einen auf die Heterogenität der vorhandenen Strukturen, zum anderen auch darauf zurückgeführt werden kann, dass die Dauer des Grundschulbesuchs in den einzelnen Bundesländern ebenfalls unterschiedlich geregelt ist.[5]

Auch für die weiterführenden Schulen hebt der 15. Kinder- und Jugendbericht [6] in Bezug auf die Entwicklung von Ganztagsschulen erhebliche länderspezifische Unterschiede hervor. 68 Prozent der Sekundarstufen I sind mittlerweile ganztägig organisiert, mit Ausnahme von Bremen (38 Prozent) gibt es in allen Bundesländern mittlerweile mehr Ganztags- als Halbtagsschulen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass an diesen Ganztagsschulen alle oder ein überwiegender Teil der Schülerinnen und Schüler am Ganztagsangebot teilnehmen.

In der politischen Debatte liegt der Fokus vorrangig auf einer Absicherung des Zugangs zu Ganztagsangeboten (insbesondere im Grundschulalter). Eine darüber hinausgehende Verständigung zu den Zielen, der Ausgestaltung und den Gelingensbedingungen von ganztägiger Erziehung, Bildung und Betreuung ist jedoch sowohl für das Kindesalter als auch das Jugendalter aus Sicht der AGJ von erheblicher Relevanz.

So setzt der 15. Kinder- und Jugendbericht durch seine Hinweise für einen jugendgerechten Ganztag einen entsprechenden Impuls. Die Bewältigung der besonderen Herausforderungen des Jugend- und jungen Erwachsenenalters wird nicht als individuelle Aufgabe betrachtet, sondern in Bezug zum gesellschaftlichen Rahmen gesetzt, innerhalb dessen die jungen Menschen aufwachsen. In der Gesamtschau vorliegender Daten und Studien zum Ganztag kommt der Kinder- und Jugendbericht zu einer eher ernüchternden Bilanz. Demnach erscheinen die Auswirkungen des Ganztagsschulausbaus und die von ihm ausgelösten Veränderungen vorerst eher gering zu sein. Wenn man dies mit den bildungspolitischen Zielen des Ganztags abgleicht, ist zwar eine tatsächlich erreichte bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf festzuhalten, die primär das Grundschulalter betrifft. Den eigentlichen Anspruch, für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen, hat die Ganztagsschule aber bisher kaum eingelöst. Es zeichnen sich bislang kein grundlegender Wandel der Schulkultur oder des Lernens, keine Erosion der Landschaft außerschulischer Träger und auch keine gravierende Veränderung im Familienleben und in der Alltagsgestaltung durch die Ganztagsschule ab – weder als Einschränkung von Freizeit und außerschulischer Einbindung von jungen Menschen noch als Gewinn im Sinne besseren Lernens, veränderten Schullebens oder größerer Chancengleichheit.
Wenn junge Menschen mehr Zeit in öffentlicher Verantwortung verbringen (sollen), besteht eine besondere staatliche Verantwortung für den damit gesetzten gesellschaftlichen Rahmen ihrer Entwicklung. Dieses Erfordernis wird noch verstärkt, da über das Angebot des Ganztags im Interesse insbesondere benachteiligter junger Menschen auch Bildungs- und Teilhabechancen verwirklicht werden sollen. Angebote und Strukturen, die junge Menschen über den ganzen Tag anregen, diese in Lernprozessen und in ihren Interessen begleiten, von ihnen mitgestaltet werden und in denen sie sich wohlfühlen, sind die Voraussetzung dafür, dass Ganztagsbildung ihre Ziele von mehr Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit erreichen kann.
Daher sollen im Weiteren inhaltliche Leitplanken entwickelt werden, die ganztägige Angebote als Zeit in öffentlicher Verantwortung markieren und die zu einer qualitativen Ausgestaltung ganztägiger Bildungsangebote beitragen können. Maßgeblich hierfür sind dann gleichermaßen die objektiven Bedarfe und die subjektiven Erwartungen junger Menschen an Ganztagsbildung, aus denen Gelingensbedingungen eines guten Ganztags abgeleitet werden können.

Rechte von Kindern und Jugendlichen bei Ganztagsbildung

Kinder und Jugendliche haben einen Anspruch auf Erziehung, Bildung und Betreuung. Diese Ansprüche zu gewährleisten, ist die Aufgabe der Eltern, der Schulen, der Kinder- und Jugendhilfe sowie weiterer Einrichtungen, Träger, Dienste und Akteure, die jungen Menschen Angebote im Bereich der Freizeitgestaltung, kulturellen Bildung, sportlichen Betätigung usw. machen. Ziel aller Angebote der Erziehung, Bildung und Betreuung ist es, einen Beitrag zur Entwicklung einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu leisten und Benachteiligung auszugleichen.

Zugleich haben Kinder und Jugendliche das Recht auf Beteiligung und Berücksichtigung ihrer Interessen und ihrer Willensäußerungen (Art. 12 UN KRK), auf Schutz (z. B. Art. 16 UN KRK) und auf Förderung ihrer Bildung – sowohl im formalen Sinne (Art. 28 UN KRK) als auch im Hinblick auf Freizeitaktivitäten, kulturelle Angebote und künstlerische Betätigung (Art. 31 UN KRK).

Vor dem Hintergrund sich verändernder Lebensbedingungen von Familien, vor allem hinsichtlich einer veränderten Balance von Familienleben und Arbeit, lassen sich die oben genannte Rechte von Kindern und Jugendlichen, ihre begründeten Erwartungen an Förderung, Erziehung, Betreuung und Schutz immer weniger eindeutig bestimmbaren Zeiträumen (morgens, nachmittags) und damit unterschiedlichen an der Förderung von Kindern und Jugendlichen beteiligten Akteuren zuweisen. Hier ist festzustellen, dass z. B. Eltern allein, ohne unterstützende Leistungssysteme, ihre Rolle aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Anforderungen kaum noch für sie befriedigend erfüllen können. Das Modell, dass ein Elternteil nach Schulschluss zu Hause ist und letztlich dafür zuständig ist, die außerschulischen Bildungsangebote zu organisieren bzw. zugänglich zu machen, ist längst durchlöchert, wenn nicht sogar auf dem Weg zu entfallen.

Bereits im Jahr 2002 hat der 11. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung diese Veränderungen aufgegriffen. Heute – 17 Jahre später – kann man festhalten, dass die beschriebenen Entwicklungen weit vorangeschritten sind. Mit dem Rechtsanspruch auf ganztägige Erziehung, Bildung und Betreuung für Kinder ab dem ersten Lebensjahr bis zum Schuleintritt, mit dem in allen Bundesländern vorangetriebenen Ausbau von Angeboten ganztägigen Lernens für Kinder im Grundschulalter und mit der Zunahme ganztägiger Angebote für Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass die Erziehung, Bildung und Betreuung von jungen Menschen sowie die Ausgestaltung ihrer Freizeit längst in gesellschaftlicher Verantwortung und durch zeitlich ineinander verschränkte Institutionen erfolgen. Eltern, Schulen und die Kinder- und Jugendhilfe sowie andere gesellschaftliche Akteure, wie der Sport und die kulturelle Bildung, wirken zusammen und sind in einer Verantwortungsgemeinschaft für das formulierte Ziel der Förderung junger Menschen und die Verwirklichung ihrer Rechte gemäß UN-Kinderrechtskonvention.

Der Aufbau von Angeboten der Ganztagsbildung entspricht noch immer nicht den systematischen Anforderungen, wie sie aus Sicht von Kindern und Jugendlichen zu stellen sind. Noch zu oft – und dies gilt insbesondere für den schulisch organisierten Ganztag – wirken diese Angebote wie eine Verlängerung des Systems, aus dem heraus sie organisiert werden. So ist festzustellen, dass die Ausgestaltung ganztägiger Bildung noch zu oft aus der Logik der Schulen (verstanden als Institutionen der Wissensvermittlung und Zuteilung von Zertifikaten und damit Zugangsberechtigungen) und zu wenig aus der Sicht der Durchsetzung anderer Rechte der Kinder und Jugendlichen organisiert ist. Das heißt, der Blick auf die Förderung ihrer umfänglichen Persönlichkeitsentwicklung, ihres Rechts auf Mitbestimmung und auf Berücksichtigung ihrer subjektiven Interessen und Meinungsäußerungen sowie ihres Rechts auf Ruhe, Erholung und freie und selbstbestimmte Freizeitgestaltung, ist oft noch nicht ausreichend gegeben.

Die aktuelle Diskussion über den Ausbau ganztägiger Bildung muss bei der Konzeption von Angeboten die Verwirklichung aller oben genannten Rechte von Kindern und Jugendlichen zum Ausgangs- und Mittelpunkt ihrer Überlegungen machen. Nur so kann es gelingen, die veränderten Lebensbedingungen so auszugestalten, dass tatsächlich alle Bedürfnisse junger Menschen integriert Berücksichtigung und Achtung finden.

Bedarfe von Kindern und Jugendlichen in der Ganztagsbildung

Kinder und Jugendliche haben das Bedürfnis nach und ein Recht auf Mitgestaltung und Beteiligung, das in Gesetzen auf Bundes-, europäischer und internationaler Ebene verbrieft ist. Kinder und Jugendliche sind Expertinnen und Experten in eigener Sache – und Subjekte, die ihre Rechte eigenständig ausüben können. Damit geht einher, dass der ernstgemeinte Blick auf und die Befassung mit den Bedarfen von Kindern und Jugendlichen im Kontext der Ausgestaltung von Ganztagsbildung Priorität haben müssen.

Kinder und Jugendliche wünschen sich mit Gleichaltrigen in Kontakt zu kommen, selbstbestimmt ihre Freizeit zu gestalten, Interessen gemeinsam mit anderen zu entwickeln, eigene „Projekte“ voranzutreiben sowie Zeit und Raum zur freien Verfügung zu haben – auch ohne Zielformulierungen und Lernintentionen. Darüber hinaus sind ihnen Bewegung, Ruhe und selbstgestaltbare Räume wichtig. Ganztagsbildung kann ein Ort sein, an dem Kinder und Jugendliche mit diesen Bedürfnissen abgeholt werden und der somit positiv auf ihre soziale und emotionale Entwicklung wirkt. Hier werden Freundschaften aufgebaut, Peergroups gebildet und im Kontakt mit Anderen Anerkennung, Kritik und Ermunterung erfahren.

Insbesondere bei Kindern im Grundschulalter hat das Ausleben ihrer körperlich-motorischen und auch kreativen Bedürfnisse sowie ihrer Neugier große Relevanz; sie wollen Abwechslung und Aktivitäten genauso wie Erholung. Dabei wirkt sich körperliche Aktivität positiv auf die physische und psychische Gesundheit aus und begünstigt die schulische, sozioemotionale und kognitive Entwicklung und Leistungsfähigkeit.[7] Ganztagsbildung ist ein Ort, an dem Kinder diese Bedürfnisse leben können und ohne vorher vereinbarte Verabredungen auf Gleichaltrige treffen. Dies ist unter anderem wichtig, da Kinder – anders als Jugendliche – noch einen eingeschränkteren und kleineren Bewegungsradius haben und Gleichaltrige überwiegend in organisierten Angeboten treffen. Das Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Verantwortungsübernahme wächst jedoch stetig und ist bei Jugendlichen bereits sehr ausgeprägt. So stellt Ganztagsbildung für Kinder und Jugendliche eine Chance dar, unabhängig von den Eltern und deren Aufsicht Interessen zu entwickeln und sich zunehmend freier im Sozialraum zu bewegen.

Mit wachsender Selbstbestimmung und sich entwickelnden Fähigkeiten verändern sich einige Bedürfnisse: Jugendliche sehen sich den drei Kernherausforderungen des Jugendalters Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositionierung gegenüber. Sie müssen sich nicht nur über Bildungsprozesse allgemeinbildende, soziale und berufliche Handlungsfähigkeit aneignen und Selbstständigkeit erlangen, sondern sich auch zwischen subjektiver Freiheit und sozialer Zugehörigkeit gesellschaftlich verorten. Eigene Standpunkte und Urteilskraft zu entwickeln, ist eine kontinuierliche Anforderung an Jugendliche. Dieser Prozess der Selbstpositionierung findet dabei im Kontext vielfältiger gesellschaftlicher Entscheidungsoptionen statt.

Mit diesem Verständnis geht einher, dass ein Bildungskonzept zugrunde gelegt werden muss, bei dem Jugendliche mit ihrem Recht auf Entwicklung und Förderung hin zu eigenständigen und sozial verantwortlichen Persönlichkeiten im Mittelpunkt stehen. Es beinhaltet beispielsweise die Herausforderung, ganztägige Bildung so zu gestalten, dass Jugendliche Gelegenheiten und (Frei-)Räume vorfinden, in denen sie ihre Persönlichkeit entwickeln, ihre Positionen bestimmen und zum Ausdruck bringen und in denen sie Gemeinschaft mitgestalten können. Dazu gehört auch mehr Verantwortung zu übernehmen, z. B. für Jüngere selbst Angebote in der Ganztagsbildung anzubieten. Kurzum: Selbst zu Akteuren in der Gestaltung von ganztägigen Angeboten zu werden. Jugendgerechte Ganztagbildung ermöglicht und fördert die Realisierung einer selbstbestimmten Bildungspraxis, die jugendkulturelle Gestaltung des Alltags unter maßgeblicher Mitwirkung und Mitentscheidung von Jugendlichen.

Jugendliche und junge Erwachsene orientieren sich bei der Wahl ihrer Freizeitgestaltung durchaus daran, ob diese die Möglichkeit bietet, etwas Neues zu lernen, ihre Fähigkeiten weiter zu entwickeln, zu vertiefen oder sich in Bereichen zu qualifizieren, die sie in Hinblick auf eine berufliche Perspektive für sinnvoll halten. Zudem ist auch der unterrichtliche Kontext geeignet, Verselbständigung und Selbstpositionierung zu fördern oder zu verhindern.

Gelingensbedingungen in der Ganztagsbildung

Aus den zuvor beschriebenen Bedarfen und Erwartungen junger Menschen an Ganztagsbildung ergibt sich eine Idee von Ganztag, die den „ganzen Tag“ in den Blick nimmt und fragt, wo und wie sich Kinder und Jugendliche ihre Lebenswelt gestalten wollen. Ganztagsbildung in diesem Sinne umfasst unterschiedlichste Institutionalisierungsformen, in denen formelle und nicht-formelle Bildung durch die organisatorische, inhaltliche und personelle Verschränkung, durch die Ko-Produktion sich ergänzender Professionen, zu einem integrierten Ganzen gestaltet werden.[8] Somit ist Ganztagsbildung mehr als Ganztagsschule und Ganztagsbetreuung. Darüber hinaus ist mit der Umsetzung und Ausgestaltung von Ganztagsbildung auch ein sozial- und bildungspolitischer Auftrag verbunden, der das Ziel hat, Benachteiligungen junger Heranwachsender abzubauen, Inklusion zu fördern und Bildungsprozesse in einem umfassenden Sinne zu unterstützen. „Mit dem Konzept „Ganztagsbildung“ wird eine bildungstheoretische, -ökonomische und -politische Dimension forciert, die das Primat der individuellen Entwicklung mit einer neuen, Gerechtigkeit begründenden Definition von Fähigkeiten und Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche verbinden will“.[9]

Eine zentrale Bedeutung für die ganztägige Bildung in kind- und jugendgerechter Perspektive haben aus Sicht der AGJ die Grundprinzipien der Kinder- und Jugendhilfe. Je mehr es im Zusammenspiel von Bildungsorten und -akteuren gelingt, Ansprüche wie Lebensweltorientierung, Freiwilligkeit, Stärken- und Ressourcenorientierung sowie Fehlerfreundlichkeit und Partizipation zu realisieren, umso kind- und jugendgerechter sowie kind- und jugendrelevanter ist Ganztagsbildung.
Die Kinder- und Jugendhilfe muss und wird sich daher zukünftig (noch) stärker mit ihren Prinzipien, ihren Kompetenzen und Erfahrungen in der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen sowie ihren partizipativen und kooperativen Arbeitsweisen in die Ganztagsbildung einbringen und diese verantwortlich mitgestalten müssen und können. Wie und wo sich die Kinder- und Jugendhilfe in die Ganztagsbildung einbringt, wird so vielfältig sein, wie die Pluralität der Kinder- und Jugendhilfe.

Aufgabe von Ganztagsbildung ist, Kinder und Jugendliche in ihrer individuellen bildungsbiografischen und sozialen Entwicklung bestmöglich zu fördern. Voraussetzung dafür ist, dass die Kinder- und Jugendhilfe selbst substanziell Mitgestalter von Ganztagsbildung wird. Im Mittelpunkt aller konzeptionellen und gestalterischen Überlegungen müssen Kinder und Jugendliche und deren Persönlichkeitsentwicklung stehen. Die AGJ benennt sieben Gelingensbedingungen für gute Ganztagsbildung:

Gelingensbedingung 1: Gemeinsam eine Ganztagskonzeption entwickeln!

Ein gemeinsam konzipiertes Ganztagsmodell von Schule und Kinder- und Jugendhilfe bildet die Grundlage, damit sich auch schulische Orte stärker zu Freizeit- und Lebensorten weiterentwickeln. Ein solches Modell gelingt unter den folgenden Bedingungen:

Fachkräfte aus Schule und Kinder- und Jugendhilfe erarbeiten unter Einbeziehung von Schulträgern, Schulaufsicht, Jugendhilfeträgern, Eltern sowie Kindern und Jugendlichen eine gemeinsame Konzeption. Die Angebote müssen eine pädagogische, sozialpädagogische und eine bedarfsgerechte Palette an Freizeit- und Beschäftigungsmöglichkeiten umfassen und sollten im Gemeinwesen sozialräumlich verortet sein. Ein transparenter und an geteilten Zielen orientierter Prozess der Konzeptentwicklung befördert das gegenseitige Verständnis und die Entwicklung einer gemeinsamen fachlichen Haltung. Auf der Basis rechtlicher Vorgaben sowie von Schulentwicklungsplanungen und Jugendhilfeplanungen verständigen sich alle Beteiligten auf Ziele, deren Erreichung und Messung sowie auf die dafür vorzuhaltenden Angebote. Das Konzept muss ein für Familien (rechtlich) verlässliches und ausreichendes Angebot vorsehen. In der Phase der Konzeptentwicklung ist die Einbindung von Schulträgern, Schulaufsicht und Trägern der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe besonders wichtig, denn hier geht es maßgeblich um die Klärung von Rahmenbedingungen. Die zunehmende Bedeutung kommunaler Bildungsplanung befördert seit vielen Jahren die systemübergreifende Perspektive und stellt das Bildungspotenzial einer Region und die gemeinsame Verantwortung von Schule und Kinder- und Jugendhilfe heraus (integrierte Schul- und Jugendhilfeplanungen). Diese Entwicklung fördert und begünstigt die gemeinsame Konzeptentwicklung von Ganztagsbildung.

Dazu gehören verlässliche Zeiten von Montag bis Freitag mit mindestens acht Stunden täglich. Das heißt nicht, dass Kinder und Jugendliche verbindlich 40 Stunden pro Woche an ausschließlich schul- und sozialpädagogisch gestalteten Lernsettings teilnehmen.[10] Während der Ganztagsbildung finden sowohl schulische Maßnahmen als auch Freizeitangebote statt sowie Beratungs- und Unterstützungsangebote für Eltern, Kinder und Jugendliche. Hiervon ist nur ein Teil zeitlich verpflichtend. Eine Mindestöffnungszeit ist in diesem Sinne keine Mindestteilnahmezeit. Ergänzend sind dem Bedarf der Familien entsprechend auch Randzeitenbetreuungen und – ebenfalls verlässliche – Ferienbetreuungsangebote unter Einbezug von allen pädagogischen Fachkräften zu gewährleisten.

Gelingensbedingung 2: Verlässliche Rahmenbedingungen und Strukturen schaffen!

Die Erreichung von Zielen in der Ganztagsbildung ist maßgeblich daran geknüpft, wie verbindlich und unterstützend die Rahmenbedingungen gestaltet sind. Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass die für die Ganztagsbildungsangebote erforderlichen finanziellen, personellen, sächlichen und räumlichen Voraussetzungen bedarfsgerecht zur Verfügung gestellt werden. Dazu gehören:

Finanzierungsverantwortung regeln

Ein verlässlicher Finanzierungsrahmen für Personal- und Sachaufwand und die Abstimmung dazu zwischen den zuständigen Institutionen ist zwingend erforderlich. Hierzu gehören ebenfalls gerechte Rahmenbedingungen für alle beteiligten Träger. Dies muss sich beispielsweise auch im Gehalt und den Anstellungsverhältnissen widerspiegeln. Diese Klärung und Festschreibung ist in der Regel auch Voraussetzung für die Bereitschaft außerschulischer Träger und Kooperationspartner zur Bereitstellung von Angeboten und zur aktiven Mitgestaltung.

Räume für eine erfolgreiche Ganztagsgestaltung bereitstellen

Ganztagsbildungsangebote brauchen eine an den Zielen ausgerichtete räumliche Qualität. Deshalb ist für einen gelingenden Ganztag eine adäquate Ganztagsraumplanung notwendig, die sowohl den altersentsprechenden Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen als auch den Bedürfnissen der unterschiedlichen Professionen gerecht wird. Die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit muss für alle Kinder und Jugendlichen gewährleistet sein. Dies gilt ausdrücklich auch für außerschulische Bildungsorte.

Mobilität von Kindern und Jugendlichen gewährleisten

Gerade in ländlichen Räumen hat die Frage der Beförderung von Kindern und Jugendlichen eine große Relevanz. Damit Ganztagsangebote von allen genutzt werden können und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelingt, muss die Mobilität im öffentlichen Nahverkehr in bedarfsgerechtem Ausmaß sichergestellt werden. Dies bezieht sich sowohl auf den Weg zum, als auch auf die Wege zwischen den verschiedenen Ganztagsbildungsorten.

Steuerungsverantwortung klären

Bund und Länder sind mit Blick auf einen guten Ganztag maßgeblich für die Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen, für Auftragsklarheit, Verbindlichkeiten und Spielräume verantwortlich. Die kommunale Ebene ist für den Prozess der konzeptionellen Konkretisierung und Ausgestaltung dieser Rahmung zuständig. Schul-, Schulverwaltungs- und Jugendämter müssen zielorientiert und partnerschaftlich sowohl untereinander als auch mit der operativen Ebene kooperieren. Dazu gehört auch eine schulübergreifende Koordinierung der außerunterrichtlichen Bildungsangebote, beispielsweise in einer kommunalen Bildungslandschaft.[11]

Gelingensbedingung 3: Eine partnerschaftliche Kooperation zwischen Lehrkräften und Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe! Die Gesamtverantwortung klären!

Im Zuge der Entwicklung und Umsetzung eines gemeinsamen Ganztagsmodells müssen die Fachkräfte aus Schule und Kinder- und Jugendhilfe und der Schulbegleitung für Kinder und Jugendliche mit Assistenzbedarf sowie gegebenenfalls weitere Akteure die Zusammenarbeit im pädagogischen Alltag mit Blick auf die relevanten Strukturstandards, die Zusammensetzung und Organisation der Fachkräfteteams sowie die gemeinsam zu planenden Tagesabschnitte verbindlich abstimmen. Jeder muss über den anderen und seine Aufgaben Bescheid wissen, bildungsorts- und professionsübergreifend. Es braucht sozusagen das Vor-Ort-Netzwerk und das schnelle und unkomplizierte gegenseitige Unterstützen.

Für den regelmäßigen Austausch aller Akteure, die in einer Stadt, einem Stadtteil oder einer Region Ganztagsbildung gestalten, ist ein geeignetes Steuerungsgremium notwendig, im Sinne einer „Ganztagsbildungskonferenz“. Alle Mitglieder – das heißt, auch Kinder und Jugendliche – müssen hierbei die gleichen Rechte und Pflichten erhalten und es werden zudem Räume für gemeinsame Reflexion und Perspektivwechsel benötigt. Kurzum: Die Fachkräfte der Schule und der Kinder- und Jugendhilfe sowie die weiteren Akteure der Ganztagsbildung brauchen gemeinsame Zeiten und eine funktionierende operative Organisation.

Zu klären ist auch die Gesamtverantwortung für Ganztagsbildung: Gibt es eine Einzelverantwortung oder ein Co-Leitungsteam aus Schule und Kinder- und Jugendhilfe? Welche Rolle spielt der Träger? Klarheit über die Verantwortlichkeiten muss hergestellt, vereinbart und für alle Akteure transparent gemacht werden. Ein Gremium – sofern dies nicht die „Ganztagsbildungskonferenz“ selbst übernimmt –  wie ein Beirat, eine Steuergruppe oder ein Planungsausschuss sollten eingerichtet werden, um den Ganztagsprozess in all seinen Facetten zu begleiten und das Gelingen zu befördern.

Gelingensbedingung 4: Die Zusammenarbeit mit Eltern als Chance wahrnehmen!

Ganztagsbildung als Kooperation von Jugendhilfe und Schule sollte immer auch Eltern in den Blick nehmen und einbeziehen. Eltern sind wichtige Gestaltungspartner, die einen entscheidenden Beitrag zu einer gelingenden Ganztagsbildung leisten. Sie haben eigenständige Interessen, die es konstruktiv einzubeziehen gilt. Befragungsergebnisse hinsichtlich der Elternzufriedenheit und -wünsche im Rahmen von Evaluationen bieten gute Möglichkeiten für einen gemeinsamen Dialog. Eltern brauchen und wünschen sich beispielsweise Unterstützungsangebote wie Familienbildung und Erziehungsberatung am Ort der ganztägigen Bildung.[12] Die Zusammenarbeit mit Eltern bietet zudem erweiterte Möglichkeiten der Zugänge und Ansprache: ihre Rolle als Ressourcenträgerinnen und -träger, ihre Einbindung in Planungen und gegebenenfalls in Angeboten. Hierin liegt eine Chance für den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Ganztagsbildungsorten und Eltern.

Gelingensbedingung 5: Kooperationspartner gewinnen, in den Sozialraum vernetzen

Ganztägige Bildung findet an verschiedenen Orten statt und bezieht unterschiedliche Kooperationspartner im Sozialraum mit ein, hierzu zählen beispielsweise Museen, Musikschulen, (Sport-)Vereine, Kunstschulen und Vieles mehr. Dadurch können die jeweiligen und spezifischen Potenziale der Bildungsorte gewinnbringend eingebracht werden. Bedarfsgerechte, abwechslungsreiche und qualitätsvolle Ganztagsangebote müssen durch schulische und außerschulische Partner auf der Basis partnerschaftlicher Kooperation bereitgestellt werden. Kooperationsvereinbarungen mit klaren Regeln hinsichtlich der inhaltlichen und organisatorischen Ausgestaltung bis hin zur Finanzierung ermöglichen Handlungssicherheit und Verlässlichkeit. Auch das Verhältnis der Akteure zueinander – gegebenenfalls auch Kooperationspartner zu Kooperationspartner – braucht Abstimmung. Mit Augenmaß und Verantwortung muss gemeinsam an den Lösungen und Vereinbarungen gearbeitet werden.

Unterrichtsangebote und außerunterrichtliche Angebote miteinander klug zu verknüpfen kann neue Lern- und Entfaltungsmöglichkeiten eröffnen. Sie kann auch „verpflichtende Anteile“ umfassen, sofern fachübergreifende Projekte in der Kooperation von schulischem und Freizeitbereich geplant und realisiert werden.

Ganztagsbildung in der Region und im Sozialraum zu denken und zu gestalten ist auch eine Chance für die jeweilige Region. Kinder und Jugendliche sind Expertinnen und Experten ihrer Lebenswelt und des Ortes, an dem sie leben, daher sollten sie als aktive Mitgestalterinnen und Mitgestalter gewonnen werden.

Gelingensbedingung 6: Fachlichkeit gemeinsam fortentwickeln!

Die fachlichen Anforderungen an eine qualitativ gute Erziehung, Bildung und Betreuung erfordern grundsätzlich sozialpädagogische und schulpädagogische Kompetenz, die im Rahmen eines gemeinsamen Konzepts den Ganztag gestalten. Der bereits jetzt hohe Fachkräftebedarf wird sich durch die Gewährung des Rechtsanspruches für alle Kinder im Grundschulalter auf ganztägige Bildungs- und Betreuungsangebote weiter erhöhen. In Zukunft muss frühzeitig dafür Sorge getragen werden, dass ausreichend und qualitativ gut ausgebildete Fachkräfte für die Umsetzung der Ganztagsbildung vorhanden sind.

In der Gestaltung von Ganztagsbildung können auch Angebote von Fachkräften mit anderen Qualifikationen durchgeführt werden, die fachlich verantwortungsvoll und kindeswohlförderlich agieren. Ein Teil der Angebote der Kinder- und Jugendarbeit leben aber auch von einer Vielzahl ehrenamtlich Engagierter. Gleiches gilt für andere Akteure wie Sport- und Kulturvereine oder solche aus dem Bereich der politischen Bildung. Die von diesen organisierten und geleiteten Angebote müssen ebenfalls Bestandteil der Ganztagsbildung sein (können). Eine gelingende Ganztagsbildung ist auf die funktionierende Zusammenarbeit zwischen allen Personen angewiesen. Gemeinsame Fortbildungen und Arbeitsfeldqualifizierungen können die vorhandenen unterschiedlichen Systemlogiken in fachlicher, organisatorischer und berufsständischer Hinsicht auffangen, Barrieren abbauen und Unterschiede als Ressource nutzbar machen. Sinnvoll und notwendig ist es ebenso, bundesweit in den jeweiligen Ausbildungssystemen fachliche Besonderheiten des Arbeitsfeldes Ganztagsbildung in angemessener Form im Curriculum aufzunehmen und womöglich gemeinsame Ausbildungen auszugestalten. So können divergierende Bildungsver-ständnisse innerhalb der Professionen bereits frühzeitig zu einem umfassenden und ganzheitlichen Verständnis von Bildung erweitert werden.

In der Ganztagsbildung als gleichwertige Partnerinnen und Partner kooperierende Fachkräfte aus Schule, Kinder- und Jugendhilfe und gegebenenfalls der weiteren Kooperationspartner brauchen zudem eine abgestimmte Arbeitsorganisation, z.B. bezüglich der Anwesenheitszeiten, um auf der Basis so hergestellter Transparenz vertrauensvoll zusammenarbeiten zu können. Das bestehende Ungleichgewicht zwischen (zumeist) verbeamteten Lehrkräften einerseits und (befristet beschäftigten) Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe andererseits erschwert eine Kooperation auf Augenhöhe, dies sollte bei der Konzeption von Ganztagsbildung berücksichtigt werden.

Gelingensbedingung 7: Kind- und jugendorientierte Ganztagsbildung fokussieren!

Am Anfang erfolgreich gestalteter Ganztagsbildungsorte stehen engagierte Erwachsene. Vielfach sind es aktive Lehrerinnen und Lehrer, sozialpädagogische Fachkräfte, engagierte Vertreterinnen und Vertreter von Trägern und Eltern, die die Initiative ergreifen. Ihr Engagement wird zumeist getragen von der festen Überzeugung, dass Ganztagsbildung ein Weg mit vielen Chancen ist, den es unbedingt lohnt zu gehen. Folgende Prinzipien begründen die Haltung und das Handeln aller Fachkräfte:

Autonomie und Partizipation

Selbstbildung setzt Selbstbestimmung voraus. Und mit zunehmendem Alter steigt das Bedürfnis nach Autonomie, Selbstbestimmung, Partizipation, Freiräumen und der Wunsch, dass sich die eigenen Interessen in den Angeboten des Ganztags wiederfinden. Kinder und Jugendliche benötigen dementsprechend vielfältige, kontinuierliche und annehmbare Möglichkeiten, ihre Interessen einzubringen, Prozesse und Konzepte mitzugestalten und Selbstwirksamkeit zu erfahren. Ernstgemeinte Beteiligung zielt darauf, Kinder und Jugendliche altersgerecht umfassend an der Konzeption, Planung und Durchführung von Aktivitäten zu beteiligen bzw. ihnen zu ermöglichen, diese selbstbestimmt zu realisieren. Kind- und jugendgerechte ganztägige Bildung erfordert darüber hinaus, Partizipation als grundlegendes fachliches Prinzip zu begreifen und Kinder und Jugendliche an allen sie betreffenden Fragen umfassend zu beteiligen und zur Mitbestimmung zu befähigen. Die Wahrung dieser Prämissen begünstigt die freiwillige und aktive Teilnahme von Kindern und Jugendlichen an Angeboten ganztägiger Bildung. Neben den Inhalten geht es dabei auch um die strukturelle und methodische Gestaltung bzw. das Setting von pädagogischen Angeboten, Bildungs- und Begegnungsmöglichkeiten oder Erfahrungslernen. Deshalb müssen an die Seite bewährter auch neue, altersentsprechende Prozesse der Beteiligung für Kinder und Jugendliche treten, die an fachlichen Qualitätskriterien orientiert sind.[13] Die Mitwirkung der Kinder und Jugendlichen muss bei der Planung, der Realisierung bis hin zur Evaluation der Angebote gewährleistet sein.

Flexibilität, Individualität und Bedarfsorientierung

Schulische und außerschulische Orte ganztägiger Bildung müssen so gestaltet werden, dass sie anregende Lebensorte sind, an denen sich Kinder und Jugendliche gerne aufhalten. Sie müssen Orte sein, die die Rechte von Kindern und Jugendlichen respektieren und junge Menschen in ihrer Individualität ansprechen und an denen sie sich entsprechend ihrer Bedarfe und Interessen entfalten und entwickeln können. Dies bedeutet, dass Bildung nicht auf (ökonomische) Verwertbarkeit fokussiert wird. Kulturelle, künstlerische und sportliche Interessen, das Bedürfnis nach Spiel sowie freiwilliges Engagement und Ehrenamt sollten integriert werden.

Möglichkeiten für Rückzug, Entspannung und Erholung sind für junge Menschen sehr wichtig und müssen im Ganztagskonzept ihren Platz finden, ebenso erlebbare und gestaltbare Kinder- und Jugendkultur sowie Räume für Bewegung, Sport und Spiel. Ganztagsangebote sollten verlässlich, aber dennoch flexibel sein.

In Beziehung gehen

Qualitätsvolle und beteiligungsorientierte Angebote fördern die Entwicklung einer eigenständigen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Eine anerkennende Atmosphäre und wertschätzende Interaktion schafft Beziehung. Gelungene und respektierte Beziehungen sind die unabdingbare erfolgversprechende Basis für Persönlichkeitsbildung, Lernen und soziale Entwicklung. Für die pädagogische Beziehungsgestaltung spielen die ethischen Aspekte eine zentrale Rolle.[14]

Referenzrahmen „Wohlbefinden“

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass ein guter Ganztag dann möglich wird, wenn die sechs zentralen Dimensionen des Referenzrahmens „Wohlbefinden“ ausgestaltet und gelebt werden:[15]

  1. Ganztägige Angebote tragen dazu bei, dass Kinder und Jugendliche Zuversicht und sichere Zukunftsperspektiven entwickeln. Dies kann dadurch gelingen, dass die Angebote sensibel sind für die emotionalen Situationen der Kinder und Jugendlichen, diese aufgreifen und die jungen Menschen bestärken bzw. dort fördern, wo es erforderlich ist.
  2. Ganztägige Angebote bieten die Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche, eigene Erfahrungen zu machen und ihre Selbstwirksamkeit zu erleben. Dies setzt voraus, dass Inhalte und Formen von Angeboten nicht Lernzielen inhaltlicher Art zugeordnet und aus diesen heraus entwickelt werden, sondern an den Bedürfnissen junger Menschen anknüpfen. Dies umfasst auch, dass mögliches Scheitern konzeptionell vorgesehen ist und als Chance der Weiterentwicklung gewertet wird.
  3. Ganztägige Angebote bieten eine gute Qualität von Beziehung zwischen den Fachkräften und den jungen Menschen. Im Kern kann dies gelingen, wenn im ganztägigen Kontext junge Menschen mit ihren umfassenden Bedürfnissen und Interessen wahrgenommen werden, wenn die Beziehungen zu den Fachkräften stabil, dauerhaft und achtsam sind.
  4. Ganztägige Angebote schaffen freie Räume und frei verfügbare Zeit. Guter Ganztag verzweckt das Mehr an in Schule oder anderen Institutionen verbrachte Zeit nicht dadurch, dass hier umfänglich verbindliche oder gesteuerte Angebote gemacht werden. Die Struktur und die Inhalte von Angeboten berücksichtigen das Interesse junger Menschen, auswählen zu können, womit sie sich beschäftigen wollen.
  5. Ganztägige Angebote sind so angelegt, dass sie Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsfähigkeit fördern. Das kann gelingen, wenn die Angebote inhaltlich reichhaltig und vielfältig sowie flexibel sind.
  6. Ganztägige Angebote fördern faire Zugänge zu Lern- und Bildungsorten. Diese Dimension wird erfüllt, wenn die Angebote nicht im Kontext der Schule oder anderer Institutionen verharren, sondern bereits konzeptionell vorsehen, dass Orte des Ganztags vielgestaltig und räumlich unterschiedlich sein können bzw. müssen, damit Kinder und Jugendliche nicht nur monostrukturierte Anreize und einen entsprechend reduzierten Erfahrungshorizont erleben.

Forderungen

Die AGJ unterstützt – wie z. B. auch das Bundesjugendkuratorium – die Forderungen nach strukturellen Qualitätsstandards, die bei der Einführung eines Rechtsanspruches auf Ganztagsbetreuung mindestens erfüllt werden müssen:[16]

  • Die Ganztagsangebote sollen einschließlich des Schulunterrichts an fünf Tagen pro Woche für acht Stunden sichergestellt sein.
  • Bis auf jährliche Schließzeiten von vier Wochen, ist auch eine Ferienbetreuung zu gewährleisten, die alle Akteure der Ganztagsbildung zu verantworten haben.
  • Ein angemessener Personalschlüssel, der in Kinder- und Jugendhilfe und Schule üblich ist.
  • Gemäß § 72 SGB VIII gilt das Fachkräftegebot.
  • Es muss eine qualitativ gute Mittagsverpflegung für alle Kinder erfolgen.[17]

Die AGJ sieht darüber hinaus weiteren Handlungsbedarf und benennt folgende Herausforde-rungen auf dem Weg zu einer kind- und jugendgerechten Ganztagsbildung:

  • Erforderlich ist eine Konzeption, die von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Schule und Kinder- und Jugendhilfe gemeinsam erarbeitet wird. Hierzu müssen in einem ersten Schritt alle beteiligten Akteure zusammenkommen und sich über die Ziele und strukturellen Rahmenbedingungen austauschen. Die Einbeziehung der Schulbegleitung von Kindern und Jugendlichen mit Assistenzbedarf ist sicherzustellen.
  • Die Akteure der Ganztagsbildung arbeiten gemeinsam und kooperativ, statt nebeneinander her. Hierfür ist die Einrichtung eines gemeinsamen Gremiums notwendig, das den Rahmen für regelmäßigen Austausch bietet.
  • Konzeption, Rahmenbedingungen und Ressourcen müssen so gestaltet sein, dass auch Ehren- und nebenamtliche Aktive (z. B. von Trägern der Kinder- und Jugendarbeit) „auf Augenhöhe“ an der Ganztagsbildung mitwirken können.
  • Für eine gelingende Bildungs- und Erziehungspartnerschaft muss der Einbezug von Eltern in verbindlichen Strukturen konzeptionell sichergestellt werden. Konkret müssen Eltern die Möglichkeit haben, ihre Interessen und Bedenken mitzuteilen und diese ernst genommen zu wissen, z. B. durch regelmäßige Elternbefragungen.
  • Unabdinglich ist eine verlässliche, auskömmliche und gesetzlich abgesicherte Finanzierung, die gleichwertige Anstellungsverhältnisse für alle Fachkräfte vorsieht.
  • Gute Ganztagsbildung benötigt geeignete Räumlichkeiten und ein Nahverkehrssystem, welches Ganztagsbildung erreichbar macht.
  • Für ein umfassendes und ansprechendes Ganztagsangebot, das Kinder und Jugendliche gerne wahrnehmen, müssen mehr Orte in den Blick genommen werden als Schule und Kinder- und Jugendhilfe. Ein Netzwerk an regionalen Angeboten diverser Akteure muss geschaffen und in die Ganztagsbildung einbezogen werden.
  • Gemeinsame Fortbildungen sind notwendig für Fachkräfte, die bereits jetzt gemeinsam im Ganztag arbeiten. Weiterführend sind verbindlich festgeschriebene und flächendeckende professionsübergreifende Fortbildungen einzuführen, sowie abgestimmte, gemeinsame Ausbildungsinhalte zu realisieren.
  • Insgesamt ist bei der Ganztagsbildung grundlegend sicherzustellen, dass die Bedürfnisse und Bedarfe von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt und konzeptionell eingebunden werden. Altersgerechte Formen der Beteiligung sind in den bestehenden Ganztagsbildungsorten zu entwickeln und bei der Planung neuer Orte systematisch einzubeziehen.

Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
Berlin, 12./13. Dezember 2019


Fußnoten

[1] Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hg.) (2018): Bildung in Deutschland 2018. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Wirkungen und Erträgen von Bildung. Bielefeld; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2017): 15. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Paderborn, S. 342.
[2] Bundesjugendkuratorium (2019): Zwischenruf zum Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter. Online abrufbar unter: www.bundesjugendkuratorium.de
[3] Sekretariat der Kultusministerkonferenz 2016a, S. 4f.
[4] Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Kinder- und Jugendhilfestatistik 2018; Bevölkerungsstatistik 2018; Sekretariat der KMK, Allgemeinbildende Schulen in Ganztagsform in den Ländern 2018; DJI, KiBS 2018. Beispielsweise:
Nutzung Ganztagsangebot: 78 Prozent der Kinder in Ostdeutschland, 42 Prozent der Kinder in Westdeutschland;
Anteil der ganztägig betreuten Grundschulkinder: 91 Prozent in Hamburg, 21 Prozent in Baden-Württemberg
[5] Grundschulbesuch in Berlin und Brandenburg dauert 6 Jahre, in allen anderen Bundesländern 4 Jahre.
[6] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2018): Zwischen Freiräumen, Familie, Ganztagsschule und virtuellen Welten – Persönlichkeitsentwicklung und Bildungsanspruch im Jugendalter. Online abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/15--kinder--und-jugendbericht/115440
[7] HBSC-Studie (2011).
[8] Vergleiche Bollweg, P., Buchna, J., Coelen, T., Otto, H.-U. (2020 i.E.) (Hrsg.): Handbuch Ganztagsbildung. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. VS-Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden.
[9] Ebenda
[10] Außer an vollgebundenen Ganztagsschulen.
[11] Siehe hierzu auch das Positionspapier der AGJ „Bildungslandschaften im ländlichen Raum“ (12./13. Dezember 2019).
[12] Vergleiche Arnoldt, B. & Steiner, C. (2015). Perspektiven von Eltern auf die Ganztagsschule. In: Zeitschrift für Familienforschung, 2/2015, S.208-227
[13] Vergleiche Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2018): Partizipation im Kontext von Kinder- und Jugendarbeit – Voraussetzungen, Ebenen, Spannungsfelder. Positionspapier.
[14] Vergleiche Reckahner Reflexionen. Weitere Informationen unter:
https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Reckahner_Reflexionen/Broschuere_Reckahner_Reflexionen.pdf [Zugriff am 12.11.2019].
[15] Zentrum für Eigenständige Jugendpolitik: Das Wohlbefinden Jugendlicher in Schule und außerschulischen Lern- und Bildungsorten. Empfehlungen der Expertinnen- und Expertengruppe des Zentrums für Eigenständige Jugendpolitik. Berlin 2013 sowie Länderoffene Arbeitsgruppe „Ganztagsbildung in der Sekundarstufe 1 unter dem Blickwinkel der Kinder- und Jugendpolitik“ der AGJF 2019.
[16] Vergleiche Bundesjugendkuratorium (2019): Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter. Zwischenruf des Bundesjugendkuratoriums.
[17] Ebenda